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Textimmanente Wahrnehmung: Forschungsvorhaben und ontologischer Standpunktund ontologischer Standpunkt

Im Dokument Herausgegeben von Wolf Schmid (Seite 23-26)

Die vorliegende Arbeit widmet sich Sinneswahrnehmung und Emotion bei Gazdanov aus textimmanenter Perspektive. Unter Berücksichtigung interdisziplinärer Kon-zepte aus Psychologie, Psychoanalyse, Philosophie und den Naturwissenschaften fragt sie nach der Systematik von deren motivischer Repräsentation, deren Wech-selbeziehung sowie einem davon abzuleitenden Weltbild. Die Spezifik literarischer Repräsentation von Wahrnehmung gegenüber anderen Motiven besteht in ihrer Position an der Schnittstelle zwischen Subjekt, Raum und Zeit, wo die Dimensio-nen des Bachtin’schen Chronotopos zusammenlaufen. Dementsprechend spiegeln diese Motive spezifische Menschenbilder und ontologische Selbstverortungen des

Subjekts wider, die sich gut für die Verbindung mit den oben genannten interdis-ziplinären Konzepten eignen.

Die Untersuchung textimmanenter Motive im Kontext historisch-anthropolo-gischer Kategorien verbindet die Ansätze von Michail Bachtin, Vladimir Propp und Aleksandra Okopień-Sławińska, welche die wichtigsten konzeptuellen Bezugs-punkte für die vorliegende Arbeit darstellen. Die Qualität dieser Zugänge liegt darin, dass sie von psychologischen Zuschreibungen im Bereich der Produktionsästhetik wegführen und zugleich den Blick auf allgemeinere weltanschauliche Zusammen-hänge sowie deren individuelle Spezifik freilegen.

Das zentrale Anliegen dieser Arbeit besteht darin, Sinneswahrnehmung und Emotion als Bestandteile der empirischen Realität im Sinne Kants zu untersuchen.

An seine Sichtweise anknüpfend, werden beide als Mechanismen verstanden, die notwendigerweise jede Erfahrung strukturieren und dabei selbst meist unbewusst bleiben. Die Schwierigkeit, Wahrnehmungen an sich zu beschreiben, besteht darü-ber hinaus darin, dass sie stets an ein wahrnehmendes Subjekt gebunden sind und sich zugleich notwendigerweise auf ein Objekt innerhalb oder außerhalb dieses Subjekts beziehen, weshalb sie in einer reinen, isolierten Form nicht vorkommen.

Sinnliche und emotionale Erfahrungen müssen folglich erst indirekt aus den per-zipierten Inhalten rekonstruiert werden, wobei zusätzlich die Kategorien von Sub-jekt und Weltbild als Einheiten des Synkretismus SubSub-jekt-Wahrnehmung-Weltbild ins Blickfeld rücken.

Ein Blick auf die Narratologie, die hier mit Wolf Schmid als Ontologie des Textes verstanden wird, zeigt, dass die Literatur eine geeignete Materialgrundlage für die Erforschung dieser Schnittstelle zwischen Subjekt und empirischer Realität darstellt.

Seit den Anfängen dieser Disziplin wird – etwa von Käte Friedemann – die These vertreten, dass jede Handlung erst im Erleben durch (mindestens) ein Bewusstsein eine Struktur erhält, durch die sie erzählbar wird – so fragmentiert diese auch sein mag. Gérard Genette formuliert die hier ebenfalls vertretene Annahme, dass Wahrnehmungen und Ordnungsprozesse ein intuitives Element literarischer Texte darstellen (vgl. Genette 2007: 277f.), das folglich nicht konstruiert ist, sondern aus der subjektiven Erfahrung von empirischer Realität und spezifischen Annahmen über diese entsteht.

Die Bezüge zur Psychoanalyse sind dem gewählten Forschungsfeld eingeschrie-ben. Ebenfalls ausgehend von den Versprachlichungen eines Individuums, unter-sucht sie dessen empirische Realität anhand wiederkehrender emotional geprägter Muster der Wahrnehmung, die dessen Denken Struktur verleihen und die subjektive Sicht auf erlebte Inhalte bestimmen. Stärker auf quantitativ erfassbare interindi-viduelle Erscheinungen bezogen, befassen sich Wahrnehmungs- und Emotions-psychologie mit ähnlichen Zusammenhängen und ergänzen das auf individuelle Aspekte fokussierte Feld der Psychoanalyse so um das Wissen über normative Er-scheinungen. In Hinblick auf die textimmanente Untersuchung der empirischen Realität eines Autors erscheint es sinnvoll, beide an sich voneinander unabhängigen Ebenen – die individuellen Ordnungen und das Wissen um allgemeine Tendenzen – zu berücksichtigen, um sie kontrastiv miteinander abzugleichen und damit sowohl

Charakteristika von Wahrnehmung und Emotion an sich als auch deren autorspe-zifische Besonderheiten ins Sichtfeld zu rücken.

