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Ontologie des Textes

Im Dokument Herausgegeben von Wolf Schmid (Seite 48-56)

Wahrnehmung im Weltbild literarischer Texte

1.  Narratologie als Ontologie des Textes in Hinblick auf Motive der Wahrnehmungauf Motive der Wahrnehmung

1.2  Ontologie des Textes

Analog zur philosophischen Ontologie muss jeder Textanalyse eine Auseinanderset-zung mit der Beschaffenheit des Analysematerials vorausgehen. Mit der Erforschung der Struktur der Texte und der Definition der darin relevanten Größen als Basis aller Erkenntnisse beschäftigt sich in der Literaturwissenschaft die Narratologie.

Wahrnehmung bildet hier wie dort seit den Anfängen eine zentrale Größe, da die Vorstellung von der Beschaffenheit einer Welt, d.h. das Weltbild, immer mit der impliziten Vorstellung einer Instanz oder Größe gedacht wird, aus deren Bewusst-sein dieses Weltbild resultiert. Wolf Schmid verweist hier auf Käte Friedemanns Die Rolle des Erzählers in der Epik (1910), wo die Autorin dieser frühen Erzähltheorie ein solches Weltbild von Kant ableitet.

Er [der Erzähler] symbolisiert die uns seit Kant geläufige erkenntnistheoretische Auffassung, daß wir die Welt nicht ergreifen, wie sie an sich ist, sondern wie sie durch das Medium eines betrachtenden Geistes hindurchgegangen. (Friedemann 1965: 26) Da das ‚Sein-an-sich‘ der menschlichen Wahrnehmung nicht zugänglich ist, implizieren ontologische Systeme in jedem Fall subjektive Annahmen über die Beschaffenheit und Beziehung von Subjekt und Welt. Für den Fall, dass hier un-terschiedliche Annahmen als Voraussetzung gewählt werden, bedeutet dies, dass bei heterogenen Resultaten in der darauf aufbauenden Argumentation keine Po-sition die andere widerlegen kann, da beide Argumente auf willkürlichen Größen gründen.38

In der Narratologie gilt zunächst die strenge Trennung zwischen textimmanenten und textexternen Größen. Zweitere betreffen den konkreten Autor (als Produzent von Literatur auf N4 sowie als umfassende historische Persönlichkeit auf N5) und werden als Untersuchungsgegenstand der Narratologie ausgeschlossen. Für die Analyse textimmanenter Instanzen wurden, je nach Forschungsinteresse, unter-schiedliche ontologische Ebenen als existent bzw. relevant definiert. Im Modell der Kommunikationsebenen nach Wolf Schmid und anderen39 werden drei textimmanen-te Ebenen angenommen: Die ‚erzähltextimmanen-te Welt‘ (N1) umfasst alle konkretextimmanen-ten Inhaltextimmanen-te der Handlung, darunter auch die Figuren, die ‚dargestellte Welt‘ (N2) umfasst darüber hinaus auch den Erzählakt und den fiktiven Erzähler, das ‚literarische Werk‘ ver-weist auf Basis dieser beiden ersten Ebenen zusätzlich auf den abstrakten Autor (das Autorbewusstsein im Text, N3). (vgl. Schmid 2014: 46)

Der Charakteristik dieser drei Ebenen soll im Folgenden anhand von Gérard Genettes abweichender ontologischer Einteilung von Erzähltexten auf den Grund gegangen werden. Es gilt dabei nicht, die Weltbilder epistemologisch gegeneinander aufzuwiegen, was auf Ebene der Ontologie, wie erwähnt, nicht als sinnvoll erachtet wird. Anhand der Kontrastposition dieser ebenfalls sehr einflussreichen narratolo-gischen Theorie soll die Beschaffenheit der im Modell der Kommunikationsebenen vorgeschlagenen textimmanenten Ebenen sowie der Reichweite der auf ihnen statt-findenden Wahrnehmung offengelegt werden. Genette betrachtet seit Discours du récit (1972) nur zwei textimmanente Ebenen als genuine Gegenstände der Narra-tologie: Figuren- (N1) und Erzählerebene (N2). Wie er in Nouveau discours du récit (1983) darlegt, zieht er die ontologische Grenze zwischen den verbliebenen Ebenen von Erzähler und konkretem Autor anders: Subjektive Rückschlüsse auf die Präsenz eines Autors verortet Genette außerhalb des Textes; erzählerische Besonderheiten ordnet er dem fiktiven Erzähler (N2) zu, wodurch er die fehlende Ebene des abs-trakten Autors insgesamt als abgedeckt betrachtet. (vgl. Genette 2007b: 404–422)

