• Keine Ergebnisse gefunden

Objektbeziehung und Archetypen: Jungs Anima und Lacans objet aund Lacans objet a

Im Dokument Herausgegeben von Wolf Schmid (Seite 128-140)

Wahrnehmung im Weltbild literarischer Texte

II. Ontologische Ausgangspunkte: Sinne und Emotionen als Kategorie des Selbst- und Emotionen als Kategorie des Selbst- und

2.  Wahrnehmung als Schnittstelle zur Innenwelt

2.3  Objektbeziehung und Archetypen: Jungs Anima und Lacans objet aund Lacans objet a

Angesichts der genuin als Auseinandersetzung mit dem Selbst angelegten Spie-gelmotive stellt sich die Frage nach Modellen, die den hier ausstehenden Bezug zu Instanzen außerhalb des Ich behandeln. Wie bereits im Kapitel zur Überwindung des Solipsismus und der Annahme äußerer Bezugspersonen als Basis der Gefühlsent-wicklung thematisiert wurde, sind Gesprächspartner nicht nur als Interaktionspart-ner von Bedeutung. Sie bilden auch eine entwicklungspsychologische Grundlage für die Selbstkonstanz des Subjekts.

Um für sich als Subjekt konstant und gegenwärtig zu sein, benötigt das Selbst ein an-deres (objektives) Subjekt, das seine Selbstidentität garantiert. Daher ist der ‚Gebrauch‘

des anderen als Subjekt […], die Grundlage dafür, dass sich das Subjekt als in Zeit, Raum und über verschiedene Interaktionssituationen hinweg über seine innere Selbstgegen-wart hinaus als auch objektiv mit sich identisch verstehen kann. (Fischer 2014: 651) Bei Freud sind ‚Objekte‘ insbesondere in der Triebtheorie von Bedeutung und be-zeichnen jene Instanz, die vom Subjekt als Bezugspunkt angestrebt wird.

Das Objekt des Triebes ist dasjenige, an welchem und durch welches der Trieb sein Ziel erreichen kann […]. (Freud 1915: 215)

Bereits Freud weist auf die Relevanz der Fantasie hin, der er als innerer Realität dieselbe Bedeutung beimisst wie der äußeren; ‚Objektbeziehungen‘ betreffen im psychoanalytischen Kontext stärker diese Innenperspektive. Sie werden daher viel-fach als ‚innere Repräsentation‘ einer Beziehung verstanden oder als ‚Projektion‘

innerer Vorstellungen auf Personen im Umfeld.

Der Begriff Objekt benennt […] die durch unbewusste Motive eingeschränkten Bezie-hungen von Personen oder Subjekten zu sich selbst und zueinander. Werden nämlich die unbewussten Determinanten oder Modalitäten der Objektbeziehungen, die hinter den Beziehungen der Subjekte liegen, d.h. der Objektcharakter dieser Beziehungen, erkannt und benannt, kann dies dazu verhelfen, die (inter)subjektive Freiheit, ‚sich so oder anders zu entscheiden‘ (Freud 1923: 280) zu vergrößern. (Hinz 2014: 643)

Die größte Aufmerksamkeit erhält der Objektbegriff im Rahmen der Wahl des ‚Lie-besobjekts‘. Welche Instanz für die Triebbefriedigung ‚geeignet‘ ist, hängt nicht von objektiven Kriterien ab, sondern von der subjektiven Einschätzung des Sub-jekts, die unbewusst, etwa auf Basis von Analogien zu früheren Beziehungen, zu-stande kommt. Freud unterscheidet hinsichtlich der Objektwahl zwei Haupttypen:

den anaklitischen, der den/die PartnerIn nach dem Vorbild primärer Liebesobjekte gleichsam als Elternersatz (am Über-Ich orientiert) wählt, und den narzisstischen, der in dem/der PartnerIn die Bestätigung und Ergänzung der eigenen Persönlichkeit sucht.83 Beide Extreme stehen der Entfaltung einer erwachsenen Persönlichkeit im Wege, weshalb es sie zu überwinden gelte.84 (vgl. Kreische 2014: 653–655)

