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Gefühle als Handlungsantrieb: Charaktertypologien und psychische Störungenund psychische Störungenund psychische Störungen

Im Dokument Herausgegeben von Wolf Schmid (Seite 191-200)

Sinneswahrnehmung und Emotion zwischen Subjekt und Weltbild

2.  Motive von Gefühl und Nicht-Gefühl

2.2  Gefühle als Handlungsantrieb: Charaktertypologien und psychische Störungenund psychische Störungenund psychische Störungen

Wie bereits an Platons Gleichnis über den Seelenwagen deutlich wurde, werden Gefühle bereits in der Antike als Handlungsantriebe verstanden. Ähnliche Konzepte entwickeln sich in der hippokratischen Humoralpathologie etwa zeitgleich aus medizinischer Perspektive und werden in Galens Weiterführung noch stärker mit Platons philosophischen Kategorien verbunden. Lange Zeit, d.h. noch im Mittelalter, waren diese Theorien sehr einflussreich und bildeten, sozusagen als Psychologie jener Zeit, die Grundlage für die Temperamentenlehre.

Galens These […] besteht darin, dass Vernunft, Mut und Begehren verschiedene un-abhängige Quellen der Motivation sind, die den drei großen organischen Systemen, die auf Gehirn, Herz und Leber basieren, entsprechen. Galen legt […] großen Wert auf Platons Argumente […] die davon handeln, dass Vernunft, Mut und Begehren unabhängige Motivationsquellen sind, die potenziell miteinander in Konflikt stehen können. (Gill 2012: 112f.)

In der Temperamentenlehre werden die auf Körperflüssigkeiten zurückgeführten Antriebe nicht als konkurrierend beschrieben, sondern als Begründung für Charak-tertypen herangezogen: den fröhlichen, ausgeglichenen, aktiven Sanguiniker (der bei Hippokrates als einfältig und dumm galt), den lieblosen, gereizten Choleriker (bei Hippokrates scharfsinnig und intelligent), den ängstlichen, schüchternen und deprimierten Melancholiker (bei Hippokrates beständig und charakterfest) und den passiven, schwerfälligen Phlegmatiker (dem Hippokrates keine Persönlich-keitseigenschaft zuschreibt). (vgl. ebd. 106) Genussstreben, Wut, Melancholie und reduziertes Gefühlserleben werden so als diesem Modell zugrundeliegende Gefühls-antriebe erkennbar. Wie für Typologien üblich, werden anhand dieser Charaktere Extremvarianten skizziert, die in unterschiedlicher Kombination und Stärke vorlie-gen können. Solche Konzeptualisierunvorlie-gen finden insbesondere in der literarischen Tradition ihren Niederschlag.

Ebenfalls seit der Antike werden weitaus detailreichere literarische Charakter-typologien entworfen, um Verhaltensweisen und deren emotionale Hintergrün-de zu beschreiben. La Bruyère übersetzt im 17. Jh. Theophrasts Charakterlehre (4.-3. Jh. v. Chr.) aus dem Griechischen (Les Charactères de Théophraste), in der dieser Typen, wie u.a. den ‚Geizigen‘, den ‚Schmeichler‘ und den ‚Aufschneider‘

skizziert. Mit seiner noch umfangreicheren eigenen Typologie Les Charactères (1688–1694) schließt La Bruyère dem eine Fortsetzung an, in der er sowohl auf die literarische Tradition und berühmte Figuren von Autoren wie Ronsard, Racine, Balzac u.a. eingeht, als auch, mit gesellschaftskritischem Blick, auf Lebensumstände und Institutionen (z.B. auf das ‚Vermögen‘, die ‚Stadt‘ und den ‚Hof‘), auf die er gewisse Verhaltensweisen zurückführt. (vgl. Bruyère 1951) Implizit sind solche Charakterportraits außerdem in den groß angelegten Gesellschaftspanoramen der französischen Realisten des 19. Jh. – wie Honoré de Balzacs Comédie humaine und

Émile Zolas Rougeons-Macquarts – zentral, wo Handlungen ebenfalls sehr konkret durch Charakterzüge und die Gegebenheiten spezifischer Milieus motiviert sind.

