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Wahrnehmungsskeptizismus und anthropomorphe Weltbilder der AntikeWeltbilder der Antike

Im Dokument Herausgegeben von Wolf Schmid (Seite 102-105)

Wahrnehmung im Weltbild literarischer Texte

II. Ontologische Ausgangspunkte: Sinne und Emotionen als Kategorie des Selbst- und Emotionen als Kategorie des Selbst- und

1.  Wahrnehmung als Schnittstelle zur Außenwelt

1.1  Wahrnehmungsskeptizismus und anthropomorphe Weltbilder der AntikeWeltbilder der Antike

Seit dem Altertum stellt Wahrnehmung ein erkenntnistheoretisches Schlüsselpro-blem in der westlichen philosophischen Tradition dar. Das vorwiegend naturwissen-schaftliche Interesse der Vorsokratiker galt u.a. der Beschaffenheit der Materie und den auf sie einwirkenden Kräften, biologischen Entwicklungen von Individuum, Fortpflanzung und Artenvielfalt sowie physikalischen Erscheinungen wie Farben, Klängen und Temperatur.57 Die genannten Kategorien basieren auf Sinneserfahrung und die Bandbreite an vertretenen Positionen illustriert die Schwierigkeit, die sinn-liche Welt zu erfassen. Zumindest Parmenides (5. Jh. v. Chr.) war sich dieser bewusst, wie der von ihm vertretene Wahrnehmungsskeptizismus58 zeigt.

[D]ie vielerfahrene Gewohnheit soll dich nicht zwingen, über diesen Weg das ziellose Auge schweifen zu lassen, das widerhallende Ohr und die [sprechende] Zunge. Nein:

Beurteile in rationaler Weise die streitbare Widerlegung, die ich ausgesprochen habe.

(Parmenides 2012: 325)

Darum ist alles Name, was die Sterblichen angesetzt haben, im Vertrauen darauf, es sei wahr: Entstehen und Vergehen, Sein und Nichtsein, den Ort wechseln und die leuch-tende Farbe ändern. (ebd. 329)

In dieser Weise also sind der Meinung nach die Dinge um uns entstanden und sind sie auch jetzt und werden sie künftig, nachdem sie sich voll entwickelt haben, ein Ende nehmen. Die Menschen aber haben diesen Dingen einen Namen, für jedes einen bezeichnenden, beigelegt. (ebd. 341)

Parmenides verneint nicht die Außenwelt, nur deren objektive Wahrnehmbarkeit durch die menschlichen Sinnesorgane, denen er die Fähigkeit abspricht, adäquat zwischen Subjekt und Welt zu vermitteln. Damit rückt er zugleich die starke Subjekt-abhängigkeit von Wahrnehmung in das Sichtfeld und stellt die durch die Gewohn-heit etablierte Segmentierung der Welt in Frage. Jene menschlichen Begrifflichkeiten (Namen) erkennt Parmenides als Ursache für den verfälschten Weltbezug. Dieser letzte Teil der Kritik hat seine Gültigkeit bis heute bewahrt, wobei die kritisierte Praxis auch weiterhin nicht zu umgehen ist.

Der erste Teil von Parmenides’ Kritik erscheint müßig, wenn man bedenkt, dass etwa sein etwas älterer Zeitgenosse Heraklit durch die Annahme, dass die Welt nur ihre äußere Gestalt verändere, die Wahrnehmung einer sich wandelnden Welt mit der Unveränderlichkeit ihrer Existenz vereint.

57 Dazu ausführlich siehe: Mansfield 2012: 9–36 sowie die Kapitel zu den einzelnen Vorsokratikern im selben Band.

58 Parmenides’ Argument lautet, dass Erkennen und Sein ident seien und man folglich nichts erkennen könne, was abwesend sei. Da Parmenides Sein als unveränderlich annimmt, schließt er daraus, dass die Veränderungen des Seienden die Sinneswahr-nehmung widerlegen. (vgl. Parmenides 2012: 323–331)

Der Gott ist Tag-Nacht, Winter-Sommer, Krieg-Frieden, Sättigung-Hunger (alle Gegen-sätze, das ist die Bedeutung); er wandelt sich, genau wie Feuer, wenn es sich mit Duft-stoffen verbindet, nach dem angenehmen Eindruck eines jeden [der Duftstoffe] benannt wird. (Heraklit 2012: 263)

Heraklit ist somit der erste Vertreter einer Theorie von der Ewigkeit der Welt – und er kann diese Theorie auch beweisen. Alles ändert sich kontinuierlich und bleibt dennoch gleich; im Spiel ihres fortwährenden Rollentausches produziert die Einheit der Gegen-sätze eine sich […] immer gleich bleibende Ordnung. (Mansfeld 2012: 241)

Betrachtet man andere Thesen aus der Perspektive eines späteren Wissensstandes, wie etwa Heraklits Darstellung, die Sonne sei so breit wie der menschliche Fuß (vgl.

