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Synästhesie

Im Dokument Herausgegeben von Wolf Schmid (Seite 155-159)

Sinneswahrnehmung und Emotion zwischen Subjekt und Weltbild

1.  Sinneseindrücke und Halluzinationen

1.2  Synästhesie

Die assoziative Verbindung zwischen arbiträren Sinneserfahrungen fördert die Bil-dung komplexer Metaphern, weshalb es kein Zufall ist, dass sie besonders seit dem Symbolismus, etwa bei Charles Baudelaire und Arthur Rimbaud, literarisch frucht-bar gemacht wurde. Überdies wird das tatsächliche Vorliegen von synästhetischer Wahrnehmung bei Künstlern überdurchschnittlich häufig festgestellt. Bekannte

107 Ausführlich zur Attributionstheorie siehe: Parkinson 2014: 85–88; Schachter 1964;

Schachter 1962.

Beispiele sind etwa Aleksandr Skrjabin und Vasilij Kandinskij, deren Farbhören108 in der Kombination von Musik und Licht künstlerische Umsetzung erfuhr, und Vla-dimir Nabokov, dessen synästhetische Wahrnehmung von Buchstabenformen auch in seinen Texten109 ihre assoziativen Spuren hinterließ. Obwohl Synästhesie in der Kunst nicht unbedingt einer realen Grundlage in der Wahrnehmung des Urhebers bedarf, bestätigen mehrere für entsprechende Verfahren bekannte Künstler eine solche. (Emrich 2004: 15f.)

Synästhetische Wahrnehmung beruht auf konkreten biologischen Vorgängen.

Wenn eine vorhandene Reizeigenschaft (Farbe) immer mit einer nicht-vorhandenen Reizeigenschaft (Form) wahrgenommen oder assoziiert wird, so spricht man von Syn-ästhesie. Es existieren viele Formen von Synästhesien, intramodal und krossmodal:

Zum Beispiel löst eine bestimmte Form (ein Buchstabe) immer auch den Eindruck einer Farbe oder Töne lösen die Wahrnehmung einer Farbe aus. Dabei handelt es sich um angeborene oder früh erworbene Formen von einheitlichen Zellensembles, in denen 2 normalerweise getrennt repräsentierte Ensembles zu einem einzigen verschmelzen, sodass das eine kohärente Ensemble nicht mehr ohne das andere aktiviert werden kann. Sehr häufig sind Farb-Ton-Synästhesien: Im EEG oder fMRT sieht man, dass z.B. die Hirnareale, die Farbe repräsentieren, beim Synästhetiker immer gleichzeitig mit dem Tonareal aktiviert werden und zusätzlich noch die Parietalregion, die die Aufmerksamkeit auf den Reiz steuert: Aufmerksamkeit verbessert Binding und macht es bewusst. (Birbaumer 2010: 634)

Neben Verbindungen zwischen Farbe und Ton stellen Farbassoziationen zu Schriftbild oder Klangfarbe von Buchstaben, Zahlen, Wochentagen oder Begriffen prototypische Formen von Synästhesie dar. Seltener treten Geruchs- oder Ge-schmacksassoziationen auf. Schwieriger zu definierende Randbereiche betreffen auch andere Verbindungen zwischen physischen und/oder emotionalen Erfahrun-gen bei Bewegung, Tanz, Jahreszeiten, Kunstrezeption, Schmerz, Lust oder inten-siven Gefühlen.110

Angeborene Synästhesie verstärkt sich in der Pubertät, einhergehend mit einer zu dieser Zeit erhöhten Emotionalität. Später kann sie durch Drogenkonsum und gewisse Krankheiten ausgelöst werden. (vgl. Emrich 2004: 13, 43) Die Entstehung von Synästhesie wird entwicklungspsychologisch mit einer nicht abgeschlossenen Modulation der Wahrnehmung erklärt.111 Bei Neugeborenen gehen unterschiedliche Eindrücke undifferenziert ineinander über und werden erst in einer späteren Ent-wicklungsstufe ihren Ursprüngen in den Sinnesorganen zugeordnet und dadurch differenziert.

108 Ausführlich zum Sehen von Lichtern als Antwort auf Schallereignisse siehe: Beeli 2005; Paulesu 1995.

109 Dazu ausführlich siehe Hetényi 2015.

110 Vgl. die Fallbeispiele in Emrich 2004: 89–152.

111 Dazu ausführlich siehe: Segal 1997; Stern 1992.

Bei Neugeborenen können demnach Töne nicht nur einen Höreindruck hervorrufen, sondern auch visuelle oder andere Wahrnehmungen. Säuglinge – so scheint es – for-men Muster unabhängig von der Sinnesqualität, sondern reagieren auf Veränderungen der Energie (Intensitätsgrade) über Zeit oder Raum. (Emrich 2004: 50)

Da bei synästhetischer Wahrnehmung das für die emotionale Wahrnehmung wichtige limbische System aktiviert ist, werden emotionale Verknüpfungen als Begründung für das Weiterbestehen ausgewählter ‚unpassender‘ Verknüpfungen angenommen.

