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Trauer, Traurigkeit und Depression

Im Dokument Herausgegeben von Wolf Schmid (Seite 174-178)

Sinneswahrnehmung und Emotion zwischen Subjekt und Weltbild

2.  Motive von Gefühl und Nicht-Gefühl

2.1.2  Trauer, Traurigkeit und Depression

Bei der Trauer ist die Welt arm und leer geworden, bei der Melancholie ist es das Ich selbst. (Freud 1916/17: 430)

Tatsächlich wird aber das Ich nach Vollendung der Trauerarbeit wieder frei und ungehemmt. (ebd. 431)

Freuds Überlegungen zu unterschiedlichen Formen von Traurigkeit in Trauer und Melancholie (1916/17) haben ihre Gültigkeit bis heute bewahrt. In der Abgrenzung der Trauer von der Depression (welche die Melancholie begrifflich ersetzt hat), wird Trauer als „normale und universelle Reaktion auf einen Verlust einer geliebten Person […], eines Ideals, wichtiger Lebensziele u.ä.“ (Beutel 2014: 949) verstanden.

Dagegen ist Depression definiert als „komplexes Mischgefühl, das einen gewissen Anteil an Trauer enthält, aber auch Ekel, Wut, Ärger, Feindseligkeit, Furcht, Schuld und Scham“. (vgl. Birbaumer 2010: 733) Wie schon in Freuds Darstellung ist De-pression (bzw. Melancholie) destruktiv gegen das Selbst gerichtet und macht das Individuum handlungsunfähig. Trauer dagegen fördert seine Revitalisierung, wobei

ihre heilende Wirkung physiologische Grundlagen hat. So leitet etwa Weinen einen Entspannungszustand ein, weil die Tränendrüsen durch den Parasympathikus re-guliert werden. (vgl. Rüegg 2014: 57)

Die kurzfristigen hormonellen und physiologischen Folgen von Hilflosigkeit (Trauer) haben energiekonservierende Effekte, die langfristigen führen zu pathophysiologischen Änderungen. (vgl. Birbaumer 2010: 733)

Darüber hinaus hat die Trauerreaktion starke Appellfunktion und bewirkt, dass Nahestehende verstärkt Fürsorge für das trauernde Individuum übernehmen.

Die naturbelassene Trauer entspricht den Vernarbungs- und Heilungsprozessen im Organismus. Sie sorgt dafür, daß der Betroffene ruhiggestellt ist, von seiner Umwelt geschont und bestätigt wird. Dadurch kann sich die seelische Wunde schließen und allmählich heilen. Allerdings verläuft dieser Vorgang beim Trauern – im Gegensatz zur Heilung eines gebrochenen Knochens oder eines verletzten Fingers – nicht linear und relativ rasch, sondern zyklisch und relativ langsam. (Schmidbauer 2014: 111f.) Evolutionär wird der Trauer eine wichtige Funktion in der Aufrechterhaltung und Verstärkung von Bindungen zugeschrieben. Archaische Trauerrituale stärken den sozialen Zusammenhalt in der Gruppe. (vgl. Birbaumer 2010: 733) Das damit ver-bundene gemeinsame Gedenken ermöglicht außerdem nicht zuletzt das, was Freud im therapeutischen Sinne als Trauerarbeit bezeichnet: Durch die Konzentration auf den erlittenen Verlust wird die Trauer zunächst zwar verstärkt, kann nach Ab-schließen eines solchen Prozesses jedoch angenommen und emotional bewältigt werden. (vgl. Freud 1916/17: 431)

Freuds Ansatz, Verlustereignisse zur Trauerbewältigung ausführlich zu reflektie-ren, ist zwar psychologisch umstritten, es steht jedoch außer Frage, dass diese durch irgendeine Bewältigungsstrategie konstruktiv überwunden werden müssen. Birbau-mer nennt „Verdrängen, Ausschluss von Informationen, Gewöhnung, Umdeutung, Attributionsänderung“ (Birbaumer 2010: 733) als Beispiele. Während ‚Gewöhnung‘

eine Entsprechung zur Trauerarbeit im engeren Sinne darstellt, zeigen die anderen Beispiele, dass es bei Grenzerfahrungen nicht primär von Bedeutung ist, sich mit der tatsächlichen Realität abzufinden. Es kommt vielmehr darauf an, die Lebensereig-nisse zu einem Narrativ zu ordnen, das persönlich nachvollziehbar ist und in dem das Leben lebenswert erscheint. ‚Verdrängen‘ leistet einen wichtigen Beitrag dazu, die negativen Gedanken nicht überhandnehmen zu lassen. Die anderen Strategien setzen daran an, das Erlebte umzudeuten, um die gedankliche Realität erträglicher zu machen. Anknüpfend an Freuds Thesen zur Trauerarbeit, zeigen neuere Ansätze, dass dabei ebenfalls die Realität restrukturiert und die Bindung an den geliebten Menschen nicht gelöst, sondern verinnerlicht und intensiviert wird.

