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Literatursoziologie und Wahrnehmung

Im Dokument Herausgegeben von Wolf Schmid (Seite 56-60)

Wahrnehmung im Weltbild literarischer Texte

1.  Narratologie als Ontologie des Textes in Hinblick auf Motive der Wahrnehmungauf Motive der Wahrnehmung

1.3  Literatursoziologie und Wahrnehmung

Okopień-Sławińskas Modell zur literarischen Kommunikation entstand, wie er-wähnt, vor dem Hintergrund der Warschauer Gruppe, wo interdisziplinär gedachte soziale Strukturen eine bedeutsame Rolle spielten. Dieser als ‚Literatursoziologie‘

bezeichnete Ansatz ist für den vorliegenden Kontext einer textimmanenten Motiv-analyse, welche die Motive zu extratextuellen Entsprechungen in Bezug setzt, von äußerster Wichtigkeit, denn bereits hier wird konsequent textimmanentes Denken mit der Offenheit für extratextuelle Erscheinungen kombiniert. Kazimierz Bartos-zyński fasst dies (1969) unter Bezug auf Okopień-Sławińskas Modell wie folgt zu-sammen:

Man kann also literarische Kommunikation von der syntagmatisch-kontextuellen Seite und vom Bezug des Textes auf das paradigmatisch-konventionale Gefüge aus betrachten. (Bartoszyński 1975: 154)

Die Forschungsbereiche der Literatursoziologie systematisiert Michał Głowiński in seinem Artikel Literarische Gruppe und Poesiemodell (1962) wie folgt:

Bei solchem Verständnis ihrer Problematik kommen der Soziologie des literarischen Le-bens drei Problemkreise zu: 1. die Soziologie literarischer Institutionen, 2. die Soziologie des literarischen Bewußtseins, 3. die Soziologie des Funktionierens literarischer Werke in bestimmten Epochen und unter bestimmten Gruppen des Publikums. (Gƚowiński 1975: 46)

Für den vorliegenden Kontext relevant ist der zweite Punkt. Die ‚Soziologie des literarischen Bewusstseins‘ steht in enger thematischer Nähe zu den hier zu be-handelnden Motiven im Umfeld der Wahrnehmung. In diesem später für Okopień-Sławińskas Modell wichtigen Aufsatz verfolgt bereits Głowiński das Ziel, auf Basis einer textimmanenten Analyse struktureller Aspekte eines literarischen Werks all-gemeine, durch die Tradition entstandene Normen abzuleiten, die Aufschluss über dessen historischen Entstehungskontext und dessen gesellschaftliche Bedingungen geben können.

Die Soziologie des Werks ist die Beschreibung der Struktur des literarischen Werks […] als eines Elements der Kommunikation zwischen einem Autor und seinen Emp-fängern (und zwar mit wahrscheinlich virtuellen EmpEmp-fängern, um mit Sartre zu reden), einer Kommunikation in einer bestimmten gesellschaftlich-historischen Situation und mit Hilfe von in der betreffenden Epoche stabilisierten sprachlichen Mitteln. Mit an-deren Worten: es interessiert hier die bestimmte gesellschaftliche Situation, die im

sprachlichen Kommunikat und im System der verbindlichen Normen und Konventio-nen fixiert ist und durch deren Analyse erkannt werden kann. (Głowiński 1975: 45) Bereits im Artikel Die Rolle der Konvention im literarhistorischen Prozeß (1965) ver-folgt Okopień-Sławińska diesen Ansatz weiter. Sie beschäftigt sich hier mit u.a.

motivischen Konventionen, die als ‚ästhetisches Ideal‘ einer Epoche von zahlreichen AutorInnen aufgegriffen werden und sich dadurch weiterentwickeln. Beachtenswert ist in diesem Zusammenhang auch der ontologische Standpunkt hinsichtlich des Bezugs zwischen diesen textimmanenten Erscheinungen und der extratextuellen

‚Realität‘. Obgleich Okopień-Sławińska das auf Konventionen gründende inter-textuelle System poetischer Normen als von der äußeren Realität unabhängiges System behandelt, bezieht sie auch die textexterne Realität ein, da sich verschiedene Konventionen in unterschiedlichem Abstand zu dieser verorten.

Neue Konventionen bilden sich vor allem in oppositioneller Abhängigkeit von be-stehenden Konventionen, wobei das ästhetische Ideal einer Epoche – allgemein ge-sprochen – über die Richtung des Wandels entscheidet. Dieses kann aber ebenso gut ein Erzeugen der Illusion von Wirklichkeit begünstigen wie das entgegengesetzte Postulat einer bewussten Hervorhebung der Eigenart des Elements der Kunst und ihrer spezifischen Sprache. Obwohl alle Verfahren der Kunst, unabhängig von diesen beiden Positionen, konfrontiert mit der Wirklichkeit ‚künstlich‘ sind (sonst wären sie ja nicht Mittel der Kunst), so ist nur für bestimmte künstlerische Strömungen die gesellschaftliche Übereinkunft gültig, jene ‚künstlichen‘ Verfahren als ‚natürliche‘ zu behandeln – diese Übereinkunft bildet die Grundlage für die Illusions-Wirkung des Werkes. (Okopień-Sławińska 1975b: 27)