[Emrich nimmt an], dass eine Gefühls-Brücke im limbischen System beteiligt ist; sie verbindet nicht nur verschiedene Eigenschaften von Gegenständen unseres Alltags (z.B.: rot + rund = Apfel oder: gelb + süß = Honig), sondern auch ‚unpassende‘ syn-ästhetische Verknüpfungen wie salzige Musik, blauen Wein und eine gezackte, stache-lige Stimme. Wenn das limbische System an der Beurteilung von Wahrnehmungen und der Herstellung von Zusammenhängen beteiligt ist, bedeutet das auch, dass die neu-ronalen und seelischen Prozesse, die der subjektiven Erfahrung und dem Bewusstsein im Allgemeinen zugrunde liegen, stärker berücksichtigt werden müssen. Synästhesie ist nämlich an grundlegenden Abläufen bei gnostischen und noetischen Erfahrungen beteiligt. (Cytowic 2004: 6f.)

Die Einsicht, dass Synästhesie auf ähnlichen Grundlagen basiert wie andere assozia-tive Prozesse, lässt eine allgemeinere Relevanz dieses Forschungsfeldes erkennen.

Richard Cytowic und Hinderk Emrich denken ihre Ergebnisse daher dahingehend weiter, um Erkenntnisse über die Systematik individuell-subjektiven Denkens zu gewinnen. Interdisziplinäre Vergleiche mit Erkenntnissen der Quantenphysik über akausale Zusammenhänge, nicht-lineare Prozesse und Singularitäten, wie sie be-reits Wolfgang Pauli und Carl Gustav Jung in ihrem Briefwechsel112 interdisziplinär diskutierten, werden dabei als gewinnbringend betrachtet. (vgl. Emrich 2004: 41)

Obwohl viele Menschen meinen, dass ihre Gedanken und Wahrnehmungen in einem ganz abstrakten Sinn entstehen, ist das niemals wirklich der Fall: Sie enthalten immer auch mitlaufende Beurteilungen und Gefühle. Wenn wir das begriffen haben, erkennen wir, dass wir alle durch die Erforschung der Synästhesie etwas sehr Grundlegendes über uns selbst erfahren. (Cytowic 2004: 7)

Dank der Erkenntnis, dass auch genuine Synästhesien zwischen Sinneseindrücken wie Klängen und Farben etc. auf emotionalen Verbindungen beruhen, findet in dieser neueren Forschung Gefühls-Synästhesie (teilweise unter dem Begriff Meta-mood113) verstärkt Berücksichtigung.

Darunter versteht man die Fähigkeit bestimmter Menschen, über ihre Gefühle zu be-stimmen. Sie empfinden Gefühle nicht einfach nur, sondern sehen sie in einem inneren 112 Dazu ausführlich siehe: Pauli 1992.

113 Vgl. Goleman 1995.

Schema noch einmal vor sich, sie können sich ihre Emotionen bewusst machen und haben dadurch die Möglichkeit, sich noch einmal in einer bestimmten Weise zu verhal-ten – sie zu verändern, abzulehnen, abzuwandeln, zu verstärken oder sich stärker auf sie einzulassen. Auffallend häufig findet man bei Gefühls-Synästhetikerinnen mediale Eigenschaften, Déjà-vu-Erlebnisse, präkognitive Träume (Voraussehen zukünftiger Ereignisse), Fähigkeit zum Wachtraum […]. (Emrich 2004: 40)

Ein solcherart strukturierter Umgang mit Gefühlen geht oft mit einer besonders starken inneren Verankerung der Persönlichkeit und mit Angstfreiheit einher.

Bereits in früheren Untersuchungen zur Synästhesie wurden Korrelationen mit überdurchschnittlicher Kreativität und Intelligenz, Autismus, Dyslexie, Aufmerk-samkeitsschwäche, einem ausgeprägten Sprachgedächtnis besonders für gespro-chene Sprache und Literatur, einem guten räumlichen Vorstellungsvermögen und einer besonderen Vorliebe für Ordnung und Symmetrien festgestellt.114 (vgl. ebd. 42)

Für die in der Wahrnehmung verankerten gemeinsamen Grundlagen von Syn-ästhesie und Autismus ist die als Randbereich geführte GefühlssynSyn-ästhesie (Meta-mood) aufschlussreich. In der Erfahrungsskizze der Synästhetikerin Elfrun Holtman wird der Zusammenhang von Angstfreiheit und Ab-straktion in Form eines dis-tanzierten Blickwinkels auf die direkte Erfahrungswelt deutlich.