Aus heutiger Perspektive werden Emotionen besonders im psychoanalytischen und psychopathologischen Bereich als Handlungsantriebe beleuchtet. Mit ähnlicher Logik wie früher in der Humoralpathologie liegt hier der Fokus auf den Gründen für das Verfehlen von Handlungen. Manie, Depression und Neurose können beispielhaft illustrieren, wie unterschiedliche Formen emotionalen Ungleichgewichts zur Hand-lungsunfähigkeit führen. Eine zu hohe positive Aktivierung kann diese nämlich ebenso auslösen wie innere Stagnation oder irrationale Ängste. Manie, definiert als

„gehobene Stimmung“ und „Steigerung in Ausmaß und Geschwindigkeit der körper-lichen und psychischen Aktivität“ (ICD-10 2015: 160) wird häufig nur dann erkannt, wenn sie als bipolare affektive Störung in Kombination mit depressiven Episoden auftritt. Dass es sich bei ihr dennoch auch per se um eine klassifizierte Störung handelt, hat vermutlich ähnliche Gründe wie die ursprüngliche Interpretation der

‚sanguinischen‘ Heiterkeit als Einfalt.

Die Stimmung ist situationsinadäquat gehoben und kann zwischen sorgloser Heiter-keit und fast unkontollierbarer Erregung schwanken. Die gehobene Stimmung ist mit vermehrtem Antrieb verbunden und führt zu Überaktivität, Rededrang und vermin-derte[m] Schlafbedürfnis. Übliche soziale Hemmungen gehen verloren, die Aufmerk-samkeit kann nicht mehr aufrechterhalten werden, stattdessen kommt es oft zu starker Ablenkbarkeit. Die Selbsteinschätzung ist aufgeblasen […]. Die betreffende Person kann überspannte und undurchführbare Projekte beginnen […] oder bei völlig un-passender Gelegenheit aggressiv, verliebt oder scherzhaft werden. (ebd. 162)

Obwohl der konstruktive Antrieb im Fall der Manie gegeben ist, verfehlen die Hand-lungen aufgrund dieser Übererregtheit die Realität.

Wenn die Manie mit dem Sanguiniker in Verbindung gebracht wird, so scheinen sowohl Depression als auch Neurose am ehesten dem Melancholiker zuordenbar.

Die Auseinandersetzung mit Melancholie als psychischer Störung reicht in die Anti-ke zurück, wo sie, in Opposition zu psychotischem Realitätsverlust, ein ähnlich weit gefasstes Spektrum emotionalen Leidens bezeichnet.

[V]on den hippokratischen Schriften an [werden] hauptsächlich zwei Arten von psy-chischen Störungen anerkannt, Phrenitis, ein akuter Zustand, der durch Delirium und Halluzinationen gekennzeichnet ist, und Melancholie, ein instabiler und chronischer Zustand. (Gill 2012: 115)

Die Betrachtung von Depression und Angst als Spektrum mit fließenden Über-gängen entspricht den heutigen Standards, da bei Depression neben Trauer auch Angst eine Teilkomponente darstellt und Antriebslosigkeit für beide Störungen zu den typischen Symptomen zählt. (vgl. Kap. III.2.1.2) Historisch setzen außerdem Freuds Studien zur Depression an seinen früheren Arbeiten zur Melancholie an, wobei er diesbezüglich keine klare Abgrenzung vornimmt. (vgl. Will 2014: 163)

Die biologische Psychologie stellt Depression in den Kontext ‚erlernter Hilflosig-keit‘ und vergleicht sie mit dem Ausbleiben angemessener Abwehrmechanismen aufgrund von dauerhaft erfolglosen Verteidigungsversuchen. Das Individuum at-tribuiert dabei die Möglichkeit, die eigene Situation zu verbessern, nicht mehr auf sich selbst.

Entscheidend für die Intensität und Dauer von Depressionen sind die Ergebnisse der sozialen und kognitiven Bewältigungsversuche des Verlusterlebnisses. Personen die nach Bindungsverlust keine ausreichend wirksamen Defensivverhaltensweisen […] ent-wickeln, zeigen später stabile Erwartungshaltungen, dass sich die Verlustereignisse in Zukunft wiederholen. Diese Erwartungen sind in der Regel nicht bewusst, sondern wirken aus dem Langzeitgedächtnis ohne Mitwirkung des Bewusstseins auf die Einord-nung und Speicherung neuer Informationen. (vgl. Birbaumer 2010: 733)

Offensichtliche Zusammenhänge zwischen Depression und generalisierter Angst liegen auch darin vor, dass beide durch Überbelastung ausgelöst werden können.