Neben dem Versuch, anhand der konkreten im Textkorpus verankerten empi-rischen Realität allgemeine Annahmen über Beschaffenheit und Funktionsweise von Wahrnehmung und Gefühlen sowie über diesbezügliche Spezifika im Denken des konkreten Autors abzuleiten, stellt die Arbeit zweitens die Frage nach den sich daraus ergebenden Konsequenzen für das Konzept von Subjekt und Weltbild. Diese beiden Kategorien liegen interdisziplinär näher bei Philosophie und Naturwissen-schaften als bei der Psychologie. Die Schwierigkeit der entsprechenden Modelle besteht darin, dass sowohl die Welt als auch das Subjekt die empirische Realität zwar bedingen, selbst jedoch, wenn man Wittgensteins Beobachtung im Tractatus logico-philosophicus (1921 bzw. 1933) folgt, außerhalb von ihr liegen.

5.632 Das Subjekt gehört nicht zur Welt, sondern es ist eine Grenze der Welt.

5.633 […] [N]ichts am Gesichtsfeld läßt darauf schließen, daß es von einem Auge gesehen wird.

[…]

5.634 [K]ein Teil unserer Erfahrung [ist] auch a priori […].

Alles, was wir sehen, könnte auch anders sein.

Alles, was wir überhaupt beschreiben können, könnte auch anders sein.

Es gibt keine Ordnung der Dinge a priori. (Wittgenstein 2006: 68)

Als Konsequenz daraus wendet sich die Analyse auch hier bewusst subjektiven Kategorien zu und fragt danach, auf welche Subjektvorstellung und auf welches Weltbild die in der empirischen Realität verankerten Zusammenhänge hindeuten.

Methodisch bedeutet dies abermals den Abgleich zwischen spezifischen Strukturen und ontologischen Annahmen im Umfeld von Philosophie und Naturwissenschaf-ten, um daraus historisch geprägte und autorspezifische Vorstellungen abzuleiten und in ihrem Verhältnis zueinander zu betrachten.

Die Textanalyse geht von wiederkehrenden Motiven in Gazdanovs Œuvre aus, von denen sich allgemeine, autorspezifisch mitgeprägte Konzepte von Sinneswahr-nehmung und Emotion sowie von Subjekt und Weltbild ableiten lassen. Auf die Narratologie rückbezogen, sind diese Einheiten daher jeweils auf Ebene des abs-trakten Autors (N3) zu verorten, die nach Okopień-Sławińska und Schmid onto-logisch an der Schnittstelle zwischen Textwelt und realer Welt steht und das Bild eines Urhebers zeichnet, das indexikalisch auf den Autor verweist, jedoch keine Schlüsse auf diesen erlaubt.

Die Motivauswahl folgt Genettes Konzept eines ‚offenen Strukturalismus‘ (vgl.

Genette 2007: 423f.), was bedeutet, dass sie in enger Bezugnahme auf das Textmate-rial getroffen wird. Bestehende Typologien aus den genannten Referenzdisziplinen, prototypische Wahrnehmungen und Emotionen sowie etablierte Weltbilder im Um-feld und außerhalb des Schaffenskontextes bilden lediglich einen Anhaltspunkt und werden an den empirischen Bedarf adaptiert. Weder für die im Theorieteil präsentierten Konzepte noch für die Auswahl der in die Analyse aufgenommenen Ausprägungen wird ein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben, die ein offener

Strukturalismus auch gar nicht anstrebt. Die gewählten Kategorien versprechen dennoch sowohl für die Analyse textimmanenter Wahrnehmung an sich als auch für deren Vorliegen in Gazdanovs Werk repräsentative Ergebnisse und eröffnen Anknüpfungspunkte für die Rekonstruktion von Wechselbezügen zwischen Welt- und Menschenbild, Gefühlsempfinden und Wahrnehmung.

Im Dokument Herausgegeben von Wolf Schmid (Seite 23-26)