Die Sichtweise, dass Mimesis eher ein indirektes Beiwerk des eigentlichen Prozesses der Tradierung darstellt, ist insbesondere im Hinblick auf die Motivanalyse von Interesse. Diese beruht nämlich darauf, dass wiederholte und damit gewissermaßen

‚abgenutzte Muster‘ im Zentrum stehen, die in der Rezeption als Ausschnitte der Wirklichkeit zu erkennen sind, obgleich sie aus Sicht der Produktion nicht spontan aus deren umfassender Vielfalt, sondern vielmehr aus einem engen Pool innerer Bilder von ihr geschöpft werden.

In der Perspektive des Autors bilden die poetischen Konventionen einen Komplex von durch die Tradition vorgegebenen Instrumenten, die zur Gestaltung der literarischen Äußerung und der Literatur zugänglichen Formen der Darstellung von Welt dienen.

Solche Formen bilden sich schon auf der Ebene des Sprachsystems; Systeme poetischer Konventionen erfüllen diese Funktion aber in einer viel stärker ausgeprägten Art und Weise, indem sie zwischen Produzenten und Rezipienten, aber ebenso zwischen dem Produzenten, dem Werk und der Welt vermitteln. Ich erinnere mich an die Worte Irzykowskis: ‚… so scheint es nur so, als ob die Wirklichkeit sklavisch kopiert werden könnte… Wenn wir uns über einen Autor entrüsten, weil er einfach die Wirklichkeit kopiert, so müßten wir richtiger und treffender sagen, dass er bestimmte, schon abge-nutzte Muster der Wirklichkeit kopiert…‘ (ebd. 33)

Woher diese Bilder kommen, wird unterschiedlich erklärt: für Głowiński steht der gesellschaftshistorische Entstehungskontext des Werks im Zentrum, Okopień-Sławińska konzentriert sich auf Ursprünge in der literarischen Tradition. Kazimierz Bartoszyński nimmt in seinem Artikel Probleme der literarischen Kommunikation in narrativen Werken (1969) auf beides Bezug und geht zugleich auf die psycho-logisch-kulturelle Verankerung literarischer Motive ein (welche die Warschauer StrukturalistInnen als ‚Stereotypen‘ bezeichnen). Er verweist auf die soziologische Sichtweise der Durkheim-Schule, derzufolge das Kollektivgedächtnis als Rahmen für jede individuelle Erfahrung angenommen wird.

Wenn wir davon ausgehen, daß die literarische Kommunikation auf gesellschaftlich be-gründeten Stereotypen beruht, so verbindet sich dies mit der allgemein soziologischen Sicht der Rolle von Stereotypen in allen Formen gesellschaftlicher Verständigung. In dem mit der Tradition Durkheims verbundenen soziologischen Denken ist Kollektivbe-wußtsein oder Kollektivgedächtnis, betrachtet als ‚Rahmen‘ individuellen BeKollektivbe-wußtseins oder Gedächtnisses, ein zentraler Begriff – als Oberbegriff zu ‚Stereotyp‘. Im Sinne der Durkheim-Schule läßt sich z.B. ein Element der individuellen Vergangenheit nur im Rahmen oder auf dem Hintergrund einer Struktur, wie sie das Kollektivgedächtnis darstellt, unterscheiden, identifizieren und mit einem Sinn versehen. Erst wenn der chaotische, nichtchronologische Strom individueller Erinnerungen und Beobachtungen in den Rahmen des Kollektiv-Gedächtnisses gestellt wird, erfährt er eine chronologi-sierende und sinnverleihende Strukturalisierung. (Bartoszyński 1975: 150f.)

Motive sind nach diesem Verständnis kollektive Vorstellungen, die zwar jeweils nur im individuellen Erleben realisiert werden, das allerdings seinerseits unter fort-währendem Rückbezug auf bekannte Elemente stattfindet. Bereits kurz nach Beginn dieser polnischen Tradition entwickelten westliche AutorInnen parallel zu ihr ein sehr ähnliches literatursoziologisches Motiv-Verständnis.

