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Erinnerung und Gedächtnis

Im Dokument Herausgegeben von Wolf Schmid (Seite 159-163)

Sinneswahrnehmung und Emotion zwischen Subjekt und Weltbild

1.  Sinneseindrücke und Halluzinationen

1.3  Erinnerung und Gedächtnis

For why should this absolute god-given Faculty retain so much better the events of yesterday than those of last year, and, best of all, those of an hour ago? Why, again, in old age should its grasp of childhood’s events seem firmest? Why should illness and ex-haustion enfeeble it? Why should repeating an experience strengthen our recollection of it? Why should drugs, fevers, asphyxia, and excitement resuscitate things long since forgotten? If we content ourselves with merely affirming that the faculty of memory is so peculiarly constituted by nature as to exhibit just these oddities, we seem little the better for having invoked it, for our explanation we started. Moreover there is something grotesque and irrational in the supposition that the soul is equipped with elementary powers of such an ingeniously intricate sort. Why should our memory cling more easily to the near than the remote? Why should it lose its grasp of proper sooner than of abstract names? Such peculiarities seem quite fantastic; and might, for aught we can see a priori, be the precise opposites of what they are. Evidently, then, the faculty does not exist absolutely, but works under conditions, and the quest of the conditions becomes the psychologist’s most interesting task. (James 1890: 2f.)

Die Bedeutung von Erinnerung zeigt sich insbesondere bei Gedächtnisverlust, da mit diesem auch die Grundlagen für das Empfinden der eigenen Identität verloren gehen. Neben den von William James angeführten Besonderheiten des Erinnerns be-stimmen zwei wesentliche Grundlagen darüber, was im Gedächtnis verankert wird und was nicht. Am wichtigsten ist die persönliche Relevanz des Inhalts. Daneben kann das Memorieren auch durch regelmäßige Darbietung gefördert werden, die in gewisser Weise ebenfalls Relevanz suggeriert. (vgl. Foster 2014: 12)

Dass Informationsspeicherung eng mit emotionaler Bedeutsamkeit zusammen-hängt, wurde bereits am autobiografischen Gedächtnis deutlich. Dieses entsteht nämlich, indem ein Kind gemeinsam mit einer Bezugsperson zur Konstruktion einer persönlichen Lebensgeschichte bedeutsame Ereignisse auswählt und reflektiert.

(vgl. Kap. II.2.1) Das für emotionale Wahrnehmung zentrale limbische System bildet außerdem eine wichtige Grundlage für das räumliche Gedächtnis. Auf dieser Ver-bindung im Gehirn beruht der enge Zusammenhang zwischen Erinnertem und einer räumlichen Umgebung, auf den einige seit der Antike angewendete Erinnerungs-techniken zurückgreifen. Aus einem archaischen Trauerkult entstanden, diente die Mnemonik in dieser ursprünglichen Form dem Bewahren des Andenkens an die eigenen Vorfahren. Sie steht daher ebenfalls an der Schnittstelle zwischen Identität, Emotion und autobiografischem Gedächtnis.115

[A]us dem Ahnen- und Trauerkult [sind auch] fundamentale Konzepte [der niskunst], Ort (locus) und Bild (imago), herzuleiten […]. Die ‚Ur-Szene‘ des Gedächt-nisses umschließt sowohl den indexikalischen Akt des Zeigens auf die Toten (Ahnen) wie den ikonischen, auf Ähnlichkeit beruhenden Akt, der die Toten in eine Vorstellung von ihnen zu transformieren vermag. Aus der Rekonstruktion der zerstörten Ordnung, so könnte man schließen, ist die Gedächtniskunst mit ihren beiden Funktionen entstan-den: Gedenken als Vergegenwärtigung des Vergangenen und Merken von Wissen. […]

Die fundamentale Operation des Findens von Orten, an denen Bilder für zu Erinnerndes niedergelegt werden, die Verfahren der Transposition des Erinnerungsgegenstandes in seinen Bildvertreter, der die Sequenzbildung im Raum, dessen erneutes imaginiertes Abschreiten das zu Erinnernde abrufbar macht, sind durch Regeln präzisiert. (Lach-mann 2010a: 136)

Die Raumstruktur dient hier als Rahmen, dem die zu erinnernden Objekte ein-geschrieben werden, damit sie abrufbar bleiben. Am (imaginierten) Abschreiten der Sequenz im Zuge des Rekonstruktionsprozesses wird zugleich die starke Invol-viertheit des eigenen Körpers in diesen Erinnerungsraum deutlich.