Heraklit 2012: 273), so erweist sich ein grundsätzlicher Wahrnehmungsskeptizismus als höchst angebracht; dies betrifft nicht nur Einzelerkenntnisse, sondern auch ganze Weltbilder.

Die Theorien zur Materie, welche die milesischen Philosophen (6. Jh. v. Chr.) auf je einen Urstoff zurückführen – bei Thales das Wasser, bei Anaximander abstrakter das Unbegrenzte, bei Anaximenes die Luft – bilden auch im Weltbild von Parmenides’

jüngerem Zeitgenossen Empedokles die Grundlage. Dieser geht von den vier Ele-menten als unveränderlichen materiellen Bestandteilen aus, auf deren Verbindungen und Trennungen er die sichtbaren Veränderungen in der Welt zurückführt. Als Ur-sache dieser Wandlungen nimmt er die gegenläufigen Kräfte Liebe und Streit59 an.

Ich werde Zweifaches sagen; denn einmal erwächst Eines, um ein Einziges zu sein aus Mehrerem, ein andermal sprießt es wieder auseinander, um Mehreres aus Einem zu sein: Feuer und Wasser und Erde und die unermessliche Höhe der Luft. Und der verfluchte Streit ist von diesen getrennt, wiegt sie aber überall auf, und die Liebe ist in ihnen, und mit ihnen nach Länge und Breite gleich. Sie sollst du mit Vernunft betrachten […], von der auch die Sterblichen annehmen, dass sie in ihren Gliedern verwurzelt sei, und durch welche sie liebevolle Gedanken hegen und Handlungen der Vereinigung ausführen, wobei sie sie mit Beinamen ‚Freude‘ nennen und ‚Aphrodite‘.

(Empedokles 2012: 463f.)

Bereits die Benennung einer vereinigenden und einer trennenden Kraft nach Gefüh-len verdeutlicht, dass es sich um ein anthropomorphes Weltbild handelt. Emotional begründete Beziehungsverhältnisse menschlicher Vereinigung, Fortpflanzung und Zwietracht werden auf Prozesse der Natur übertragen, um in dieser Analogie das Gedeihen und Sterben von Pflanzen, Tieren, der geologischen Umwelt und sogar das Handeln der Götter zu erklären. (vgl. ebd. 469) Empedokles’ Philosophie enthält zudem eine ethische Komponente, da sie dazu aufruft, den Streit zu überwinden und so durch die Liebe die gesamte Materie zu vereinigen. (vgl. ebd. 475) Sein Weltbild impliziert auch eine allgemeine Definition von Ort, Wirken und Funk-tion der Gefühle, die, als räumliche Kongruenz mit der Materie verdeutlicht, den 59 Seltener findet sich auch die Übersetzung ‚Hass‘. (vgl. Kunzmann 2007: 31)

Menschen (und Objekten) fortwährend innewohnen und so ihre konstruktive oder destruktive Interaktion bewirken. Diese Prozesse lösen außerdem wahrnehmbare Gefühle (‚Freude‘) in ihnen aus, die teilweise mythologisch interpretiert werden (‚Aphrodite‘).

Daneben vertraut Empedokles auch der Sinneswahrnehmung, deren Ursprung er wie die meisten seiner Zeitgenossen in den fünf Sinnen annimmt. (vgl. ebd. 445) Ein daraus abzuleitendes Verhältnis zwischen Sinneswahrnehmungen und Gefühlen scheint darauf hinauszulaufen, dass die Sinne einen Zugang zu materiellen Ge-gebenheiten herstellen, während anhand der Gefühle subjektive Interpretationen vorgenommen werden, die als Antrieb Annäherung oder Distanzierung auslösen und dadurch bewirkte neue Zustände zugleich wieder subjektiv erfahrbar machen.