(vgl. ICD-10 2015: 190)

Die neurotischen, Belastungs- und somatoformen Störungen wurden wegen des his-torischen Zusammenhangs mit dem Neurosenkonzept und wegen des beträchtlichen, wenn auch unklaren Anteils psychischer Verursachung in einem großen Kapitel zu-sammengefasst. […] Mischbilder von Symptomen, so am häufigsten das gemeinsame Vorkommen von Depression und Angst, findet man besonders bei den leichteren Formen dieser Störungen in der Primärversorgung. (ebd.)

Während Depression und Angst die Handlungsfähigkeit global einschränken, können innerpsychologische Entscheidungskonflikte Ähnliches in spezifischeren Kontexten bewirken. Wie mit Platon und Galen bereits erwähnt, werden solche Konstellationen seit der Antike diskutiert. Die Opposition von Vernunft und Be-gierde steht bei diesen Autoren, wie auch bei Aristoteles, im Zentrum.

Da die Strebungen einander entgegen gesetzt sein können, was dann der Fall ist, wenn bei Wesen, die eine Zeitwahrnehmung haben, Vernunft und Begierde einander wider-streiten (denn der Geist befiehlt mit Rücksicht auf zukünftige Folgen sich zurück-zuhalten, die Begierde aber im Hinblick auf das Jetzt das Gegenteil; […] weil sie auf die Zukunft keine Rücksicht nimmt) […]. (Aristoteles 2015: 171)

In der Differenziellen Psychologie bilden heute andere Kriterien die Grundlage für die Unterscheidung dreier Typen. Werden zwei unvereinbare Handlungen zugleich angestrebt, bezeichnet man dies als Annäherungs-Annäherungs-Konflikt. Bei zwei ungewollten Möglichkeiten spricht man von einem Vermeidungs-Vermeidungs-Konflikt. Ein Annäherungs-Vermeidungs-Konflikt liegt vor, wenn dieselbe Handlung sowohl angestrebt als auch vermieden wird, da sie zugleich positive und negative Effekte verspricht. Alle drei Konstellationen schränken die Handlungsfähigkeit des Subjekts ein. (vgl. Maltby 2011: 159f.)

Wie stark psychische Verfassungen die Realitätswahrnehmung und damit das Handeln beeinflussen, zeigen jedoch gerade die Konstellationen emotionalen Un-gleichgewichts. Im Endstadium können nämlich Manie, Depression und Angst-störungen gleichermaßen einen psychotischen Realitätsverlust bewirken und so zu längerfristiger Handlungsunfähigkeit führen. Dementsprechend zeigt die seit der Antike vorliegende Beschäftigung mit emotionalen und wahrnehmungsspezifischen Störungen gerade in diesen Akutzuständen eine Schnittstelle, in der Emotionen und Sinneswahrnehmung ineinandergreifen.

2.3  Trauma

In den Kapiteln zu den Sinnen wurden bereits einige psychosomatische Erkran-kungen erwähnt. Es handelt sich um Stressreaktionen, die auf eine anhaltende oder schwerwiegende Belastungssituation folgen können. Die Erkrankungen hängen nicht direkt von der tatsächlichen Belastung ab, sondern werden von der individuel-len Vulnerabilität mitbestimmt. Bei einem Trauma verhält es sich ähnlich. Während die Ursache psychosomatischer Symptome nicht immer eindeutig festzustellen ist, liegt hier in jedem Fall ein schwerwiegender, konkret identifizierbarer Auslöser vor,

„ein belastendes Ereignis oder eine Situation außergewöhnlicher Bedrohung (kurz oder lang anhaltend)“ (ICD-10 2015: 207), eine „Konfrontation mit tatsächlichem oder drohendem Tod, ernsthafter Verletzung oder sexueller Gewalt“ (DSM-5 2015:

167).

