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Schizophrenie und Psychose

Im Dokument Herausgegeben von Wolf Schmid (Seite 163-167)

Sinneswahrnehmung und Emotion zwischen Subjekt und Weltbild

1.  Sinneseindrücke und Halluzinationen

1.4  Schizophrenie und Psychose

Der Begriff „Psychose“ wird seit der Erstauflage der von der WHO herausgegebenen Internationalen Klassifikation psychischer Störungen ICD-10 (1993)119 ausschließlich deskriptiv, d.h. zur Symptombeschreibung, verwendet. Er bezeichnet einen Reali-tätsverlust des Subjekts. Halluzinationen, wahnhafte Störungen und durch starke Erregungszustände verursachte abnorme Verhaltensweisen werden darunter zu-sammengefasst. Das Krankheitsbild der Schizophrenie ist ebenfalls in dieses Spek-trum einzuordnen und stellt darin die häufigste Störung dar. (vgl. ICD-10 2015: 25)

Freud isolierte u.a. in seinen Briefen an Wilhelm Fließ (1887–1904) Realitätsver-lust, Selbstbezug, Ich-Veränderung und eine mögliche Wahnentwicklung als Kern-komponenten der Psychose. Diese bedingen sich zum einen gegenseitig und stecken zugleich ein Spektrum ab, in dem unterschiedliche psychotische Ausprägungen zu verorten sind. (vgl. Freud 1985: 106–170)

Die Psychose ist eine konfliktgeschichtlich entwickelte Trieborganisation, die nach Freud durch einen Verlust des Realitätsbezugs des Subjekts (Derealisation) gekenn-zeichnet ist und mit einem Rückzug der Libido auf das Ich (Autismus), einer tiefgreifen-den Ich-Veränderung (Depersonalisation) sowie gelegentlich mit der Ausbildung eines Wahns zur Rekonstruktion des dissoziierten Ichs einhergeht. […] Differenzialdiagnos-tisch unterscheidet er [Freud] die ‚Paranoia‘ (ich-feindliche, abwehrfreundliche Projek-tionstendenz und gute Prognose) von der ‚halluzinatorischen Verworrenheit‘ (heute Schizophrenie; ich-freundliche, realitätsfeindliche Regressionstendenz und schlechte Prognose) und von der ‚hysterischen Psychose‘ (ich-feindliche, abwehrfeindliche In-szenierungstendenz und gute Prognose) sowie Melancholien (akute halluzinatorische Amentia). (Warsitz 2014: 775)

In der zeitgenössischen Diagnostik liegt innerhalb des psychotischen Spektrums das Hauptaugenmerk auf der Schizophrenie als zentraler Störung. Zu ihren typi-schen Symptomen zählen Wahn, Halluzinationen, desorganisiertes Sprechen und desorganisiertes oder katatones Verhalten sowie eine verflachte Affektivität. Die zuerst genannten psychotischen Anzeichen entstehen vor dem Hintergrund einer besonders intensiven Sinneswahrnehmung und eines dezentrierten Denkens. (vgl.

DSM-5 2015: 61)

Besonders akustische Halluzinationen sind häufig und können das Verhalten oder die Gedanken kommentieren. Die Wahrnehmung ist oft auf andere Weise gestört: Farben oder Geräusche können ungewöhnlich lebhaft oder in ihrer Qualität verändert wahr-genommen werden. […] Bei der charakteristischen schizophrenen Denkstörung werden nebensächliche und unwichtige Züge eines Gesamtkonzepts […], in den Vordergrund gerückt und an Stelle wichtiger und situationsentsprechender Elemente verwendet.

119 Dem entspricht die Darstellung in den von der American Psychiatric Association herausgegebenen Diagnostischen Kriterien DSM-5 (Erstauflage 2013).