Anstelle der Ablösung vom Verstorbenen kommt es eher zu einer inneren Repräsentanz des Objektes, bei gelungener Trauer nicht selten auch zur Vertiefung der inneren und äußeren Objektbeziehungen.126 (Beutel 2014: 953)

Das Scheitern der Bewältigung von Trauer begründet in vielen Fällen Depressionen, bei denen sich das Individuum in einer auf negative Aspekte zentrierten, nicht frei gestaltbaren, starren Wirklichkeit gefangen sieht.

Die Depression hängt mit einem Verlust des inneren Objekts zusammen, die Trauer mit dem Schmerz über äußere Verluste. Während die Depression keine neue Wirklichkeit schaffen kann, […] stellt die Trauer diese neue Wirklichkeit schrittweise wieder her.

[…] Der Depressive kann die durch den Verlust drohenden Schmerzen nicht auf sich nehmen und zieht sich in eine Art selbstverordneter Narkose zurück. Diese hängt damit zusammen, daß ihm der elementare Unterschied zwischen Verlusten, die ‚schade‘ und solchen, die ‚schlecht‘ sind, verlorengegangen ist. (Schmidbauer 2014: 112)

In unterschiedlichen Schweregraden können Depressionen von einer mittelfristigen depressiven Reaktion auf belastende Lebensumstände bis zum psychotischen Reali-tätsverlust reichen. (vgl. Will 2014: 164) Als ihre diagnostischen Hauptkriterien gel-ten gedrückte Stimmung, Verlust von Interessen und Antriebslosigkeit. Zusätzlich treten häufig Einschränkungen der Konzentration und der emotionalen Reaktion auf sowie vermindertes Selbstwertgefühl, Schuldgefühle, Suizidgedanken, Schlaf-störungen, Libidoverlust und Appetitlosigkeit. Während sehr schwerer depressiver Episoden können Wahnideen und Halluzinationen auftreten. (vgl. ICD-10: 169–171)

Der Wahn schließt gewöhnlich Ideen der Versündigung, der Verarmung oder einer bevorstehenden Katastrophe ein, für die sich ein Patient verantwortlich fühlen kann.

Die akustischen Halluzinationen bestehen gewöhnlich aus diffamierenden oder an-klagenden Stimmen; die Geruchshalluzinationen beziehen sich auf Fäulnis oder ver-wesendes Fleisch. (ebd. 171)

Die Depression teilt zahlreiche Symptome mit der posttraumatischen Belastungs-störung (vgl. Kap. III.2.3), weshalb letztere häufig als unbewältigte Trauer beschrie-ben wird. Durch das Erlernen der Fähigkeit, zu trauern, können diese Zustände der Apathie (u.a. therapeutisch gestützt) aufgelöst werden. (vgl. Beutel 2014: 952) Dasselbe gilt für aggressive oder sarkastische Verhaltensweisen, wenn diese im Sinne des Selbstschutzes dazu dienen, Hilflosigkeit oder Trauer zu verleugnen. (vgl.

Grosz 2014: 164f.)

Die vielseitigen Wechselbezüge um Trauer, Traurigkeit und Depression bzw. Me-lancholie manifestieren sich auch darin, dass Aristoteles unter seinen Definitionen keinen dieser Begriffe führt. Sehr wohl jedoch finden sich die darunter gefassten affek-tiven Merkmale in den Definitionen anderer Emotionen wieder: „Scham sei definiert als eine gewisse Art von Kummer und Beunruhigung“ (Aristoteles 2010: 94), „Mitleid 126 Vgl. Hagmann 1996.

sei definiert als eine Art Schmerz“ (ebd. 100), „da ja der Neid eine Art Kummer ist“

(ebd. 106), „Wenn nämlich Rivalität eine Art Schmerz ist“. (ebd. 108) Was diese deutlich unterschiedlichen Gefühle unterscheidet, liegt nicht in der Wahrnehmung verankert, sondern in den Gründen, die im Individuum Kummer und (Seelen-)Schmerz auslösen.