Klinisch unterschieden werden die ‚akute Belastungsreaktion‘ und die ‚post-traumatische Belastungsstörung‘. Erstere beschreibt die unmittelbare Reaktion auf ein schweres Schockerlebnis.

Die Symptome sind sehr verschieden, doch typischerweise beginnen sie mit einer Art von ‚Betäubung‘, einer gewissen Bewusstseinseinengung und eingeschränkten Auf-merksamkeit, einer Unfähigkeit, Reize zu verarbeiten und Desorientiertheit. Diesem Zustand kann ein weiteres Sichzurückziehen aus der aktuellen Situation folgen (bis hin zu dissoziativem Stupor [Bewegungsunfähigkeit]) oder aber ein Unruhezustand und Überreaktivität wie Fluchtreaktion oder Fugue [Annahme einer anderen Persönlich-keit]. Meist treten vegetative Zeichen panischer Angst wie Tachykardie [Herzrasen], Schwitzen und Erröten auf. […] Es kann eine teilweise oder vollständige Amnesie […]

für diese Episode vorliegen. (vgl. ICD-10 2015: 206)

Während die Symptome einer ‚akuten Belastungsreaktion‘ höchstens drei Tage lang andauern, ist eine ‚posttraumatische Belastungsstörung‘ sehr viel langwieriger und tritt mit einer Verzögerung von bis zu einem halben Jahr auf.

Typische Merkmale sind das wiederholte Erleben des Traumas in sich aufdrängenden Erinnerungen (Nachhallerinnerungen, flashbacks [bei denen die Person fühlt oder handelt, als ob sich das oder die traumatischen Ereignisse wieder ereignen würden]), oder in Träumen, vor dem Hintergrund eines andauernden Gefühls von Betäubt-sein und emotionaler Stumpfheit, Gleichgültigkeit gegenüber anderen Menschen,

Teilnahmslosigkeit der Umgebung gegenüber, Anhedonie [Freudlosigkeit] sowie Ver-meidung von Aktivitäten und Situationen, die Erinnerungen an das Trauma wach-rufen könnten. […] Gewöhnlich tritt ein Zustand vegetativer Übererregtheit […] und Schlaflosigkeit auf. Angst und Depression sind häufig mit den genannten Symptomen und Merkmalen assoziiert und Suizidgedanken nicht selten. (ebd. 207)

Aufgrund der für den traumatischen Kontext typischen Verquickung psychischer und körperlicher Reaktionen wurden die Begriffe ‚Körpererinnerung‘ und ‚Körper-psyche‘ geprägt. (vgl. Levine 2016: 147; 195) Durch dauerhafte negative Emotionen wie Furcht, Entsetzen, Wut, Schuld oder Scham sowie die Unfähigkeit, Glück, Zu-friedenheit und Zuneigung zu empfinden, wird die psychische Belastung langfristig aufrechterhalten. (vgl. DSM-5 2015: 168–171) Im Rahmen einer posttraumatischen Belastungsstörung können auch dissoziative Zustände auftreten wie Konversions-störungen, Amnesie, Fugue, Stupor oder Trancezustände. (vgl. ICD-10 2015: 207–

218)

Ein Beispiel für solch einen dissoziativen Zustand stellt der Zustand der dissoziati-ven Fugue dar, wenn jemand seine persönliche Identität und die damit verbundenen Gedächtnisinhalte verliert. Menschen, die einen solchen Zustand erleben, sind sich gewöhnlich nicht bewusst, dass etwas nicht stimmt, und werden häufig eine neue Identität annehmen. Der Identitätsverlust wird offenbar, wenn der Patient Tage, Monate oder sogar Jahre nach dem auslösenden Ereignis wieder zu sich kommt – wobei er sich häufig in einiger Entfernung von seinem ursprünglichen Wohnort wiederfindet […]. (Foster 2014: 132)

Eine weitere schwerwiegende Beeinträchtigung der Identität, die durch ein Schockerlebnis bedingt sein kann, liegt bei der früher als ‚Persönlichkeitsspaltung‘

bezeichneten ‚dissoziativen Identitätsstörung‘ vor, „bei der […] eine Reihe von Per-sönlichkeiten auftaucht, um verschiedene Aspekte des vergangenen Lebens einer Person zu übernehmen“ (ebd.). Diese ist sich ihrer ‚zusätzlichen Persönlichkeit(en)‘

nicht bewusst. Etwa in Robert Louis Stevensons Strange Case of Dr Jekyll and Mr Hyde (1886) wurde eine solche Identitätsstörung literarisch fruchtbar gemacht.