Carl Gustav Jung und Jacques Lacan bauen in ihren Modellen über den Be-zug des Subjekts zu seinem Liebesobjekt auf Freuds Arbeiten auf und nehmen zu-gleich jeweils eine kritische Abgrenzung zu diesen vor. Eine für beide wichtige, von Freud postulierte Grundlage besteht in der ontologischen Festlegung, dass die untersuchten Bezüge sich auf die innere Gedankenwelt beziehen. Bereits Freud wählt für ausgewählte Objekte (wie das Über-Ich) eine personifiziert-anschauliche Begrifflichkeit. Eine konkretere Symbolik für die Bezugsobjekte verwendet Jung mit seinen Archetypen. Ein wichtiger Punkt seiner Abgrenzung gegenüber Freud betrifft dessen starken Fokus auf der Sexualität, die Jung nicht als Ursache psychischer Erkrankungen annimmt, sondern als Teil von deren Symptomatik. Für ursächlich hält er dagegen Disharmonien auf der Ebene allgemeinerer Konzepte, nämlich der Archetypen. (vgl. Jung 1934: 39)

In doppelter Systematik versucht er einerseits, ausgehend von archaischen Sym-bolen, Instanzen des kollektiven Unbewussten zu isolieren, während er zugleich, insbesondere im Kontext der Traumdeutung, darauf hinweist, dass Symbole für 83 Dazu ausführlich siehe: Freud 1914.

84 Zahlreiche weiterführende Auseinandersetzungen mit diesen Objekttypen versuchen deren Differenzierung, siehe etwa: König 1988; Klein 1983; Willi 1975; Dicks 1967.

jeden Menschen individuell vorliegen und so auch zu deuten seien. Eine zentrale archaische Repräsentation seiner Untersuchung bildet die Anima85 (mit dem Animus als männlichem Pendant) als weiblicher Seelenanteil männlicher Personen, dem Jung Einfluss auf die Objektwahl zuschreibt. Er begründet diesen Archetypus durch charakteristische erotisch aufgeladene Repräsentantinnen männlichen Begehrens in Mythen und Sagen, welche die Anima als ambivalente Instanz kennzeichnen.

Ihre große Anziehungskraft animiert zum irrationalen Handeln, was konstruktive Spontaneität ebenso umfassen kann wie destruktive Selbstschädigung.

Eine unheimliche Huldin von anno dazumal heißt heute ‚erotische Phantasie‘, welche unser Seelenleben in peinlicher Weise kompliziert. Sie begegnet uns zwar nicht weniger als eine Nixe; sie ist obendrein wie ein Sukkubus; sie verwandelt sich in vielerlei Ge-stalten wie eine Hexe und zeigt überhaupt eine unerträgliche Selbstständigkeit, die einem psychischen Inhalt von Rechts wegen nicht zukäme. Gelegentlich verursacht sie Faszinationen, die es mit der besten Behexung aufnehmen können, oder Angstzustände, die sich von keiner Teufelserscheinung übertrumpfen lassen. Sie ist ein neckisches Wesen, das […] unselige Täuschungen, Depressionen und Ekstasen, unbeherrschte Affekte und so weiter verursacht. […] ‚Anima‘ heißt doch Seele und bezeichnet etwas sehr Wunderbares und Unsterbliches. Dem war aber nicht immer so. Man darf nicht vergessen, dass diese Art Seele eine dogmatische Vorstellung ist, welche den Zweck hat, etwas unheimlich Selbsttätiges und Lebendiges zu bannen und einzufangen. (Jung 1934: 34)