38 Der hier in der Narratologie – als Ontologie der Texte – zu verzeichnende Fall ist in derselben Form des Öfteren in der Philosophie anzutreffen. Vgl. dazu Kap. II.1.2 zu den Abhandlungen über den menschlichen Verstand von Locke, Leibniz und Hume.

39 Dazu ausführlich siehe: Okopień-Sławińska 1975a [1969], Fieguth 1973, Kahrmann 1986: 45f.

Neben dem ‚Fehlen‘ des abstrakten Autors thematisiert die Kritik außerdem Genettes geringes Interesse für die Figurenebene. Beides verweist, wie Genette auch selbst festhält, in erster Linie auf sein Forschungsinteresse, das hauptsächlich dem Erzähler – den er auch als ‚Stimme‘ (voix) bezeichnet – bzw. dem vermittelnden Niveau (N2) gilt. Thematische, ideologische und andere inhaltliche Aspekte schließt er aus seiner Analyse aus: „[…] Discours du récit porte sur le discours narratif et non sur ses objets.“ (vgl. ebd. 404) Sein Interesse liegt auf textimmanenten Relationen, auf zumeist räumlichen, zeitlichen und perspektivischen Konstellationen. Hinsichtlich des Erzählers differenziert er so u.a. zwischen ‚heterodiegetisch‘ (wenn der Erzähler nicht als Figur der Handlung auftritt), ‚homodiegetisch‘ (wenn dieser selbst auch handelnde Figur ist), ‚autodiegetisch‘ (wenn es sich um die Hauptfigur handelt), und ‚metadiegetisch‘ (wenn es sich um den Erzähler innerhalb einer Binnenhand-lung handelt).40 (vgl. ebd. 236–243) Diese Einteilung ist ontologisch grundlegend, da es bei homodiegetischen und autodiegetischen Erzählern ein ‚erzählendes‘ (N2) und ein ‚erlebendes‘ Ich (N1) zu unterscheiden gilt. (vgl. u.a. Spitzer 1928: 471) Bei heterodiegetischen Erzählern liegt eine solche Verbindung nicht vor. In Analogie zum erlebenden Ich ist jedoch häufig eine ‚Reflektorfigur‘ festzumachen, aus deren Perspektive erzählt wird.

Das erlebende Ich und die Reflektorfigur sind, wie daneben auch die übrigen Figuren, in der vorliegenden Motivanalyse im thematischen Bereich der Wahrneh-mung von großer Bedeutung, da es sich um motivimmanente Instanzen handelt – sie sind jeweils die ‚Wahrnehmenden‘. Aus denselben Gründen, die Genettes geringes Interesse an der Figurenebene (N1) motivieren (vgl. Genette 2007: 404), steht diese im Fall der vorliegenden Arbeit im Vordergrund. Als bloßer Effekt des narrativen Diskurses sind die Figuren und die ihrer Wahrnehmung zuzuordnenden Inhalte nicht primär struktureller, sondern deskriptiv-motivischer Natur.

Ähnliches gilt für den abstrakten Autor (hier als ‚implizierter Autor‘ bezeichnet), den Genette letztendlich nicht als Kategorie verwirft, sondern lediglich als narrative Instanz sowie als Gegenstand seines Forschungsinteresses.41 Als Vorstellung vom

40 Schmid schlägt die Terminologie ‚nicht-diegetisch‘ (für ‚heterodiegetisch‘) und ‚die-getisch‘ (für ‚homo-‘ und ‚autodie‚die-getisch‘) sowie die konkrete Benennung durch ‚pri-mär‘, ‚sekundär‘, ‚tertiär‘ (für ‚metadiegetische‘ Erzähler) vor. (vgl. Schmid 2014: 83) 41 „Ma position sûr l’‚auteur impliqué‘ reste donc, en un sens, négative pour l’essentiel.