So wird das Denken vage, schief und verschwommen, und der sprachliche Ausdruck wird gelegentlich unverständlich. (ICD-10 2015: 128)

Charakteristische halluzinative Erscheinungen sind Stimmen, die sich mit Anwei-sungen oder Kommentaren direkt an den Patienten wenden, sowie nicht-verbale akustische Halluzinationen wie Pfeifen, Brummen oder Lachen. Während optische Halluzinationen seltener sind, liegen Geruchs- und Geschmackshalluzinationen sowie sexuelle oder andere Körperhalluzinationen häufiger vor. Die Halluzinationen entstehen durch diese Verzerrungen in Wahrnehmung und Denken sowie durch eine dissoziative Verortung der eigenen Gedanken außerhalb des Selbst. Da sie inhaltlich mit dem Ich in Verbindung stehen und auf dieses auch bezogen werden, führen diese Konfrontationen oft zum Erleben von Brüchen in der Realität. Diese können zu Ängsten und Wahnvorstellungen führen (z.B. Verfolgungswahn oder Beziehungswahn), die bei der ‚paranoiden Schizophrenie‘ im Vordergrund stehen.

(vgl. ebd. 131)

Die beschriebenen Denkstörungen führen zu den Wahnvorstellungen und Halluzi-nationen Schizophrener: Angesichts der mangelnden Auswahl von Reizen durch das Aufmerksamkeitssystem und durch die erhöhte Aktivität des dopaminergen Anreiz-systems […] erhalten eine Vielzahl von Ereignissen und Gedächtnisinhalten eine über-starke Bedeutung (z.B. das Flüstern in einer Gruppe wird zur Verschwörung). Stille Selbstgespräche werden als laute Stimmen wahrgenommen, da keine konsistenten Erwartungen zu dem Gesprochenen existieren; die Überlastung des (linkshemisphä-rischen) Arbeitsgedächtnisses mit unselektierten Reizen verursacht die bizarren, un-zusammenhängenden Assoziationen. […] [S]o erscheint der/dem Schizophrenen das eigene Denken im Selbstgespräch fremd und daher von außen (Gott, Feinde, Tote) aufgeprägt. Die Inhalte der Halluzinationen sind aber auf die eigene Biographie und Gedächtnis bezogen, daher werden sie als bedrohlich erlebt. (Birbaumer 2010: 799) Schizophrenie stört das Identitätsempfinden, da sich das Selbst als Einheit gleichsam auflöst, weil die eigenen Gedanken als für Außenstehende zugänglich und fremd-bestimmt erlebt werden.

Die Störung beeinträchtigt die Grundfunktionen, die […] ein Gefühl von Individualität, Einzigartigkeit und Entscheidungsfreiheit geben. Die Betroffenen glauben oft, dass ihre innersten Gedanken, Gefühle und Handlungen anderen bekannt sind, oder, dass andere daran teilhaben. Ein Erklärungswahn kann entstehen, mit dem Inhalt, dass natürliche und übernatürliche Kräfte tätig sind, welche die Gedanken und Handlungen des be-treffenden Individuums in oft bizarrer Weise beeinflussen. Die Betroffenen können sich so als Schlüsselfigur allen Geschehens erleben. (ICD-10 2015: 127f.)

Zusätzlich liegen bei Schizophrenie häufig Negativsymptome vor wie inadäquate oder verflachte Affektivität, verminderter emotionaler Ausdruck und Antriebsver-lust. (vgl. DSM-5 2015: 58f.)

Die Stimmung ist charakteristischerweise flach, kapriziös oder unangemessen. Ambiva-lenz und Antriebsstörung können als Trägheit, Negativismus oder Stupor erscheinen.

(ICD-10 2015: 128)

Die Negativsymptome können auch im Vordergrund stehen (‚hebephrene Schizo-phrenie‘) und nur von flüchtigen Halluzinationen begleitet werden.

[D]as Verhalten ist verantwortungslos und unvorhersehbar und Manierismen häufig.

Die Stimmung ist flach und unpassend, oft begleitet von Kichern oder selbstzufriede-nem, selbstversunkenen Lächeln oder von einer hochfahrenden Umgangsweise, von Grimassieren, Manierismen, Faxen, hypochondrischen Klagen und immer wieder-holten Äußerungen (Reiterationen). […] Der Kranke neigt dazu, sich zu isolieren; sein Verhalten erscheint ziellos und ohne Empfindung. Diese Schizophrenieform beginnt meist zwischen dem 15. und 25. Lebensjahr und hat wegen der schnellen Entwicklung der Negativsymptomatik, besonders von Affektverflachung und Antriebsverlust, eine eher schlechte Prognose. (ebd. 132f.)