Die hier bewusst aktivierte Verbindung zwischen Körper, Raum und Erinnerung kann im Kontext von Traumata auch unbeabsichtigt wirksam werden, wenn ver-drängte Inhalte durch eine zufällige Körper-Raum-Analogie zur traumatischen Situation plötzlich ins Bewusstsein dringen. (vgl. Kap. III.2.3) Der „Proust-Effekt“

115 Dazu ausführlich siehe: Lachmann 2010b; Erll 2005; Lachmann 1991; Goldmann 1989; Assmann 1988; Lotman 1985; Blum 1969; Lurija 1968.

wiederum beschreibt ein nicht-pathologisches Phänomen unwillkürlicher Erinne-rung. Zum Auslöser wird in diesem Fall meist eine Geschmacks- oder Geruchs-wahrnehmung, die ebenfalls eine situative Analogie zum Erinnerten herstellt. (vgl.

Kap. II.2.4) Dieser von Prousts Recherche (1913–1927) inspirierte und in die Neuro-psychologie eingegangene Begriff hat auch für die Literaturwissenschaft neue Per-spektiven eröffnet. Seit Genettes in Discours du récit (1972) dargelegter analytischer Sicht auf die damit in Verbindung stehenden zeitlichen Verschachtelungen in der Recherche entstanden zahlreiche weiterführende Untersuchungen zu ontologisch und zeitlich definierten Strukturebenen in der Literatur, die u.a. auf Mimesis von Er-innerung beruhen.116 Für die Recherche stellt Genette in diesem Zusammenhang ein durch Zustände von Traum, Schlaflosigkeit und den Prozess literarischen Schreibens verschleiertes System von Erinnerungen fest, in dem an unterschiedlichen his-torischen Zeitpunkten verortete Erinnerungen einander mehrfach brechen. (vgl.

Genette 2007: 32–35)

On sait avec quelle ambiguïté, apparemment insoutenable, le héros proustien se voue à la recherche et à l’‚adoration’, à la fois de l’‚extra-temporel’ et du ‚temps à l’état pur‘; comment il se veut tout ensemble, et avec lui son œuvre à venir, ‚hors du temps‘

et ‚dans le Temps‘. Quelle que soit la clef de ce mystère ontologique, nous voyons peut-être mieux maintenant comment cette visée contradictoire fonctionne et s’in-vestit dans l’œuvre de Proust: interpolations, distorsions, condensations, le roman proustien est sans doute, comme il l’affiche, un roman du Temps perdu et roman du Temps dominé, captivé, ensorcelé, secrètement subverti, ou mieux: perverti. Comment ne pas parler à son propos, comme son auteur à propos du rêve – et non peut-être sans quelque arrière-pensée de rapprochement, – du ‚jeu formidable qu’il fait avec le Temps’? (Genette 2007: 161)

Auf den Wert der Erinnerung nicht nur als Wissensspeicher und Grundlage des Denkens, sondern auch als Medium der Verankerung von Identität weist besonders Aleida Assmann hin.117

An die Unterscheidung von ‚Speichern‘ und ‚Erinnern‘ schließt sich die vom Gedächt-nis als Kunst und Kraft an, womit, wie sich zeigt, auch zwei weitgehend unabhängige Diskurstraditionen benannt sind, einerseits die wohlbekannte Tradition der rhetori-schen Mnemotechnik und andererseits die psychologische Tradition, die das Gedächt-nis als eine von drei Seelenfakultäten, auch innere Sinne genannt, ausweist. Während die eine Tradition auf die Organisation und gestalthafte Ordnung von Wissen abzielt, geht es in der anderen Tradition um die Interaktion des Gedächtnisses mit Imagination und Vernunft. Die Gegenüberstellung vom Gedächtnis als ‚ars‘ und ‚vis‘ wird […]

jedoch noch allgemeiner gefaßt, da ein leitendes Interesse dieser Arbeit darin besteht, 116 Ausführlich zu literarischer Mimesis von Erinnerung siehe: Erll 2011: 83–87;

Neumann 2010; Rigney 2010; Saunders 2010; Basseler 2005; Holl 2005; Neumann 2005; Wodianka 2005.