Mais je la dirais volontiers, en un autre sens, essentiellement positive. Tout dépend en effet du statut que l’on veut attribuer à cette notion. Si l’on signifie par l’a qu’au-delà du narrateur (même extradiégétique) et par divers indices, ponctuel ou globaux, le texte narratif, comme tout autre, induit une certaine idée (ce terme est à tout prendre préférable à ‚image‘, et i lest grand temps de le lui substituer) de l’auteur, on signifie une évidence que je ne puis qu’admettre, et même revendiquer, et en ce sens j’adhère volontiers à la formule de Bronzwaer: ‚Le champ d la théorie narrative [je dirais plus prudemment: de la poétique] exclut l’auteur réel, mais inclut l’auteur impliqué.‘

L’auteur impliqué, c’est tout ce que le texte nous donne à connaître de l’auteur, et pas plus que tout autre lecteur le poéticien ne doit le négliger. Mais si l’on veut ériger

Autor auf Basis von dessen Text verstanden, betrachtet er ihn als evident. Dieses von Genette geteilte Konzept des abstrakten Autors als im Text verankertes und rezeptionsästhetisch generiertes Bild (bzw. Vorstellung) von einem Autor entspricht im Übrigen auch Schmids Definition.

Was für jede beliebige sprachliche Äußerung, ja für jedes Kulturprodukt gilt, kann auch auf das literarische Werk als Ganzes bezogen werden. In ihm drückt sich mit Hilfe von Symptomen, indizialen Zeichen der Urheber aus. Das Ergebnis dieses semiotischen Aktes ist allerdings nicht der konkrete Autor, sondern das Bild des Urhebers, wie er sich in seinen schöpferischen Akten zeigt. Dieses Bild, das eine zweifache, objektive und subjektive Grundlage hat, d.h. im Werk enthalten ist und durch den Leser rekonstruiert werden muss, nenne ich den abstrakten Autor […]. (vgl. Schmid 2014: 48)

In reziproker Analogie zum Zusammenhang zwischen jeder Figur und einem durch sie jeweils generierten Weltbild (N1) lässt sich diese subjektive Vorstellung des abstrakten Autors als Weltbild des literarischen Werks (N3) denken, das auf einen anthropomorph definierten Blickwinkel – ein Subjekt – schließen lässt. Dement-sprechend bezeichnete Aleksandra Okopień-Sławińska (1969) den abstrakten Autor als ‚Subjekt des Werkganzen‘. (vgl. Okopień-Sławińska 1975a: 145)

Mit der Subjekt-Welt-Beziehung auf Ebene N3 befasste sich außerdem Jurij Lot-man in Struktura chudožestvennogo teksta (1970). In Anlehnung an die Filmtheorie entwirft er das Konzept des ‚Blickpunkts‘, der als untrennbare Einheit von Subjekt und Weltbild die anthropomorphen Merkmale auf der Makrostruktur eines Kunst-werks kondensiert.

Понятие ‚художественная точка зрения‘ раскрывается как отношение системы к своему субъекту […]. Под ‚субъектом системы‘ (идеологической, стилевой и т. п.) мы подразумеваем сознание, способное породить подобную структуру и, следовательно, реконструируемое при восприятии текста. […] Центр этот – субъект поэтического текста – совмещается с личностью автора, становится ее лирическим двойником. […] Однако редкий из элементов художественной структуры так непосредственно связан с общей задачей построения картины мира, как ‚точка зрения‘. Она непосредственно соотнесена с такими вопросами во вторичных моделирующих системах, как позиция создателя текста, проблема истинности и проблема личности. ‚Точка зрения‘ придает тексту определенную ориентированность относительно его субъекта […]. Однако всякий текст вдви-нут в некоторую внетекстовую структуру, самый абстрактный уровень которой можно определить как ‚тип мировоззрения‘, ‚картина мира‘ или ‚модель куль-туры‘ […]. (Lotman 1970: 320–322)

cette idée de l’auteur en ‚instance narrative‘, je n’en suis plus, tenant toujours qu’il ne faut pas les multiplier sans nécessité […]. Il y a dans le récit, ou plutôt derrière ou devant lui, quelqu’un qi raconte, c’est le narrateur.“ (Genette 2007b: 416)

