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Paradoxa der modernen Naturwissenschaft und das Problem der Interpretationund das Problem der Interpretation

Im Dokument Herausgegeben von Wolf Schmid (Seite 112-116)

Wahrnehmung im Weltbild literarischer Texte

II. Ontologische Ausgangspunkte: Sinne und Emotionen als Kategorie des Selbst- und Emotionen als Kategorie des Selbst- und

1.  Wahrnehmung als Schnittstelle zur Außenwelt

1.4  Paradoxa der modernen Naturwissenschaft und das Problem der Interpretationund das Problem der Interpretation

Neben dem paradoxen Umstand unterschiedlicher Messergebnisse zur räumlichen und zeitlichen Distanz zweier sich relativ zueinander unterschiedlich bewegender Beobachter in der Relativitätstheorie hält besonders die Quantenphysik Paradebei-spiele für Paradoxa bereit. Auch diese beruhen auf Brüchen der alltagsverständlich angenommenen Einheit zwischen Objekt (da sich das beobachtende Subjekt hier außerhalb der Konstellation befindet, anstatt Teil von ihr zu sein), Raum und Zeit.

Ein zentrales Stichwort ist dabei die ‚Superposition‘, womit eine Überlagerung von Zuständen bezeichnet wird, welche die klassische Physik logisch ausschließt.

Während das Paradoxon im Makrokontext der Relativitätstheorie zwei jeweils unterschiedliche gegenseitige raumzeitliche Situierungen zweier Beobachter zeigt, liegen im Quantenkontext mehrfache Lokalisierungen eines von außen betrachteten Teilchens vor.

69 Heisenberg beruft sich auf Johannes Kepler, Wolfgang Pauli und Carl Gustav Jung.

(vgl. Heisenberg 2014: 107–111)

Letzteres ist mit dem Wellen- und Teilchencharakter von Elektronen zu erklären.

Im Doppelspaltexperiment werden beide Eigenschaften getrennt gemessen. Die Lokalisierung eines einzelnen Elektrons führt dabei zu dem Ergebnis, dieses un-teilbare Teilchen habe zugleich sowohl den einen als auch den anderen Spalt in der Versuchsanordnung passiert, was dessen mehrfache räumliche Zuordnung zu einem Zeitpunkt bedeutet. Orientiert sich die Messung am Wellencharakter der Elektro-nen, so können die einzelnen Teilchen nicht lokalisiert werden und die Messung führt zu dem Ergebnis, dass jeder der beiden Spalte von je der Hälfte der Elektronen passiert worden sei. Da eine gleichzeitige Messung von Teilchen- und Wellencharak-ter nicht möglich ist, stehen sich damit zwei unvereinbare InWellencharak-terpretationen darüber, was ‚wirklich‘ passiert ist, gegenüber. Dies wird als ‚Komplementarität‘ bezeichnet.

(vgl. Polkinghorne 2011: 44–49)

Die beiden Bilder schließen sich natürlich gegenseitig aus, weil eine bestimmte Sache nicht gleichzeitig ein Teilchen (d. h. Substanz, beschränkt auf ein sehr kleines Volumen) und eine Welle (d. h. ein Feld, ausgebreitet über einen großen Raum) sein kann. Aber die beiden Bilder ergänzen sich; wenn man mit beiden Bildern spielt, indem man von einem Bild zum anderen übergeht und wieder zurück, so erhält man schließlich den richtigen Eindruck von der merkwürdigen Art von Realität, die hinter unseren Atom-experimenten steckt. Bohr gebraucht den Begriff ‚Komplementarität‘ in der Deutung der Quantentheorie an verschiedenen Stellen. Die Kenntnis des ‚Ortes‘ eines Teilchens ist komplementär zu der Kenntnis seiner Geschwindigkeit oder seiner Bewegungs-größe. Wenn wir die eine Größe mit großer Genauigkeit kennen, können wir die andere nicht mit hoher Genauigkeit bestimmen, ohne die erste wieder zu verlieren. Aber wir müßten doch beide kennen, um das Verhalten des Systems zu beschreiben. Die raum-zeitliche Beschreibung von Atomvorgängen ist komplementär zu ihrer kausalen oder deterministischen Beschreibung. (Heisenberg 2014: 48–50)

Die mehrfache Lokalisierbarkeit eines Elektrons zu einem Zeitpunkt erfordert eine Logik, die im Gegensatz zur klassischen Physik auch Operatoren wie das ‚So-wohl-als-auch‘ berücksichtigt.70 Darüber hinaus entzieht sich auch der Analyse-gegenstand selbst seiner Analyse, da die Messung zwar zu einem der möglichen Ergebnisse führt, die Anordnung sich jedoch erst durch den Messvorgang so ver-ändert, dass dieses Ergebnis zustande kommt.