Eine große Hürde bildet für die Naturphilosophen die Überwindung des mytho-logischen Weltbilds, das auch in Empedokles’ Darstellung zumindest metaphorisch zum Ausdruck kommt, wenn er der ‚Liebe‘ erklärend den Beinamen ‚Aphrodite‘

zuweist. Im Umkehrschluss wird hier auch die Göttin der Liebe als Allegorie dieses Gefühls ausgewiesen, als dessen Repräsentantin Aphrodite das Fühlen und Han-deln der Liebenden lenkt und begleitet. Eine bildhafte Ausdrucksweise erleichtert die Versprachlichung abstrakter Anschauungen, etwa über Kräfte oder Gefühle, die im mythologischen Weltbild auch durch die anderen Götter in personifizierter Form greifbar werden. Dies scheint dafür ausschlaggebend zu sein, dass selbst der kategorische Wahrnehmungsskeptiker Parmenides sich an der von ihm als fehler-hafte Widerspiegelung betrachteten Erfahrungswelt orientiert und dass selbst er auf personifizierende, wenngleich nicht klassisch mythologische, Götterbegriffe zurückgreift. (vgl. Mansfeld 2012: 20; 25)

Die mathematisch-mystische philosophische Schule der Pythagoreer (6.-4. Jh. v.

Chr.), aus der einige bis heute gültige Erkenntnisse sowohl in der Arithmetik als auch in der daraus abgeleiteten Harmonielehre der Musik stammen, bewegt sich ebenfalls im Grenzgebiet zwischen Wissenschaft und Esoterik. Diese auf Bereiche wie Kosmos, Seelenwanderung, Persönlichkeitstheorie und Ethik übertragene Lehre von Zahlenverhältnissen, auf deren Basis zahlreiche abergläubisch-religiöse Lebensregeln praktiziert wurden, ist hinsichtlich des darin verankerten Zusammen-hangs mit Synästhesie von Bedeutung. Ein Beispiel dafür bietet die ‚Harmonie der Sphären‘, bei der es sich um eine durch die harmonische Bewegung der Himmels-körper im Weltall erzeugte Musik handelt, die Pythagoras selbst gehört habe. (vgl.

ebd. 108f.)

Diese Aspekte antiker Weltbilder werfen Fragen auf, die auch für die Welt-bilder literarischer Texte konstituierend sein können: Welche Wahrnehmungen und Gefühle liegen vor? Welche Bezüge werden zwischen ihnen und dem wahr-nehmenden Individuum angenommen? Wie sind sie in getrennten Einheiten oder als synästhetisch parallel geschaltete Systeme geordnet? Inwiefern wird ihnen ein Bezug zu einer objektiven Außenwelt zugeschrieben? Die antiken Versuche einer Segmentierung der Welt in Stoffe und Kräfte scheinen in Empedokles’ anthropo-morphem Weltbild mit dem Umkehrschluss auf das Individuum einherzugehen, dass Sinneswahrnehmungen unmoderierte Eindrücke wiedergeben, die durch Gefühle

subjektiv interpretiert werden, womit zugleich ein starker Handlungsantrieb ver-bunden ist. Darin verankert sind auch Überlegungen zum richtigen Umgang mit Wahrnehmungen, wenn Empedokles die Kontrolle der Emotionen einmahnt und für die Liebe als Handlungsprinzip plädiert, während Parmenides vor der Subjektivität sowohl von Gefühlen als auch von Sinneseindrücken warnt und „Erkenntnis“ auf rationale Urteile beschränkt.

Auch die allegorische Darstellung von Gefühlen geht auf archaische Ursprünge im mythologischen Weltbild zurück und erleichtert, wie ihre Weiterverwendung in der vom Götterglauben bereits fortführenden antiken Philosophie zeigt, als bildhafte Versprachlichung das Sprechen über abstrakte Kategorien. Anschauliches Erleben führt nicht nur im ‚heidnischen‘ Götterglauben zur metaphorischen Beschreibung unerklärlicher Ereignisse, sondern manifestiert sich auch in den biblischen Dar-stellungen direkter Gotteserfahrung über die Sinne. Sinneswahrnehmungen finden sich hier etwa bei Berufungen als Visionen und Auditionen (z.B. Elias, Jona, Moses), göttliche Heilungen bewirken Schmerzlinderung oder die Wiedererlangung verlore-ner Sinneswahrnehmung (etwa des Sehens bei Erblindung oder der Sensomotorik bei Lähmung) und auch bei Festmählern (z.B. bei der Hochzeit von Kanaan oder der Bergpredigt) oder Opferungen wird Gottes Wirken oder die ihm entgegen-gebrachte Huldigung als sinnliche Geschmacks- und Geruchsempfindung erfahrbar, was auch heute noch für Symbolhandlungen wie die Eucharistie gilt.60 Wie groß der Interpretationsspielraum für solche Erfahrungen tatsächlich ist, wird deutlich, wenn etwa David Hume Wunder als ‚Verletzung der Naturgesetze‘ beschreibt. (vgl.

Hume 2013: 147)

Im Dokument Herausgegeben von Wolf Schmid (Seite 102-105)