Lotman betrachtet diesen Blickpunkt der Makroebene des Textes in Analogie zur Figurenebene, wo er auch jeder Einzelfigur einen Blickpunkt, d.h. eine mit ihr un-trennbar verbundene Weltanschauung, zuspricht. (vgl. ebd. 322)

Während, wie die bisherigen Erläuterungen zeigen sollten, Figuren- (N1) und Werkebene (N3) in breitem Konsens zwischen unterschiedlichen Wissenschaftstra-ditionen als anthropomorphes Konstrukt gedacht werden, wurde in Zusammenhang mit Genettes Interessensfokus auf den Erzähler bereits deutlich, dass hinsichtlich dieser Instanz strukturelle Aspekte meist im Vordergrund der Analyse stehen. Das einleitende Zitat Friedemanns deutet aber zumindest an, dass auch der Erzähler seit den Anfängen der Narratologie zumindest als Subjekt mit Bewusstsein gedacht wurde. Seine anthropomorphe Ausprägung gilt jedoch als im Vergleich zu jener der Figuren deutlich eingeschränkt und ist nicht in allen Erzählsituationen (auktorial, personal und neutral) überhaupt repräsentiert, wie Ansgar Nünning42 (1989) im Zuge seines Entwurfs der ‚Erzählerperspektive‘ festhält. Dieses Konzept zielt als Pendant zu der mit menschlichen Eigenschaften und Wertvorstellungen ausgestat-teten Dramenfigur (N1) nämlich gerade auf die Erfassung jener anthropomorphen Aspekte des fiktiven Erzählers (N2) ab.43

Trotz der Einschränkungen hinsichtlich der Rekonstruierbarkeit einer Erzählerper-spektive stellt sie in allen Fällen einen konstitutiven Bestandteil eines narrativen Textes dar. Auch in Romanen, in denen die Vermittlungsinstanz auf der Ebene N2 nur als neu-trales Erzählmedium faßbar ist, ist die fehlende Ausgestaltung einer übergeordneten Perspektive von interpretatorischer Bedeutung. […] Da im ‚personalen Roman‘ kein expliziter Erzähler die Perspektiven der Figuren korreliert, stehen kontrastierende Figurenperspektiven unvermittelt nebeneinander. (Nünning 1989: 78)

Die Erzählerperspektive bildet neben der Figurenperspektive eine jener Basiskate-gorien, von denen er die ‚Perspektivenstruktur‘ ableitet.

‚Die Perspektivenstruktur narrativer Texte‘ konstituiert sich durch die Beziehungen aller Figurenperspektiven zueinander und durch deren Verhältnis zur Erzählerper-spektive. Sie ergibt sich aus dem übergeordneten System von Kontrast- und Korres-pondenzrelationen zwischen allen Einzelperspektiven eines Textes […]. Daher ist er [der Begriff ‚Perspektivenstruktur‘] – wie alle abstrakten Gesamtsysteme narrativer Texte – auf der übergeordneten Kommunikationsebene N3 anzusiedeln […]. (ebd. 76f.) Das formale Kriterium dieses nicht anthropomorph gedachten ‚übergeordneten Systems von Kontrast- und Korrespondenzrelationen zwischen allen Einzelper-spektiven eines Textes‘ (N3) beschreibt Nünning in weiterer Folge, analog zu ge-schlossenem und offenem Drama, als graduelle Aussage darüber, wie homogen Figuren- und Erzählerperspektiven auf eine einzige Werthaltung verweisen, bzw.