Was von archaischen Texten abgeleitet eine verallgemeinernde Darstellung erlaubt, versteht Jung im individuellen Kontext als durch Persönlichkeit und wichtige Le-benserfahrungen geprägt. Im persönlichen Erleben erscheint die Anima meist als Projektion auf eine oder mehrere reale Frauen, die jene unkontrollierte Faszination auslösen und häufig einem bestimmten Typus entsprechen. Die Anima ist daher individuell variabel und kann zudem im Verlauf des Lebens Aussehen und Eigen-schaften ändern. Daher werden an ihr auch potenziell symptomatische Anzeichen deutlich, die eine Erklärung für psychische Erkrankungen bieten. Die ihr von Jung zugemessene Bedeutung beschränkt sich jedoch keineswegs auf diesen klinischen Kontext, da er die Anima als allegorische Instanz versteht, die Erkenntnisgewinn über das Selbst sowie dessen Handlungsmotive und Entwicklungspotenziale erlaubt.

Archetypen sind Erlebniskomplexe, die schicksalsmächtig eintreten, und zwar beginnt ihr Wirken in unserem persönlichsten Leben. Die Anima tritt uns nicht mehr als Göttin entgegen, sondern unter Umständen als unser allerpersönlichstes Missverständnis, oder unser bestes Wagnis. […] Sie ist zwar chaotischer Lebensdrang, aber daneben haftet ihr ein seltsam Bedeutendes an, etwas wie geheimes Wissen oder verborgene 85 In dieses Konzept ließen sich auch die von Aleida Assmann beschriebenen

„Frauen-bilder im Männergedächtnis“ einordnen. (vgl. Assmann 229–249) Assmann über-nimmt den Begriff der Archetypen von Charles Lamb (vgl. ebd. 228; Lamb 1838:

80–85), ohne Bezüge zu Jungs psychoanalytischem Ansatz herzustellen.

Weisheit […]. Gerade das zunächst Unerwartete, das beängstigend Chaotische, enthüllt tiefen Sinn. Und je mehr dieser Sinn erkannt wird, desto mehr verliert die Anima ihren drängerischen und zwängerischen Charakter. Es entstehen Dämme gegen die Flut des Chaos; denn das Sinnvolle scheidet sich vom Sinnlosen […]. (Jung 1934: 40f.)

Nicht immer ist die Anima als weiblicher Seelenanteil männlicher Personen re-präsentiert und insbesondere im Herausbildungsprozess der erwachsenen Identität tritt sie zwischenzeitlich in den Hintergrund. Ihre zuvor erwähnten Funktionen als vitale Kraft und als Medium der Selbsterkenntnis sind jedoch der Grund dafür, dass Jung dieser Instanz besondere Bedeutung zuschreibt.

Nach der Lebensmitte hingegen bedeutet dauernder Animaverlust eine zunehmende Einbuße an Lebendigkeit, Flexibilität und Menschlichkeit. Es entsteht in der Regel früh-zeitige Erstarrung, wenn nicht Verkalkung, Stereotypie, fanatische Einseitigkeit, Eigen-sinnigkeit, Prinzipienreiterei oder das Gegenteil: Resignation, Müdigkeit, Schlamperei, Unverantwortlichkeit und schließlich ein kindisches ‚ramollissement‘ mit Neigung zum Alkohol. (Jung 1936b: 92f.)

Für das gegenteilige Extrem, eine Identifikation mit der Anima, die Jung besonders bei Künstlern feststellt, beschreibt er Zusammenhänge mit Homosexualität, die häufig auch mit einer mangelnden Lösung von der Anima-Faszination durch die Mutter in Verbindung stehe sowie mit der Weigerung, sich für eine einseitige Ge-schlechtsidentität zu entscheiden. (vgl. ebd.)