‚Depersonalisation‘ und ‚Derealisation‘ stellen zwei zentrale Begriffe im diag-nostischen Gebrauch dar.

Depersonisation: Erfahrungen der Unwirklichkeit, des Losgelöstseins oder des Sich-Er-lebens als außenstehender Beobachter bezüglich eigener Gedanken, Gefühle, Wahr-nehmungen des Körpers oder Handlungen […].

Derealisation: Erfahrungen der Unwirklichkeit oder des Losgelöstseins bezüglich der Umgebung (z.B. Personen oder Gegenstände werden als unreal, wie im Traum, wie im Nebel, leblos oder optisch verzerrt erlebt). (DSM-5 2015: 183)

Während literarische Persönlichkeitsspaltungen dem Doppelgänger-Motiv zuzuord-nen sind (vgl. Kap. III.1.4), wird mittlerweile auch spezifischer vom ‚Traumaroman‘

als einem Genre, das sich besonders im Kontext der Kriege und Menschheitsver-brechen des 20. Jh. herausgebildet hat, gesprochen. Dieses zeichnet sich dadurch

aus, dass der Traumazustand durch Verfahren wie ‚unzuverlässiges Erzählen‘ aus der Innenperspektive eines seiner Identität unsicheren Subjekts inszeniert wird.

(vgl. Assmann 2011: 191) Ein wichtiger Zusammenhang zwischen traumatischer Realität und ihrer literarischen Aufarbeitung liegt hierbei in der Amnesie vor, im (teilweisen) Verlust des autobiografischen Gedächtnisses.

Anders als das vor-bewusste aber bewusstseinsfähige passive Gedächtnis bezieht sich Trauma auf ein Erlebnis, das so unverständlich, demütigend, schmerzhaft und lebens-bedrohend ist, dass sich die Pforten der Wahrnehmung vor dieser Wucht automatisch schließen. Als etwas, das zum Selbstschutz vom Bewusstsein abgespalten und ein-gekapselt wurde, weil es den Rahmen der Identitätskonstruktion einer Person zerstört, kann dieses Erlebnis später nur schwer erinnert und erzählt werden. (ebd. 190) Im literaturwissenschaftlichen Kontext werden die Begriffe ‚Krypta‘ (für dem Be-wusstsein unzugängliche traumatische Inhalte) und ‚Phantom‘ (für dem Selbst nicht zugeordnete Repräsentanten der eigenen Identität) verwendet.133 (vgl. ebd. 195) An-hand von Shakespeares Hamlet (1602) zeigt Aleida Assmann, dass bereits lange vor dem ‚Traumaroman‘ literarische Texte vorliegen, deren Dynamik auf denselben Strukturen beruht: Die traumatische Botschaft vom Mord an Hamlets Vater ist unzugänglich im Titelhelden eingeschlossen. Anhand des Phantoms wird seine Konfrontation mit den Inhalten externalisiert vollzogen, wobei die Botschaft ver-schlüsselt und unkommunizierbar bleibt. Diese Konstellation treibt Hamlet in die Verzweiflung und bis an den Rand seiner psychischen Gesundheit.

Es gibt mindestens drei Elemente in der Botschaft des Geistes, die sie für ein modernes Trauma-Konzept anschlussfähig machen. Zunächst ist der widersprüchliche Charakter der Botschaft zu nennen. Sie ist durch und durch ambivalent. Die Quelle dieser Bot-schaft ist zu mysteriös, um ihr direkten Glauben schenken zu können. […] Der zweite Aspekt ist der geheime Charakter der Botschaft. Sie ist nicht nur verschwiegen, son-dern auch unzugänglich und nicht kommunizierbar. […] Kommunikation wird weiter blockiert durch verschiedene Eide, die der unterirdische Geist schwören lässt, womit er erreicht, dass die Worte in der Brust seines Sohnes eingeschlossen sind. Um dieses Geheimnis zu behalten, muss Hamlet in verschiedene Rollen fliehen. […] Neben Wider-sprüchlichkeit und Geheimnis ist der emotionale Überschuss eine dritte Eigenschaft des Traumas. Es schlägt mit einer Wucht ein, die die psychischen und kognitiven Möglichkeiten einer Person übersteigt und die Struktur der Identität verformt. Hamlet […] fürchtet um seinen Verstand. (ebd. 197)