42 Nünning beruft sich hier auf Manfred Pfister 1974: 21f.

43 Genauer herausgearbeitet wurden diese subjektspezifischen deskriptiven Kategorien später gemeinsam mit Vera Nünning (2000).

wie ‚dialogisch‘ sie unterschiedliche Weltbilder vertreten. (vgl. ebd. 81–83) Schmids systematische Einordnung der ‚Perspektivenstruktur‘ in die Nachfolge des Bach-tin’schen Dialogizitätskonzepts erscheint sinnvoll, da Bachtin ebenfalls anhand weltanschaulicher Positionen von Figuren- und Erzählerinstanzen nach der ideo-logischen Vielstimmigkeit des literarischen Werks fragt. (vgl. Schmid 2014: 118–120) Michail Bachtins kulturphilosophisches Werk hatte Einfluss auf unterschiedliche Wissenschaftsdisziplinen – darunter Ästhetik (vgl. Kap. III.1.2) und Ethik – da sich in seinem Denken das Interesse für weltanschauliche Fragen mit jenem für Struk-turbezüge verschränkt. Beides wurde in weiterer Folge isoliert und systematisch weitergedacht, woraus sich auch bedeutende Anstöße für die strukturalistische Textwissenschaft ergaben.

Die strukturalistische Bachtin-Rezeption wagte keine grundsätzliche Auseinanderset-zung mit Bachtin. Sie wertete lediglich seine stilistischen Untersuchungen zur erlebten Rede, zum Dialog und zum Chronotop für die Analyse des Textaufbaus literarischer Werke aus. Die „stilistologische“ Aneignung dieser Untersuchungen bei Ausblen-dung ihrer philosophischen Prämissen charakterisiert v.a. die Bachtin-Rezeption der 70er Jahre […]. Als Beispiele dieser Rezeptionsrichtung seien genannt: Schmid 1973, Głowiński 1974, Drozda 1977, Hansen-Löve 1978 und Mc Hale 1978.44 (Freise 1993: 39) Besonders einflussreich war in diesem Kontext Bachtins Arbeit Problemy poėtiki Dostoevskogo (1963), die sich der Qualität von Beziehungen zwischen Instanzen derselben bzw. unterschiedlicher ontologischer Ebenen im Roman widmet. Figuren-ebene, Erzählerebene und der konkrete Autor werden so anhand struktureller und psychologisch-weltanschaulicher Aspekte zueinander in Beziehung gesetzt. Abgren-zungen zwischen diesen oft ineinanderfließenden Ebenen werden hier, wie zuvor bei Valentin Vološinov (1930), u.a. anhand formaler Aspekte wie der erlebten Rede aufgezeigt. Auf diese beiden Autoren beruft sich Aleksandra Okopień-Sławińska in ihrem Artikel Die personalen Relationen in der literarischen Kommunikation (1969 im polnischen Original, dt. 1975), wo sie ein Modell präsentiert, das dem Modell der Kommunikationsebenen bereits sehr nahekommt und in der Folge, etwa von Rolf Fie-guth (1973 und 1975), in Einzelheiten noch verfeinert wird. Die Warschauer Struk-turalistInnengruppe, der Okopień-Sławińska angehört, bewegt sich im „Grenzgebiet zwischen Historischer Poetik und Literatursoziologie“ (Fieguth 1975: 9). Aufgrund der interdisziplinären Verankerung in Linguistik, Kulturphilosophie und Literatur-geschichte werden die strukturellen Kategorien unter Rückbezug auf anthropolo-gisches Wissen abgeleitet. Viele der späteren Diskussionen werden daher bereits hier an der Basis vorweggenommen.

Dies gilt etwa für die Frage nach der ‚Erzählerperspektive‘, denn in Okopień-Sławińskas Verständnis werden die strukturelle Verankerung und die psychische Disposition der Erzählerinstanz als Einheit gedacht. Der fiktive Erzähler wird so

44 Dieser Richtung ist auch Okopień-Sławińska (1969) zuzurechnen.

implizit anhand seiner Sprachverwendung deutlich, die auf ideologische Einstel-lungen sowie seine psychische und mentale Verfassung verweist.