Als personifizierte Instanz eignet sich die Anima in der therapeutischen Be-handlung für innere Zwiegespräche mit dem eigenen ‚guten Engel‘. Jung beruft sich hier auf eine schamanische Tradition. (vgl. Jung 1934: 53) Dieselbe Art der Selbstreflexion bildet zugleich die Grundlage für die entwicklungspsychologischen Ansätze von Piaget und Vygotskij sowie für die daran anschließenden kulturphi-losophischen Konzepte von Bachtin und Lotman. (vgl. Kap. II.2.1) Die Anima ist nur einer von vielen möglichen Archetypen, die, teilweise subjektspezifisch und zumeist unbewusst, den Individuationsprozess entscheidend mitbestimmen.86 Etwa Jungs Studien zu Mutter- und Kindarchetypus87 widmen sich ebenfalls zentralen Objektbeziehungen und ergänzen die klassischen bindungstheoretischen Ansätze88 der Entwicklungspsychologie. Zwei weitere Archetypen, die er selbst besonders hervorhebt, sind der ‚Schatten‘, die ‚dunkle‘ Seite der eigenen Persönlichkeit, die häufig verdrängt wird und üblicherweise durch die soziale Anpassung verborgen liegt, sowie der ‚alte Weise‘, der überlegene Lehrer und Archetypus des Geistes.

[D]er Schatten, die Anima und der alte Weise sind solche [Archetypen], die in der unmittelbaren Erfahrung personifiziert auftreten. […] Das pathologische Element liegt nicht in der Existenz dieser Vorstellungen, sondern in der Dissoziation des

86 Dazu ausführlich siehe: Jung 1936a und Jung 1951.

87 Dazu ausführlich siehe: Jung 1938 und Jung 1940.

88 Dazu ausführlich siehe: Ainsworth 2015; Grossmann 2011; Bowlby 1975.

Bewusstseins, welches das Unbewusste nicht mehr beherrschen kann. In allen Fällen von Dissoziation erhebt sich deshalb die Notwendigkeit der Integration des Unbe-wussten ins Bewusstsein. Es handelt sich um einen synthetischen Vorgang, den ich als ‚Individuationsprozess‘ bezeichnet habe. (Jung 1934: 49–52)

Die Archetypen symbolisieren tief im Individuum verwurzelte Persönlichkeits-aspekte und sind daher immer dem Subjekt zuzuordnen, selbst wenn sie ihm in Traum oder Realität in personifiziert ausgelagerter Form erscheinen. Ihre Integrati-on in die Persönlichkeit bildet eine wichtige Grundlage, um destruktive Triebmotive zu vermeiden und konstruktive Lösungsansätze aus dem Inneren wahrzunehmen.

Durch diese Bewusstmachung kann etwa die stabilitätsgefährdende Seite der Anima erkannt und zugleich ihre Lebensenergie aufgenommen werden. Ein Repräsentant der Weisheit kann unerwartete Lösungen aufzeigen, deren Redlichkeit es in der bewussten Reflexion zu prüfen gilt. Die sich, mitunter an das Spiegelmotiv ge-koppelt, plötzlich zeigende verdrängte Schattenseite der eigenen Persönlichkeit kann nicht vollständig überwunden, jedoch in bewusster Form besser kontrolliert werden. Dasselbe gilt für im Mutter- oder Kindarchetypus verankerte Beziehungs-modalitäten, die, wie auch in Freuds Modell angenommen, oft langfristig beibe-halten und auf Partnerschaften übertragen werden. In diesem Sinne begreift Jung Archetypen als Motive der Wandlung, die symbolsprachlich zentrale bevorstehende Entscheidungen reflektieren.

Jacques Lacans strukturalistischer Zugang steht dem Freud’schen Vorbild näher, wobei Lacan sich stärker für strukturelle Bezüge interessiert als für die von Jung untersuchten konkret anschaulichen Eigenschaften des Objekts. Das Verhältnis der beiden Ansätze scheint ähnlich gelagert wie im literaturwissenschaftlichen Kontext jenes zwischen Propps Analyse der Handlungsträger und Greimas’ Aktantenmodell.

Erstere projiziert die Gesamthandlung auf einzelne Figuren, Zweiteres auf die Bezü-ge zwischen den Figuren. (vgl. Kap. I.2.1) Der Anima in Jungs Analyse entspricht in Lacans Modell daher das ‚Begehren des objet a (wie er das Liebesobjekt bezeichnet) durch das Subjekt (S)‘.