Wir können nicht beschreiben, was zwischen dieser Beobachtung und der nächsten

‚passiert‘. […] Der Übergang vom Möglichen zum Faktischen findet also während des Beobachtungsaktes statt. Wenn wir beschreiben wollen, was in einem Atomvorgang geschieht, so müssen wir davon ausgehen, daß das Wort ‚geschieht‘ sich nur auf die

70 Carl Wilhelm von Weizsäcker beschäftigt sich in Zum Weltbild der Physik (1943) mit dem Verhältnis von Logik und Komplementarität (vgl. Weizsäcker 2002: 349–413) und schlägt in Aufbau der Physik zur Lösung solcher neuen Anforderungen an die Logik eine ‚Logik der Zeit‘ vor (vgl. Weizsäcker 1985: 74–99).

Beobachtung beziehen kann, nicht auf die Situation zwischen zwei Beobachtungen.

(ebd. 50–56)

Die von der Messung unabhängige Anordnung bleibt daher unzugänglich und liegt nur als Superposition möglicher Zustände vor. Für Systeme mehrerer Beobachter auf unterschiedlichen Ebenen gilt dabei, dass die Anordnung für jeden ontologisch übergeordneten Beobachter in Superposition vorliegt, solange keine Messung statt-findet.

Der Superpositionszustand des mikroskopischen Teilchens ist […] an etwas sukzessive größer Werdendes, Makroskopischeres, gekoppelt […]. Beide Ketten von mehr und mehr makroskopisch unterscheidbaren Zuständen sind nach wie vor in einer Super-position – jeder Beobachter, den wir einführen, ist aus Sicht eines ‚Super-Beobachters‘

nach wie vor in einer Überlagerung. Wie kann also überhaupt ein Zustand in einem physikalischen System ‚realisiert‘ sein? Das ist das so genannte Messproblem. […]

Durch die neue Beobachtungssituation wird die ursprüngliche Information in der Um-gebung ‚gelöscht‘ und wir stehen wieder am Anfang unseres Problems: Wir können unabhängig von der Messung nichts über den ontologischen Status der möglichen Zustände sagen. (Aspelmeyer 2014: 136–138)

‚Nicht-Lokalität‘ ist eine der wesentlichsten Eigenschaften, durch die sich die Quan-tenwelt von der Makrowelt unterscheidet. Ebenfalls im Gegensatz zur Makrowelt liegen zugleich Verbindungen über weite räumliche Distanzen hinweg vor, man spricht dabei von Verschränkung.

Es hatte sich gezeigt, dass es in der physikalischen Wirklichkeit ein irreduzibles Maß von Nichtlokalität gibt. Quantenentitäten, die miteinander interagiert haben, bleiben miteinander verbunden und zwar unabhängig davon, wie weit sie sich schließlich räumlich voneinander entfernen. (Polkinghorne 2011: 131)

Der experimentell begründeten Science-Studie An experimental test on non-local realism (2007) zufolge reicht es für eine adäquate Beschreibung der physikalischen Wirklichkeit jedoch nicht aus, die Vorstellung einer lokalen Festlegung aufzuge-ben, vielmehr müssen auch andere alltagsverständliche Annahmen über die Welt revidiert werden.

According to Bell’s theorem, any theory that is based on the joint assumption of realism and locality […] is at variance with certain quantum predictions. Experiments with entangled pairs of paricles have amply confirmed these quantum predictions, thus rendering local realistic theories untenable. […] Here we show by both theory and experiment that a broad and rather reasonable class of such non-local realistic theo-ries is incompatible with experimentally observable quantum correlations. […] Our result suggests that giving up the concept of locality is not sufficient to be consistent with quantum experiments, unless certain intuitive features of realism are abandoned.