Selbst im Falle des Gedächtnisverlusts und ungeachtet seiner Nicht-Verbalisierbar-keit ist das traumatische Erlebnis dem Individuum auf der Ebene seiner Emotionen und Körperempfindungen direkt eingeschrieben.

133 Assmann bezieht sich hier auf: Abraham 1991 und Rand 1991.

Trauma wird hier als eine körperliche Einschreibung verstanden, die der Überfüh-rung in Sprache und Reflexion unzugänglich ist und deshalb nicht den Status von Erinnerungen gewinnen kann. Das für Erinnerungen konstitutive Selbstverhältnis der Distanz, welches Selbstbegegnung, Selbstgespräch, Selbstverdoppelung, Selbst-spiegelung, Selbstverstellung, Selbstinszenierung, Selbsterfahrung ermöglicht, kommt beim Trauma nicht zustande, das eine Erfahrung kompakt, unlösbar und unlöschbar mit der Person verbindet. (Assmann 2010: 278)

An dieser Vorstellung einer direkten Verbindung zwischen „Körperempfindungen (sensation), Bild (image), Verhalten (behaviour), Affekt (affect) und Bedeutung (mea-ning)“ (Levine 2016: 84f.) setzen auch wirksame traumatherapeutische Maßnahmen an. Durch körperliche und emotionale Vervollständigung der unabgeschlossenen sensomotorischen Reaktion, als die das Trauma hier verstanden wird, kann die Erinnerung restrukturiert und in ein schlüssiges Narrativ gebettet werden. (vgl.

ebd.  177) Den zentralen Ausgangspunkt stellen hierfür Körper-Raum-Position und Augenbewegungen der traumatischen Situation dar, da in ihnen die ‚Körper-erinnerung‘ verankert liegt. Durch Wiedereinnahme derselben Ausrichtung wird sie reaktiviert und kann durch Einübung eines alternativen prozeduralen Verlaufs überschrieben werden. (vgl. ebd. 146f.)

Traumabewältigung durch Veränderung eines Narrativs wird, wie Aleida Ass-mann an Euripides’ Inszenierung des Helena-Menelaos-Stoffes aufzeigt, schon in der Antike praktiziert. Das fehlende Bindeglied zwischen Helenas Treuebruch gegen-über ihrem Ehemann und deren gemeinsamer Zukunft nach seiner Heimkehr aus dem Krieg wird von Euripides durch eine Verdoppelung Helenas ergänzt.

Die Figur der Helena wurde verdoppelt in ein Trugbild, welches die Kriegsfronten wechselte und zur Mätresse des Paris und anderer Trojaner wurde, während ihre leibhaftige Gestalt, die die Götter vor all diesen Gewalttätigkeiten und Turbulenzen geschützt und in Ägypten stationiert hatten, sich rein hielt für ihren zurückkehrenden Ehemann. Die Auffüllung der Leerstelle, die sich Euripides ausgedacht hat, folgt dem Schema einer typischen Männerphantasie. Die Frau wird verdoppelt bzw. aufgespalten in die beiden konträren Hälften der Hure und der Heiligen. (vgl. Assmann 2010: 280) Euripides entbindet damit seine Heldin der Schuld und Menelaos der Schmach.

Während alle Ereignisse in der Handlung verankert bleiben, wird durch die neue Deutung eine Veränderung in deren Bewertung herbeigeführt. Durch Restrukturie-rung des Narrativs können die peinlichen Umstände sublimiert werden.

Assmann bezieht sich insbesondere auf Hugo von Hofmannsthals Bearbeitung des Stoffes, in der dieser die Sublimierung ablehnt und zunächst Vergessen sowie danach therapeutische Beschäftigung mit den Einzelheiten der traumatischen Erfah-rung erprobt. Keiner der Versuche kann das ursprüngliche Glück wiederherstellen.