[L]‘homme ne peut même plus se soutenir dans la position de Narcisse. L’anima, comme par l’effet d’un élastique, se rapplique sur l’animus et l’animus sur l’animal, lequel entre S et a soutient avec son Umwelt des ‚relations extérieures‘ sensiblement plus serrées que les nôtres […]. (Lacan 1955–56: 551)

Zum Narziss-Mythos zurückgehend, leitet Lacan das ‚Begehren‘ von Hegels ‚Be-gierde‘ (vgl. Lacan 1960a: 802) und zugleich von Freuds ‚Wunsch‘ in der Trieb-theorie ab. Er erklärt die Relation zum objet a daher ebenfalls als externalisierte selbstreflexive Beziehung. Das begehrte Objekt entziehe sich der in der Linguistik angenommenen Beziehung zu einem Bezeichneten über ein Bezeichnendes, die hier umgekehrt werde, da das objet a erst durch das Begehren zu diesem werde und, wie Jungs Anima, durch Projektionen des Selbst geprägt sei.

[L]e signifiant a function active dans la determination des effets où le signifiable ap-paraît comme subissant sa marque, en devenant par cette passion le signifié. (Lacan 1958: 688)

Lacan versteht das Begehren zugleich als vitale Funktion, was er an psychischen Er-krankungen veranschaulicht, die darauf beruhen, dass dieser für das zielorientierte Handeln notwendige Bezug außer Kontrolle gerät. Unterschiedliche Dysfunktionen des Begehrens führen demnach etwa zu den zwanghaften Wiederholungshand-lungen von Neurotikern, welche die Wunscherfüllung zugleich unbewusst selbst unterdrücken, bei Hysterie durch Unterdrückung der Wunschhandlung und bei Obsessionen durch das Streben nach unerfüllbaren Wünschen.

Nous ramenons l’attention au désir, dont on oublie que bien plus authentiquement qu’aucune quête d’idéal, c’est lui qui règle la répétition signifiante du névrosé comme sa métonymie. [I]l lui faut soutenir ce désir comme insatisfait (et c’est l’hystérique), comme impossible (et c’est l’obsessionnel). (Lacan 1960b: 682)

Lacans Abgrenzung gegenüber Freud setzt daran an, dass dieser den Traum in der Traumdeutung (1900) (vgl. Freud 2009: 136–146) als kompensatorische Realität anerkennt, in der unerfüllbare Wünsche kompensatorisch erfüllt werden. Im Ge-gensatz dazu versteht Lacan die Wunscherfüllung als realitätsgebunden. In seiner Interpretation vermögen Phantasmen das Begehren jedoch nicht zu stillen, sondern lassen die unbefriedigende Differenz zwischen Subjekt und Objekt nur noch stärker empfinden.

[L]e désir rencontre aux limites que lui impose le principe dit ironiquement du plaisir, pour être renvoyé à une réalité qui, elle, on peut le dire, n’est ici que champ de la praxis.

C’est de ce champ justement que le freudisme coupe un désir dont le principe se trouve essentiellement dans des impossibilités. (Lacan 1964: 851f.)

Ceci pour la raison que la pulsion divise le sujet et le désir, lequel désir ne se soutient que du rapport qu’il méconnaît, de cette division à un object qui la cause. Telle est la structure du fantasme. (ebd. 853)

Auch Autismus oder die Angst vor Nähe haben Auswirkungen auf das Begehren, das in diesen Fällen mitunter ausbleibt. Ebenso charakteristisch sind regelmäßige Wechsel des objet a kurz nach dessen Erreichen im Sinne einer Vermeidung allzu großer Nähe oder die Anpassung an eine Partnerschaft, für deren Realisierung Lebensformen mit regelmäßigen längeren räumlichen Abständen zum Partner ge-sucht werden.89 (vgl. Kap. III.2.4)

Die Verbindung zwischen Jungs Typologie und Lacans strukturalistischem Modell liegt darin, dass sowohl zur Anima als auch zum objet a eine emotional aufgeladene Beziehung aufgebaut wird, die einen starken Handlungsantrieb für das Subjekt bedeutet. Die vorliegende Arbeit orientiert sich verstärkt an den im 89 Dazu ausführlich siehe: Fromm 2015: 19, 67; Schmidbauer 2014: 47, 107; 2013: 27–34.