Bloßstellung, Neid, Missgunst, doch auch Empathie, d.h. kognitive Interpretationen, definieren erst diese Empfindung. Trauer aufgrund des Verlusts eines Menschen wird nicht erwähnt, was daran liegen könnte, dass dieses Konzept in der Antike rituell anders verankert ist. Sehr wohl wird jedoch anhand der Empathie als eines für andere empfundenen Schmerzes die soziale Komponente dieser Empfindung deutlich.

Dass Trauer auch in frühen Traditionen eine anthropologisch zentrale Kategorie darstellt, kann der folgende bekannte Ausschnitt aus Chrétien de Troyes’ Le Conte du Graal ou le Roman de Perceval (ca. 1185) illustrieren.127

‚[…] Pleurant ses fils, le père mourut de douleur. Quant à moi, j’ai dû mener une vie pleine d’amertume depuis sa mort. Vous étiez le seul réconfort que j’avais, la seule richesse; j’avais perdu tous les miens et Dieu ne m’avait rien laissé d’autre pour ma joie et pour mon bonheur.‘

Le jeune homme ne prêtait guère attention à ce que lui disait sa mère. ‘Donnez-moi donc à manger, dit-il. Je ne sais de quoi vous parlez, mais j’irais volontiers trouver le roi qui fait les chevaliers; et j’irai, quoi qu‘il en coûte à d’autres!‘ La mère le retient et le garde le plus longtemps possible, tout en lui préparant pour s’habiller une chemise de toile grossière et des braies taillées à la mode du pays de Galles, où l’on taille, il me semble, caleçons et chausses d’une seule pièce. Et il reçoit aussi une cotte avec un capuchon de cuir de serf sans manche. C’est ainsi que sa mère l’équipa. Trois jours, mais pas plus, il attendit; c’est tout ce que purent obtenir les caresses de sa mère. Alors elle éprouva une douleur extraordinaire, et l’embrassant, en larmes, elle le couvrit de baisers, lui disant: ‚J’éprouve une très grande douleur, mon fils, quand je vous vois sur le point de partir. Vous irez à la cour du roi, et vous lui direz qu’il vous donne des armes.

Il ne refusera, il vous les donnera, j’en suis sûre. […] Vous serez mal préparé sur toute la linge, et ce ne sera pas étonnant, je pense, puisqu’on ne sait pas ce que l’on n’a pas appris. […] Alors il ne s’attarda pas avantage, il prit congé de sa mère qui pleurait; déjà la selle était mise. (Troyes 1994: 697–700)

Als sich der kindlich-naive Perceval entschließt, sich den Rittern anzuschließen, erzählt die Mutter von Percevals älteren Brüdern, die in einer Schlacht verstorben

127 Ein zusätzlicher Grund für die Wahl dieses Beispiels besteht im Kontext dieser Arbeit darin, dass Gazdanov die Szene aufzugreifen scheint, als Nikolaj in Večer u Klėr (1929) sich von seiner Mutter verabschiedet, um in den Krieg zu ziehen. Die Ähnlichkeit besteht sowohl situativ (im Ankleiden, dem hastigen Abschied des Sohnes und den stark betonten, mehrfach perspektivierten Gefühlen der Mutter), als auch in den Umständen, dass Nikolajs jüngere Schwerstern und Vater bereits verstorben sind (was darüber hinaus an Gazdanovs eigene Lebensgeschichte er-innert). (vgl. I/126)

sind, woraufhin der Vater sie beweinte und an diesem Schmerz zugrunde ging (d.h.

an nicht bewältigter Trauer bzw. einer Depression). Die Mutter führt seither ein bitteres (d.h. freudloses) Leben und Perceval ist ihr einziger Trost. Erst in einer späteren Rückblende wird erzählt, dass sie ebenfalls vor Schmerz stirbt, als Perceval sie verlässt. Dieser sieht sie zwar weinend in Ohnmacht fallen, empfindet jedoch erst Jahre später Trauer darüber, als er zurückkehrt und die Umstände begreift (d.h.

nachdem er gereift ist und Trauerarbeit leisten kann). Die Aufbruchszene zeigt Per-ceval unreflektiert und gefühllos. Sehr deutlich werden dagegen die Emotionen der ihren Sohn einkleidenden Mutter dargestellt: anhand ihrer Tränen, explizit in der Erzählerrede und sogleich in ähnlichem Wortlaut (‚ich empfinde einen sehr großen Schmerz, mein Sohn‘) aus ihrem eigenen Mund.

Im Dokument Herausgegeben von Wolf Schmid (Seite 174-178)