(Gröblacher 2007: 871)

Da die klassischen Prinzipien der Mechanik im makroskopischen Kontext weiter-hin funktionieren, wird der Nicht-Anwendbarkeit zahlreicher ihrer Begrifflichkeiten auf die Quantenphysik nicht durch deren Ersetzung durch neue Begriffe begegnet.

Die ‚neuen‘ Phänomene müssen vielmehr so beschrieben werden, dass sie sich in das klassische System fügen.71

Wie die physikalische Realität ontologisch konstruiert ist, steht jedoch bis heute auch unter Quantenphysikern nicht fest. Wie Markus Aspelmeyer72 erklärt, sei die ontologische Frage ‚zwischen Kant und Hegel‘ bis heute nicht entschieden, was ein sehr weites Spektrum an Möglichkeiten eröffnet, das Verhältnis zwischen dem Sub-jekt und einer für dieses wahrnehmbaren Außenwelt auszuloten. Immanuel Kants Position in der Kritik der reinen Vernunft (1781) würde bedeuten, eine objektive Außenwelt als apriorischen Raum anzunehmen, zu dem die Wahrnehmungen eines Subjekts einen durch dieses zeitgebundenen Bezug herstellen. (vgl. Kant 2014: 69–

96) Georg Wilhelm Friedrich Hegels Darstellung in der Phänomenologie des Geistes (1807) betrachtet demgegenüber Wahrnehmung als selbstreflexive Tätigkeit eines Subjekts, das Teil eines im Werden begriffenen Ganzen und mit diesem ident ist. (vgl.

Hegel 2014: 575–591) Damit werden auch die möglichen Extreme in der Annahme über das Subjekt deutlich, das entweder auf eine von ihm unabhängige Außenwelt blickt oder dem Solipsismus verhaftet bleibt.

Da die äußere Wirklichkeit auch aus physikalischer Perspektive ontologisch nicht direkt zugänglich ist, werden von Physikern höchst unterschiedliche Welt-bilder vertreten. Die Kopenhagener Deutung mit Niels Bohr und Werner Heisen-berg als klassischen Vertretern akzeptiert die geringe Einsicht in die ‚tatsächliche‘

Welt und konzentriert sich auf Messergebnisse als indirekte Repräsentation dessen, was von ihr zugänglich ist. Daneben nimmt die Bohm’sche Theorie ein System an, das analog zur Mechanik argumentiert, wo auch im Quantenbereich nur Teilchen-eigenschaften berücksichtigt werden. Das andere Extrem bildet die Viele-Welten-Theorie, die alle Zustände der Superposition als realisiert annimmt und vorschlägt, das Universum teile sich bei jedem Messvorgang in eine Vielzahl getrennter Uni-versen. Eine ökonomischere Variante derselben Theorie verlegt diese Teilung auf den Bereich der Bewusstseinszustände als Schnittstelle zwischen Geist und Materie73 und ist damit der Leibniz’schen Philosophie möglicher Welten nicht unähnlich.

Relevant für die literaturwissenschaftliche Analyse sind zum einen die anhand dieser philosophischen Weltbilder skizzierten Verhältnisse zwischen Subjekt, Welt und Wahrnehmung, die auch aus textimmanenter Perspektive untersucht werden können. Dass der durch die Quantentheorie verursachte Umbruch im Weltbild auch

71 Carl Friedrich von Weizsäcker widmet sich solchen Fragen unter Bezugnahme auf ontologische Systeme der Philosophie ausführlich in Die Einheit der Natur (1971).

72 An dieser Stelle danke ich Markus Aspelmeyer für diese Hinweise aus quanten-physikalischer Perspektive.

73 Dazu ausführlich siehe Polkinghorne 2011: 89f., 146–159 und Zeilinger 2005:

150–170.

kulturell rezipiert wurde, bezeugen nicht zuletzt die für die Literatur der Moderne charakteristischen logischen Brüche. Begriffe wie ‚Superposition‘, ‚Verschränkung‘

und ‚Komplementarität‘ eignen sich außerdem für die strukturalistische Beschrei-bung konkreter textueller Phänomene, insbesondere im Bereich der Paradoxa.

Im Dokument Herausgegeben von Wolf Schmid (Seite 112-116)