Textmaterial festzustellenden autorspezifischen Archetypen, die ebenfalls als Motive der Wandlung verstanden werden und daher Relationen implizieren. Dies bedeutet eine Anschlussmöglichkeit für den strukturalistischen Blickwinkel Lacans, Freuds Triebtheorie und weitere psychologische Modelle zur Objektbeziehung, die dieses Spektrum ergänzen. Archetypen und andere Darstellungen von Objektbeziehungen können insbesondere über Bereiche Aufschluss geben wie Handlungsantriebe, Ge-fühlsspezifika, angestrebte und abgelehnte Beziehungsmuster, Selbstwahrnehmung sowie psychische Verfassungen.

2.4  Präsenzerfahrung: Subjektive Brennpunkte und effet de réel Mit der Phänomenologie des beginnenden 20. Jh. werden gleichförmige Sinnesein-drücke als einzig zugängliche Realität akzeptiert. Die Frage nach der Realität des Wahrgenommenen tritt daher in den Hintergrund, während sich zugleich das In-teresse für Segmentierungsprinzipien und Selektion innerhalb dieser Flut an Eindrü-cken verstärkt. Eine wichtige Kategorie bildet hierfür das bereits in Zusammenhang mit Martin Buber erwähnte Moment der ‚Beziehung‘, das nicht auf die Relation zwischen Individuen zu reduzieren ist, sondern etwa in Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen (1929) als Schnittstelle zwischen allgemeinem Inhalt und individueller Erscheinung beschrieben wird.

Unter ‚symbolischer Prägnanz‘ soll also die Art verstanden werden, in der ein Wahr-nehmungserlebnis, ein ‚sinnliches‘ Erlebnis, zugleich einen bestimmten nicht-anschau-lichen ‚Sinn‘ in sich faßt und ihn zur unmittelbaren konkreten Darstellung bringt. In ihrer vollen Aktualität, in ihrer Ganzheit und Lebendigkeit, ist sie [die Wahrnehmung]

zugleich ein Leben ‚im‘ Sinn. […] Diese ideelle Verwobenheit, diese Bezogenheit des einzelnen, hier und jetzt gegebenen Wahrnehmungsphänomen auf ein charakteris-tisches Sinnganzes, soll der Ausdruck der ‚Prägnanz‘ bezeichnen. Der symbolische Prozeß ist ein einheitlicher Lebens- und Gedankenstrom, der das Bewußtsein durch-flutet und der in dieser seiner strömenden Bewegtheit erst die Vielfältigkeit und den Zusammenhang des Bewußtseins, erst seine Fülle wie seine Kontinuität und Konstanz zuwege bringt. Von einer neuen Seite her zeigt somit dieser Prozeß, wie die Analysis des Bewußtseins niemals auf ‚absolute‘ Elemente zurückführen kann […], weil die reine Beziehung es ist, die den Aufbau des Bewußtseins beherrscht und die in ihm als echtes

‚Apriori‘, als wesensmäßig Erstes, hervortritt. (Cassirer 2010: 231)

Während Cassirer sein an Leibniz orientiertes ganzheitliches Weltbild auf mathe-matische und physikalische Systematik stützt, beruft er sich für das in der sym-bolischen Prägnanz hergestellte Präsenzerleben auf die zeitgenössische Psychologie.