Jede Sprachverwendung entspricht einer gesellschaftlichen Erfahrung. Eo ipso zeugt die implizierte metasprachliche Information über die Spachverwendungsweisen in diesem Text von seinem Sender als dem Realisator einer bestimmten gesellschaftlichen Praxis. Diese Praxis umfaßt verschiedene sprachliche Verhaltensweisen, die es ermögli-chen, den Status des Sprechers nicht nur in streng soziologisermögli-chen, seine Milieu-, Berufs- und Klassenzugehörigkeit etc. bestimmten Termini zu identifizieren, sondern auch in allen möglichen anderen, die unterschiedlichen Gruppen von Sprachverwendern charakterisierenden Termini, z.B. in psychologischen Termini (das Sprechen nervöser, intelligenter, zerstreuter, apodiktischer Menschen) oder sogar in physiologischen (das Sprechen ermüderter, stotternder, betrunkener, aphasischer Menschen etc.). (Okopień-Sławińska 1975a: 132f.)

Die in diesem exemplarischen Ausschnitt genannten Merkmale betreffen das seit den russischen Formalisten beforschte Phänomen des Skaz.45 Okopień-Sławińska spricht in der Folge außerdem Phänomene an, die später unter dem Begriff des

‚unzuverlässigen Erzählers‘ (unreliable narrator) subsummiert werden,46 da sich die Erzählerinstanz in dieser Konstellation offensichtlicher Nicht-Übereinstimmung zwischen erzählter Information (N2) und impliziten Informationen auf einer nied-rigeren Ebene (N1) besonders klar abzeichnet. (vgl. ebd. 136)

Okopień-Sławińskas Motivation dafür, sich so ausführlich mit dem fiktiven Er-zähler (N2) und seinen anthropomorphen Merkmalen auseinanderzusetzen, gilt einer möglichst klaren Konturierung des Subjekts des Werkganzen (N3), das ihr Hauptinteresse darstellt. Sie leitet diesen nicht personifiziert gedachten Sender au-ßerdem (wie später Nünning) kontrastiv von Gattungen ohne fiktiven Erzähler ab, wo er einfacher zu isolieren ist: „dramatische Werke, lyrische Dialoge, neuerdings immer zahlreichere Romane und Erzählungen, ältere Briefromane“. (ebd. 139) Sich über die Vermittlung von Edward Balcerzan auf die in der englischen und russischen Tradition verankerten Konzepte des ‚implizierten Autors‘ (implied author, Booth 1961) bzw. des ‚Autorbildes im Text‘ (obraz avtora) berufend, möchte sie diesem einen begrenzteren und systematischeren Status verleihen. Dazu konstruiert sie den, wie bei Schmid, zweifach – textintern und textextern – definierten Sender, der mit dem realen Autor direkt verbunden ist, jedoch keine Aussage über diesen als historische Person erlaubt.47 (vgl. ebd. 137)

45 Dazu ausführlich siehe: Schmid 2014: 152–163.

46 Dazu ausführlich siehe: Nünning 2013.

47 Wie Genette erwähnt, diente Booths englischer Begriff in erster Linie dazu, text-immanente Instanzen vom realen Autor abzugrenzen, und war insofern Teil eines (wie jenes von Genette) zweigliedrigen Schemas. (vgl. Genette 2007b: 407–416) Ähnlich ist Bachtins ontologisches Weltbild zu verstehen, in dem Figuren, Erzäh-ler und der konkrete Autor berücksichtigt werden. Wie später Genette bezeichnet Bachtin sämtliche Funktionen, die im Modell der Kommunikationsebenen dem (nicht