Doch während das Vergessen den Figuren mit ihrer Vergangenheit auch die Identität nimmt und in Menelaos’ Unterbewusstsein dennoch den Wiederholungszwang zur Rache an Paris nicht tilgen kann, führt das Wissen zu geordneten Verhältnissen der gebrochenen Figuren. (vgl. ebd. 270–284) Wie zuvor erwähnt, sprechen die Resultate

der modernen Traumatherapie nicht für Hofmannsthals Lösung, sondern für Euri-pides’. Vergessen (das heute medikamentös herbeigeführt werden kann) stellt ein ähnliches Identitätsproblem mit unbewussten Zwangsreaktionen in Aussicht wie das von Hofmannsthals Menelaos. Tiefenpsychologische Ansätze einer detaillierten Wiederaufrufung der traumatischen Inhalte erscheinen ebenfalls fragwürdig, da sie die Wunden in vielen Fällen verstärken und im schlimmsten Fall sogar falsche Erinnerungen an Schreckenserlebnisse induzieren. (vgl. Levine 2016: 167–190) 2.4  Autismus

Der von Eugen Bleuler (1910) geprägte Begriff ‚Autismus‘134 wird in dessen his-torischer Darstellung als Teilaspekt der Schizophrenie verstanden (vgl. die Negativ-symptome der Schizophrenie in Kap. III.1.4).

Eine direkte Folge der schizophrenen Spaltung der Psyche ist der Autismus; der Ge-sunde hat die Tendenz, bei logischen Operationen alles hinzugehörige Material ohne Rücksicht auf dessen affektive Wertigkeit herbeizuziehen. Bei der schizophrenen Lo-ckerung der Logik dagegen findet ein Ausschluß aller einem gefühlsbetonten Komplex widerstrebenden Assoziationen statt. Das keinem Menschen fehlende Bedürfnis, in der Phantasie Ersatz für ungenügende Wirklichkeit zu suchen, kann auf diese Weise widerstandslos befriedigt werden. (Bleuler 2014: 304f.)

Die zeitgenössische Diagnostik ordnet Autismus (bzw. Autismus-Spektrum-Stö-rung) seit der Erstauflage von ICD-10 (1993) und DSM-5 (2013) nicht mehr unter den Psychosen ein, sondern unter den Entwicklungsstörungen. ‚Frühkindlicher Autismus‘ äußert sich bereits vor dem dritten Lebensjahr, bei einem Auftreten ähnlicher Symptome ohne kognitive Entwicklungsstörung wird das ‚Asperger- Syndrom‘ diagnostiziert. Der wichtigste Unterschied zur Schizophrenie besteht im (je nach Ausprägung) beinahe vollständigen Verlust einer Verbindung zur Außen-welt und des Interesses an ihr.

Früher galt Autismus als Kindheitsschizophrenie, aber phänomenologisch verhält es sich genau umgekehrt. Der Schizophrene beklagt sich immer über einen ‚Einfluß‘ von außen: Er ist passiv, ein Spielball der Umgebung, er kann nicht er selbst sein. Der Autist würde sich – wenn er es täte – über das Fehlen von Einfluß, über die absolute Isolation beklagen. […] Beim ‚klassischen‘ Autismus, der sich, und dann oft total, bis zum dritten Lebensjahr manifestiert, erfolgt die Isolation zu einem so frühen Zeitpunkt, daß unter Umständen keine Erinnerung an das Festland mehr vorhanden ist. Beim ‚sekundären‘

Autismus, der […] in einem späteren Lebensabschnitt [z.B.] durch eine Hirnkrankheit entsteht, bleiben gewisse Erinnerungen an das Festland erhalten, die man als eine Art Nostalgie bezeichnen könnte. (Sacks 2008: 299)

134 Vgl. Scharfetter 2006: 158. Konzeptuell auf Bleuler bezogen, kursierten in dieser

134 Vgl. Scharfetter 2006: 158. Konzeptuell auf Bleuler bezogen, kursierten in dieser

Im Dokument Herausgegeben von Wolf Schmid (Seite 191-200)