Obgleich deutliche symptomatische Ähnlichkeiten mit Autismus vorliegen, gilt dieser heute als diagnostisches Ausschlusskriterium der Schizophrenie. (vgl. DSM-5 201DSM-5: 61f.)

Genetische Veranlagung gilt zwar als Hauptgrundlage für die Entwicklung einer Schizophrenie, soziale Faktoren können ihren Ausbruch und Verlauf jedoch ent-scheidend beeinflussen. Psychische Belastung, traumatische Ereignisse und ein stark auf negative und kritische Gefühlsäußerungen zentriertes soziales Umfeld stellen wesentliche Risikofaktoren dar. (vgl. Birbaumer 2010: 798) Sowohl symptomatisch als auch psychodynamisch zeichnet sich hierin eine gemeinsame Schnittmenge mit posttraumatischen Belastungsstörungen ab. (vgl. Kap. III.2.3) Differentialdiagnos-tisch zu erwägen sind vor einer Schizophrenie-Diagnose des Weiteren das Vorliegen von Depressionen, einer bipolaren Störung sowie Einflüssen durch neuroleptische Medikation oder Substanzmissbrauch. (vgl. DSM-5 2015: 61f.) Unter den Klassifizie-rungen für weitere psychotische StöKlassifizie-rungen, die sich jeweils auf ein Teilspektrum der Schizophrenie beschränken, werden wahnhafte Störungen (Liebeswahn, Ver-folgungswahn, Größenwahn, körperbezogener Wahn) (vgl. ebd. 55f.) und kurze psychotische Störungen (Wahn, Halluzinationen, desorganisierte Sprechweise, grob desorganisiertes oder katatones Verhalten) (vgl. ebd. 58f.) genannt.

Schizophrene Persönlichkeitsstrukturen prägen bereits wichtige literarische Werke der Romantik. Sie hängen außerdem mit dem seit der Antike bekannten Doppelgängermotiv zusammen, welches nun verstärkt auf psychische Vorgänge umgelegt und damit gemäß der neuen wissenschaftlichen ‚Seelenexperimente‘

weiterentwickelt wurde.

Die Vorstellung von einer zweiten Existenz des Menschen im Abbild, die […] Idee von den zwei Seelen, einer guten und einer bösen, in der Menschenbrust, der Gedanke an ei-nen leiblich-seelischen Dualismus, der den Kampf des sinnlichen mit dem sittlichen Ich auslöse, alle Hypothesen, Deutungen, Angstbekundungen im Hinblick auf erwiesene oder drohende Persönlichkeitsspaltung wurden von der Romantik durchdacht und an

neuen wissenschaftlichen Entdeckungen überprüft. Zu ihnen gehörten die Experimente F. A. Mesmers, der an Somnambulen und an Personen in Trance oder tranceähnlichen Zuständen Verhaltensweisen beobachtete, die sich offenbar nicht völlig als Folgeer-scheinungen von Hypnose oder Magnetismus erklären ließen. Ein zweiter Charakter nämlich enthüllte sich, die denkende Seele trennte sich von der schlafenden und tat Dinge, die dem Schläfer unbewußt waren. (Frenzel 1999: 100)

Diese Seelenproblematik wurde von Dostoevskij u.a. in Dvojnik (1846) aufgegrif-fen, wobei Verbindungen zu dem in Philosophie und Psychoanalyse prominent diskutierten Spiegelmotiv deutlich werden. (vgl. Kap. II.2.2) Neben literarischen Texten der Romantik gibt Dostoevskijs Denken später wichtige Impulse für die Entwicklung der Freud’schen Psychoanalyse. Der Zusammenhang zwischen dem Doppelgänger-Motiv und Schizophrenie betrifft hauptsächlich den Randbereich komplexer Halluzinationen.