Die implizierte metasprachliche Information verweist also auf einen Sender und Urheber der Aussage und chiffriert gleichzeitig in den Text sein Bild ein, dessen Por-trätechtheit von den elementaren Anforderungen literarischer Kommunikation garan-tiert wird. Kein anderes im Text enthaltenes und durch eine thematisierte Information dargestelltes Bild eines Senders ist durch solche Garantien abgesichert und steht in so intimem Bezug zu seinem Modell. […] Dieser Konstrukteur ist vom Standpunkt des Werks aus der einzige externe Sender, auf den der Text direkt hindeutet und der aus ihm ableitbar ist. […] Seine Merkmale, die durch die Organisation des Werks impliziert sind, charakterisieren ihn ausschließlich als individualisierten Verwender aller im Text realisierten Regeln. Vom Standpunkt des wirklichen Stroms literarischen Kommunizie-rens, an dessen Beginn der Autor steht, also ein konkretes menschliches Individuum, ist jeder aus der kommunikativen Situation abgeleitete Regeldisponent nur die ‚spe-zifische Rolle des Autors, in die er im Verlauf des Schaffensprozesses hineinschlüpft‘.

Ihm kommt das gesamte, ins Werk einchiffrierte metasprachliche Bewußtsein zu, das keineswegs mit dem wirklichen Bewußtsein des Autors identisch ist, da er – wie jeder Verwender einer Sprache – unabhängig davon spricht, ob er die in seiner eigenen Rede aktualisierten grammatischen Regeln formulieren kann. (ebd. 140f.)

Vergleicht man Genettes und Lotmans Forschungsinteressen vor dem Hintergrund des Modells der Kommunikationsebenen, so zeigt sich, dass in Zusammenhang mit einem verstärkten Interesse für den Erzähler (Genette) strukturelle Aspekte betont werden, während auf den Ebenen von Figuren und abstraktem Autor (Lotman) motivische Vorstellungen in den Vordergrund treten.

Ohne neue Kategorien einzuführen oder die durch etablierte Begriffe bezeich-neten Konzepte zu verändern, was im Bereich der Narratologie mit höchst un-günstigen Auswirkungen auf die Begriffsklarheit und auf die wissenschaftliche Diskussion häufig gemacht wurde, ist das vorliegende Analysevorhaben wie folgt zu verorten: Das Modell der Kommunikationsebenen und alle drei darin enthaltenen textimmanenten Ebenen werden als ontologische Basis angenommen. Im Rahmen der Motivanalyse ist zunächst die Figurenebene (Figuren, inklusive des erzählten Ich des homodiegetischen Erzählers, N1) von Bedeutung, da hier die konkrete Re-präsentation der zu untersuchenden Motive festzumachen ist. Die vorwiegend auf sprachlichen Verknüpfungen beruhende Erzählerebene (heterodiegetischer Erzäh-ler und erzählendes Ich des homodiegetischen ErzähErzäh-lers, N2) wird hier gegenüber solchen bildhaft-außersprachlichen Vorstellungen vernachlässigt. Da die Motive jeweils in Hinblick auf ihre wiederholte Repräsentation und in ihrer Entwicklung betrachtet werden, lässt sich daraus auf ein Motiv-Verständnis auf Ebene des abs-trakten Autors schließen. Es wird hier mit Willem Weststeijn von einem Bezug

personifizierten) abstrakten Autor zugeordnet werden, einfach als ‚Autor‘, wobei auch er sich wenig für den Autor als konkret-historische Person zu interessieren scheint, sondern vielmehr für dessen werkimmanent verankertes Weltbild, d.h. im Grunde für einen ähnlichen Bereich wie jenen, der später dem ‚abstrakten Autor‘

zugeordnet wird.

zwischen unterschiedlichen Werken eines Autors auf dieser Ebene (N3) ausgegan-gen, von einem Autorbild im Text, das über Einzeltexte hinweg nicht zwangsläufig homogen erscheint (vgl. Weststeijn 1984: 562; zit.n.: Schmid 2014: 57) und damit mögliche Entwicklungen in der Poetik erkennbar macht. Schmid schlägt hierfür den Begriff des ‚Œuvre-Autors‘ vor. (vgl. ebd. 58)

Im Dokument Herausgegeben von Wolf Schmid (Seite 48-56)