Die Haupteigenschaften […] sind innere Sicherheit, Gelassenheit. Abstand, besser gesagt, ein eigenartiges Gefühl der Distanz, des ‚Aus-einiger-Entfernung-zum-Ob-jekt-Betrachtens‘. Enorme Ruhe. Friedlichkeit. Friedfertigkeit. Aber auch große Selbst-sicherheit. Und – inneres ‚Wissen‘. Alles, was man betrachtet, scheint völlig klar und deutlich, unmissverständlich zu sein. Es gibt kaum Zweifel. Alles ist licht, hell und völlig zufrieden – ruhig, klar. ‚Durchsichtig‘. Das ‚Sich-ständig-immer-um-irgend-etwas-oder-irgendjemand-Sorgen-Machen‘ vieler Menschen ist mir sehr fremd. […]

Vermutlich aus Mangel an Nachvollziehbarkeit wirkt dies auf viele eher negativ. Zu-mindest wird es immer wieder, relativ häufig, als ‚Oberflächlichkeit‘, Lethargie, Sorg-/

Gedankenlosigkeit… gesehen. Schwer zu erklären, dass das alles etwas mit Angst-freiheit zu tun hat, dass man einfach alles nur etwas klarer sieht und dass vieles dabei wegfällt, unbedeutend, überflüssig wird. Man sieht es aber eben nur, […] wenn man das Ganze sieht: Zusammenhänge. (Holtmann 2004: 112f.)

Die Darstellung enthält von sozial-emotionalen Kontexten losgelöste Gefühlsein-drücke (‚zufrieden‘). Zugleich wird insgesamt von Gefühlen abstrahiert, sodass die Sinne direkten und klaren Zugang zur Erfahrungswelt geben (was synästhetisch als ‚durchsichtig‘ erlebt wird). Die Freiheit von Bindungen an Menschen und die Verlagerung von Gefühlen auf Sinneseindrücke sind zwei der typischen Merkmale, die auch autistischer Wahrnehmung zugeschrieben werden. (vgl. Kap. III.2.4)

Der distanzierte, vom Selbst losgelöste und daher nicht durch die eigene Per-spektive oder Gefühle verzerrte Blick entspricht jener kontemplativen Haltung, die Michail Bachtin unter dem Konzept der ‚Außerhalbbefindlichkeit‘ (vnenachodimost‘) 114 Vgl. Cytowic 1995.

untersucht. Er beschreibt dieses, insbesondere in Avtor i geroj v ėstetičeskoj deja-tel’nosti (1922–1924), als jene Haltung, die sowohl der literarische Autor gegenüber seinen Figuren als auch der Kunstrezipient vor dem Kunstwerk einnehmen sollte:

im ersten Fall als Grundlage der Gestaltung dialogischer Interaktion, im zweiten als Grundlage objektiver Erkenntnis. Eng damit verflochten ist Bachtins Metapher des Spiegelmotivs, mit der er eine ähnliche Dissoziation vom Selbst als Methode der Selbsterkenntnis zu fassen versucht. (vgl. Kap. II.2.2) Bis zu seinen späten Notizen der 60er und 70er Jahre bleibt das Konzept der ‚Außerhalbbefindlichkeit‘ – als von Distanz und Respekt geprägte Haltung – die von ihm weiterhin reflektierte notwen-dige Grundlage dafür, um in der Kunstbetrachtung die höchste Stufe zu erlangen.

Степени совершенства этой данности (подлинного переживания искусства). […]

Чужое слово должно превратиться в свое-чужое (или в чужое-свое). Дистанция (вненаходимость) и уважение. Объект в процессе диалогического общения с ним превращается в субъекта (другое я). (Bachtin 2002: 408)

Gerade die Beschäftigung mit Synästhesie illustriert den von Bachtin erkannten Wert von dissoziativer Außerhalbbefindlichkeit für Wissenschaft, Philosophie und Kunst. Dass sich synästhetische Verbindungen individuell deutlich unterscheiden, belegt nach Emrich nämlich auch die Subjektivität von Wahrnehmung im Allgemei-nen sowie die in Bachtins Auseinandersetzung mit dem Spiegelmotiv reflektierte Unzugänglichkeit des Wissens über Sinneseindrücke und Gefühle anderer.

Jeder von uns lebt in seiner eigenen Wahrnehmungswelt; in gewissem Sinne hat die subjektive Wahrnehmung sogar einen hermetischen, verschlossenen Charakter. (Em-rich 2004: 11)

Im Dokument Herausgegeben von Wolf Schmid (Seite 155-159)