117 Siehe dazu auch Birk 2003; Gymnich 2003; Neumann 2003.

neben der mnemotechnischen Ordnungsfunktion von Wissen etwas von der Vielfalt anderer Gedächtnisfunktionen freizulegen. Alle diese kreisen grundsätzlich um den Zusammenhang von Erinnerung und Identität. (Assmann 2010: 18)

Der Hinweis auf Imagination im Kontext der Erinnerung rückt wiederum die Di-mension der Zukunft ins Blickfeld. Dies schafft Anknüpfungspunkte an bereits thematisierte Konzepte, die Gedächtnis als Kontinuum zwischen Vergangenheit und Zukunft annehmen, wie das prospektive Gedächtnis bei Husserl. Eine beson-dere Affinität lässt sich zu Carl Gustav Jung erkennen, der seine Archetypen nicht statisch denkt, sondern betont, dass sie in ihrem spezifischen Auftreten anhand typischer Situationen und Orte eine Wandlung symbolisieren. (vgl. Jung 1934: 49) Nicht nur in ihrem personenspezifisch individuellen Erscheinungsbild, sondern auch als kulturell-archaisches Konzept betrachtet Jung die Archetypen als poten-zielle Möglichkeit einer Vorstellung und folglich als kollektive Erinnerung, die in die Zukunft weist.

Es handelt sich nicht um vererbte Vorstellungen, sondern um vererbte Möglichkeiten von Vorstellungen. (Jung 1936b: 86)

Dieselbe Kontinuität besteht zwischen Vergangenheitskonservierung im autobio-grafischen Erinnern und einem mündlichen oder schriftlichen Fortspinnen von Erin-nerungsinhalten als Entwurf einer potenziellen Zukunft. Direkt daran anknüpfend, beruht eine effiziente traumatherapeutische Methode darauf, eine die Lebensqualität einschränkende Erinnerung durch eine bewusst induzierte alternative Erinnerung zu ersetzen. (vgl. Kap. III.2.3) Aufgrund der Schwierigkeit, zwischen tatsächlichen und fehlerhaften Erinnerungen zu unterscheiden, wird bei der Analyse selbst häufig auf diese Differenzierung überhaupt verzichtet. Wie diese Ungewissheiten nahe-legen, beruht Identität auf erinnerten Konzepten118, die als mehr oder weniger von ihrem Ursprung losgelöst zu betrachten sind.

Falsche Erinnerungen treten ungeahnt häufig auf. So zeigten etwa Stephan Le-wandowskys Studien, dass im Rahmen der automatischen Gedächtnisfunktionen kleinste bis größere Lücken in der logischen Ereignisfolge durch willkürliche Ein-bindung ‚relevanter Informationen‘ ergänzt werden. Anhand von Filmsequenzen führt Elizabeth Loftus darüber hinaus vor Augen, dass retrospektive Verzerrungen von Erinnerung äußerst einfach durch beiläufige Erwähnung zusätzlicher Elemente im nachträglichen Gespräch darüber induziert werden können. Diese Erkenntnisse sind im Rahmen juridischer Zeugenaussagen von großer Bedeutung. (vgl. Foster 2014: 99–112) Ähnliches gilt außerdem für therapeutische Kontexte, da solche Ver-zerrungen im Rahmen analytischer Gespräche auch ungewollt entstehen können, insbesondere dann, wenn sich Klienten in einem Zustand emotionaler Erregung befinden. (vgl. Levine 2016: 175)

118 Siehe dazu auch Hüther 2015.

Im Dokument Herausgegeben von Wolf Schmid (Seite 159-163)