In Allgemeine Psychologie nach kritischer Methode (1912), das auch von Bachtin rezipiert wurde (vgl. Bočarov 1996: 464) und mit dessen Arbeiten zum Spiegel in Verbindung steht, bezeichnet Paul Natorp die Selektionsgrundlage des Bewusst-seins ebenfalls als ‚Beziehung‘ und beschreibt sie als auf subjektiver Bedeutsamkeit beruhende Abstraktionsprozesse. (vgl. Natorp 1912: 56)

Ein enges Ineinandergreifen von Philosophie und Psychologie im Bereich der Phänomenologie zeigt sich auch zwischen Lacans Psychoanalyse und der existen-zialistischen Philosophie. In Abgrenzung zu Freud und anderen materialistisch ori-entierten Grundlagen erklärt Lacan in Au-delà du ‚Principe de réalité‘ (1936) jene rein subjektive Welt der individuellen Wahrnehmung, die er als das ‚Reale‘ bezeichnet, für absolut. Alle Bezugspunkte des Subjekts bewegen sich im Prisma dieser sub-jektiven Realität, wo dessen Affekte allein entscheidend sind für die Segmentierung des Weltbilds nach individuell relevanten Bezugspunkten wie etwa dem objet a.

Diesen Ansatz auf die Kulturanalyse ausweitend, stellt Lacan die Verbindung zu einem existenzialistisch geprägten Alltagserleben her.

[L]‘existentialisme […] donne des impasses subjectives […]: une liberté qui ne s’affirme jamais si authentique que dans les murs d’une prison, une exigence d’engagement ou s’exprime l’impuissance de la pure conscience à surmonter aucune situation, une idéalisation voyeriste-sadique du rapport sexuel, une personnalité qui ne se réalise que dans le suicide, une conscience de l’autre qui ne se satisfait que par le meurtre hégélien. (Lacan 1949: 99)

Die für den Existenzialismus typische ungewollte Freiheit kann nur in Grenzer-fahrungen aufgebrochen werden. Der Drang nach Gefängnis, Machtlosigkeit, ge-waltbehafteter Sexualität, Selbstmord und Aggression gegen das Selbst im anderen reflektieren das Lebensgefühl fehlender Realitätserfahrung. Diese Auswahl destruk-tiver Motive ist neben Hegel möglicherweise durch Martin Heideggers Sein und Zeit (1927) beeinflusst, wo dieser den Tod als Orientierungspunkt des Seins verhandelt, sowie durch Sartres L’être et le néant (1943), da hier Voyeurismus und sexuelle Ent-grenzung thematisiert werden. Zudem erscheinen die Topoi literarisch inspiriert, nämlich von Albert Camus’ L‘Étranger und Le Mythe de Sisyphe (1942). Im ersten Fall durchlebt der Protagonist emotional gänzlich unbeteiligt die Grenzerfahrungen von Gefängnis90, Verurteilung und Machtlosigkeit, im zweiten setzt er sich mit Selbst-mordgedanken auseinander. Lacan formuliert die zuvor zitierten Überlegungen in seinem Artikel über das Spiegelstadium, das er ebenfalls als Grenzerfahrung cha-rakterisiert. (vgl. Kap. II.2.2) Wichtiger als Gewalt und Gefahr scheint in diesen Bei-spielen die Suche nach den im Existenzialismus abhanden gekommenen Gefühlen zu sein, die jene Extremsituationen in Form eines physischen oder psychischen Schmerzes zu erzeugen vermögen. Durch Gefühlswahrnehmung hervorgerufene in-tensive Präsenzerfahrungen bilden ebenfalls ein mögliches Segmentierungsprinzip, das in der phänomenologischen Welt die Wahrnehmung bündelt.

Das Selektionsprinzip subjektiver Brennpunkte lässt sich anhand des von Roland Barthes in La chambre claire (1980) für die Analyse von Fotografien verwendeten Begriffs des punctum noch deutlicher spezifizieren. Mit diesem bezeichnet Barthes jenes Moment, das sich in ausgewählten Fotos vom allgemeinen Bildinhalt (dem 90 Das Gefängnis wird außerdem später in Des espaces autres (1967) von Michel Foucault

zur Veranschaulichung von Nicht-Orten genannt.

studium) abhebt und den Betrachter heftig berührt. In den Beispielen ist diese

studium) abhebt und den Betrachter heftig berührt. In den Beispielen ist diese

Im Dokument Herausgegeben von Wolf Schmid (Seite 128-140)