Entscheidend für die Spannkraft des [Doppelgänger-]Motivs ist die Existenz zweier gleichzeitig nebeneinander agierender, sich möglicherweise gegenseitig verdrängender Figuren, die auf diese selbst und ihr Umfeld eine verblüffende bis unheimliche Wirkung hat; bei den Phantom-Doppelgängern reduziert sich die Wirkung meist auf den von der Ich-Spaltung Betroffenen. (ebd. 94)

Befördert durch Einflüsse wie Nietzsche und Freud finden Figurenkonzepte im Um-feld der Schizophrenie, vom Doppelgänger-Motiv häufig losgelöst, darüber hinaus in der Moderne verstärkten Niederschlag. Subjektentgrenzung und Selbstentfremdung werden dabei zu zentralen Themen, die auch implizit ihre Spuren hinterlassen und nun den Ausschlag für neue perspektivische Formen geben. Der Bezug zur Schizo-phrenie erscheint hier symptomatisch ebenfalls weitgehend auf ein problematisches Identitätsempfinden der Subjektinstanz zentriert. Weniger dual als in der Romantik wird weiterhin dessen aufgebrochene Einheit als nun unterschiedlich zum Ausdruck gebrachte Vielheit ins Blickfeld gerückt. Wie im Doppelgängermotiv des 19. Jh. be-treffen die psychotischen Anzeichen eher Herausbildungen neuer Subjektinstanzen als für das Krankheitsbild typischere Symptome wie akustische Halluzinationen oder affektive Komponenten. Halluzinativ externalisiertes Denken bezieht sich hauptsächlich auf die Suche nach dem schwer zu fassenden Subjekt, die u.a. mit Julia Weber nicht zwangsläufig als krankhaft zu betrachten ist, sondern auch als konstruktive Strategie der Erprobung neuer Bewusstseinsformen gelten kann. (vgl.

Weber 2010: 7) Ähnliche Deutungen im nicht-pathologischen Kontext liegen mit Vygotskijs Arbeiten zur inneren Rede und anderen Dialog-Konzepten vor. (vgl.

Kap. II.2.1) Anhand dreier Beispiele zeigt Weber Formen multipler Subjektivität in der Moderne auf, in denen die Ich-Instanz entweder zusätzliche Rollen außerhalb des eigenen Selbst schafft, innere Gegenpositionen beobachtet oder das innere Selbst nach außen hin entgrenzt.

Um die Prozesse zu beschreiben, die zu den verschiedenartigen Formen multipler Sub-jektivität in den Texten führen, könnte man zusammenfassend die Begriffe Ich-Ver-vielfältigung (Pessoa), Ich-Aufspaltung (Beckett) und Ich-Aufsplitterung (Mayröcker)

verwenden: Während Pessoa versucht, verschiedene Sprecher- oder Autorpositionen zu besetzen und damit den Weg einer nach außen gerichteten Ich-Vervielfältigung wählt, bei der andere Formen von Subjektivität simuliert werden, stehen in den Texten von Beckett und Mayröcker immer die inneren Bewusstseinsprozesse des schreibenden Ich im Mittelpunkt. Beckett lenkt seinen Blick von Anfang an nach innen und be-obachtet und analysiert Bewusstseinsprozesse. Dies führt zu inneren Ich-Aufspaltungen.

Bei Mayröcker hingegen kommt es zu einer entgrenzenden Ich-Aufsplitterung, bei der die Grenzen des Subjekts in alle Richtungen zerstäuben. (ebd. 212)

Mit besonderer Bedeutung für den gegebenen Untersuchungsgegenstand behan-delte Eva Hausbacher das Doppelgänger-Motiv als Charakteristikum der Emigrati-onsliteratur.120 (vgl. Hausbacher 2009: 141) Abgeschnittenheit von der Heimat und Einsamkeit scheinen hier die Suche nach dem Selbst zu intensivieren, das aufgrund verlorener Anhaltspunkte noch fragiler erscheint. Im Rahmen der ersten russischen Emigrationswelle gehen diese Aspekte teilweise mit der ‚Krise des Subjekts‘ in der Poetik der Moderne einher.

Im Dokument Herausgegeben von Wolf Schmid (Seite 163-167)