Frenzel (1992), Trousson (1965) und Lüthi (1980) gehen davon aus, daß Motive schema-tische Muster von typischen, möglicherweise archetypischen Eigenschaften und im Leben wiederkehrenden Situationen darstellen. Vermutlich wiederholen sie sich auf-grund eines Rückkoppelungsvorgangs, der sich in der Übermittlung und Rezeption wechselnder Ansichten des Daseins herausbildet. Motive übermitteln Informationen, die einem Bewusstseinsprozess untergeordnet sind; sie bewahren die Signalfunktion, weil die Nachricht im Lehr- und Lernvorgang der nächsten Generation übermittelt wird; jede neue Rezeption des Signals ruft die gespeicherte Information wieder hervor und verlangt eine Neubewertung. (Daemmrich 1995: XVI)

Der Ansatz gleicht Jungs Archetypenlehre, die ebenfalls von bildhaften Repräsen-tationen archaischer Schlüsselerfahrungen ausgeht, die in individuellen Kontexten konkrete Form annehmen. Jung geht hier noch weiter, da er auch die spezifische individuelle Ausprägung als wiederkehrende und folglich dauerhaft im Bewusst-sein verankerte Kategorie betrachtet. (vgl. Kap. I.2.3) Beide Aspekte lassen sich auf literarische Motive beziehen, die ebenfalls über ihre Verankerung in der Tradition

sowie im Werk eines konkreten Autors zu erschließen sind und damit sowohl uni-versale als auch individuelle Einheiten darstellen.

Bartoszyński übernimmt das soziologisch-weltanschauliche Denken und ver-steht literarische Texte entsprechend als Universa, innerhalb derer hauptsächlich bekannte Formen aufgegriffen und modifiziert werden. Strukturell entspricht diese Analogie jener, die Okopień-Sławińska zur Sprachentwicklung zieht; Bartoszyński führt sie mit dem inhaltlich ähnlich wie Głowiński gewählten Schwerpunkt auf gesellschaftlich-historischen Mechanismen zusammen.

Wir haben bis jetzt die literarischen Stereotype als Universa von Informationsmöglich-keiten betrachtet, auf deren Hintergrund bestimmte Informationen identifiziert werden können, Universa also, welche die literarische Verständigung bedingen. (Bartoszyński 1975: 168f.)

Von unmittelbarem Interesse für die vorliegende Arbeit ist Bartoszyńskis Erkennt-nis, dass unter diesen textimmanenten Stereotypen auch Motive der literarischen Kommunikation selbst vorliegen, die ebenfalls konventionalisiert sind. Er beruft sich auf quasi-wissenschaftliche Erkenntnissituationen, wenn innerhalb der Handlung Dokumente herangezogen werden, die der Beglaubigung gewisser Aussagen dienen oder diese falsifizieren.

Erörtern wir zum Abschluß den Umstand, daß die Prozesse der literarischen Kom-munikation selbst konventionalisiert sind und sich auf dem Hintergrund bestimmter Musterprozesse identifizieren lassen. Alle Formen literarischer Verständigung funk-tionieren natürlich im Kontext verschiedener außerliterarischer Formen des Erkennt-niskontakts. Die Situation des Sendens und Empfangens, die in der Literatur dargestellt wird, ist eine von vielen gesellschaftlich aktiven und fixierten Erkenntnissituationen.

[…] Man kann nämlich wohl behaupten, daß bestimmte Arten literarischer Erkennt-nissituationen eigentümliche Imitationen des wissenschaftlichen Erkennens darstellen, daß sie zu den methodologischen Modellen wissenschaftlichen Vorgehens in einem Verhältnis stehen, das man in einer etwas metaphorischen Weise mimetisch nennen könnte. (ebd. 169)

Eine Besonderheit dieser Motive um den Kommunikationsprozess besteht darin, dass sie strukturelle Angelpunkte der Handlung markieren. Häufig bewirkt die neue Informationslage nämlich, dass in der Folge andere Ziele verfolgt werden, und sie verändert daher die Handlungsdynamik. Nicht das Motiv bedingt die Wendung, es motiviert sie jedoch in einem der illustrierten sozialen Konstellation entsprechenden Realismus, d.h. in Analogie zu einer bekannten textexternen Situation.

Dieser ‚methodologische (oder epistemologische) Mimetismus‘ bewirkt, daß sich die Sender-Empfänger-Situation innerhalb bestimmter Werke nach den methodologischen Mustern wissenschaftlichen Erkennens bildet, welche auf diese Weise zu einer Variante der Stereotypen werden, die die literarische Kommunikation bedingen – und zwar zu Stereotypen des Kommunikationsprozesses selbst. Sie wirken auf dem Hintergrund, vor dem Sendung und Empfang sich abspielen, geben für den Kommunikationsprozeß

Muster und Unterlage ab, regulieren und verfestigen ihn in gewisser Weise. Dazu muß natürlich bemerkt werden, daß wir hier weiterhin vor allem über diejenigen Sender-Empfänger-Situationen sprechen, die ins Werk eingeschrieben sind, und nicht über werkexterne Situationen. (ebd.)

Ähnliches kann für Motive der Wahrnehmung festgestellt werden, die nicht zwingend eine Sender-Empfänger-Konstellation abbilden, doch, in einem noch allgemeineren Sinne, ebenfalls eine situative Konstellation illustrieren, in der ein Informationszugewinn stattfindet. Auch sie markieren daher den Anlass eines po-tenziellen Wendepunkts in der Handlung.

Im Dokument Herausgegeben von Wolf Schmid (Seite 56-60)