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Zusammenfassung: Sprachphilosophische und theologische Zugänge zu einer existentialen Bibelhermeneutik

II. Das Wortgeschehen in der philosophischen Rezeption Paul Ricœurs

2. Was bedeutet Wortgeschehen? – Ricœurs Rezeption als eigener Entwurf

2.5. Zusammenfassung: Sprachphilosophische und theologische Zugänge zu einer existentialen Bibelhermeneutik

RICŒUR zitiert das Wortgeschehen beziehungsweise Sprachereignis als erklärungsbedürftigen theologischen Terminus, den er im Rahmen der Bibelhermeneutik einordnet und kritisiert.

Darüber hinaus scheint der Begriff ihm aber Anlass zu weiterführenden Überlegungen zu bieten. RICŒUR verwendet den Begriff selbst dabei selten, allerdings weisen die Beobachtungen an seinen bibelhermeneutischen Arbeiten darauf hin, dass seine Überlegungen sich mit dem theologischen Konzept vergleichen lassen. Dies lässt sich vor allem dadurch erklären, dass RICŒUR die Aufgabe der Theologie genauso wie EBELING und FUCHS bestimmt, indem er die Beschäftigung mit dem Wort Gottes in den Mittelpunkt stellt; die Theologen und der Philosoph bemühen sich also jeweils um den gleichen Interpretationsgegenstand. Während EBELING und FUCHS Theologie als Wortgeschehen / Sprachereignis verstehen, spricht RICŒUR von einer

„Theologie des Wortes“. Hier kann der Akzent gesehen werden, das „Wort“ als Phänomen hervortreten zu lassen. Um dieses genauer zu untersuchen beschränkt sich RICŒUR nicht darauf,

607 S.a. Fuchs 1968, 85. Zu der Parallele zwischen BULTMANNs „Glauben“ und RICŒURs „Sich-Verstehen vor dem Text“, s. Körtner 2001, 327.

140 der theologischen Interpretation des Wortes nachzugehen, sondern betrachtet das „Wort“ auch im bibelhermeneutischen Kontext aus linguistischer und philosophischer Perspektive. Von dieser Perspektive aus kritisiert er auch den theologischen Begriff des Wortgeschehens.

Sein Vorgehen rechtfertigt er methodisch dadurch, dass er das Wort Gottes als Wort der menschlichen Sprache ansieht und sich insofern auch andere hermeneutische Zugriffe nicht ausschließen, sondern im Gegenteil, eine philosophische Hermeneutik wesentlich zum Verständnis des theologischen Begriffs beitragen kann. Die unterschiedlichen hermeneutischen Perspektiven kommen nicht zu einer Lösung in dem Sinne, dass eine Interpretation die andere überflüssig machte; vielmehr gelten beide und müssen sich stets um eine Verhältnisbestimmung bemühen. Je intensiver die Auseinandersetzung, desto klarer wird der Interpretationsgegenstand. Dementsprechend lassen die bibelhermeneutischen Überlegungen EBELINGs, FUCHS‘ und RICŒURs gemeinsame Aspekte zum Wortgeschehen, oderallgemeiner

„Wort“, erkennen.

Das entscheidende Merkmal eines Wortgeschehens ist sein Existenzbezug, sofern sich menschliche Existenz in ihm ausdrückt und durch das Wort verändert wird. Während die Theologen diesen Aspekt aus anthropologischer Perspektive darstellen, indem sie die fundamentale Beziehung des Menschen zur Sprache beleuchten, zeigt RICŒUR diesen Existenzbezug anhand der biblischen Redeformen auf. Er schließt also von den Texten und ihren Strukturen auf die darin geäußerte Gottesbeziehung, also den Glauben als existenzbestimmendes Bekenntnis. Im Sinne dieser Reihenfolge, also vom Phänomen des Textes her, betrachtet er auch den hermeneutischen Prozess, in dem der Mensch ein neues Selbstverständnis „vor dem Text“ erhält. RICŒURs Frage ist daher: Was sind die Eigenschaften des Textes, die diesen Prozess auslösen? Wie ermöglicht der Text einen hermeneutischen Prozess und welcher Art ist dieser? Hier ist der Aspekt des „Geschehens“ oder „Ereignisses“

enthalten, weil diese Fragen auf den situativen Prozess zielen, in dem der Mensch dem Wort begegnet. Im Verstehen ereignet sich der Text, das heißt, er wird wieder zur Rede, er aktualisiert sich. EBELING und FUCHS betrachten den gleichen hermeneutischen Prozess aus theologischer Perspektive. In der Offenbarung erweist sich die Macht des Wortes und erfordert nun eine Reflexion über die Wirkung des Wortes im Menschen. Daher steht der Glaube im Vordergrund, der auf das Wort antwortet und es damit erfüllt. Indem der Mensch im Glauben auf das Wort hört, lässt er sich durch das Wort zu einer neuen Existenz bestimmen, die er nicht selbst entwirft.

So wird der Mensch schließlich frei, die Wahrheit über sich zu erkennen. Jeder Versuch, sich in sich selbst zu begründen, ist zum Scheitern verurteilt. Der Glaube als Gehorsam gibt sich

141 eben nicht selbst Antwort, sondern versteht das Wort bereits als Existenzbegründung, das dem Menschen als geliebtem Geschöpf Gottes Nähe zuspricht. Aus dieser Perspektive können dann theologische Aussagen getroffen werden: Erst im Glauben erweist sich das Wort Gottes als heilsames Wort und der Text als Offenbarung.

RICŒUR sieht diesen hermeneutischen Zirkel nicht als Problem an, sondern als sachgemäße Struktur und bewertet ihn daher positiv. Den Glauben stellt er folglich explizit als unverzichtbare Verstehensbedingung heraus, gerade weil sich der Glaube aus den Texten begründet. Wie auch die Theologen folgt RICŒUR darin BULTMANNs Diktum, dass es notwendig ist zu glauben, um zu verstehen und zu verstehen, um zu glauben.608 Es geht dabei um ein Erfassen der Textstruktur oder der inhaltlichen Aussage im Zusammenspiel mit existentialem Verstehen, also den Text auf das eigene Leben zu beziehen. Erst in diesem Verstehen erweist der Text seine Bedeutung für den Glauben, sodass er heilsam und zur Offenbarung wird. Im Hintergrund steht dabei RICŒURs grundlegende Überzeugung, dass ein unmittelbares Selbstverständnis nicht möglich ist. Unter den vielfältigen Vermittlungsmedien stellt die religiöse Sprache dasjenige Medium dar, das das Selbstverständnis des Menschen über die Gottesbeziehung bestimmt.

In religiöser Sprache ereignet sich eine Unmittelbarkeit des Absoluten, die in den Texten bezeugt wird und in der Begegnung mit ihnen immer wieder erfahrbar ist. Auch wenn der Glaube sich auf die Bekenntnisse seiner Tradition bezieht, die wiederum ihrerseits frühere Zeugnisse rezipiert, wie etwa das Neue Testament das Alte, steht die Erfahrung einer Offenbarung am Ende und damit am Anfang der Rezeptionskette. Aus rückwärtiger Perspektive können wir schließen, dass diese Erfahrung als geschichtliches Ereignis Auslöser und Bezugspunkt der Zeugnisse war, die uns bekannt sind.

Für die Theologen steht die theologische Deutung dieser Offenbarung im Vordergrund, weil ihre Struktur und nicht die Historizität es ermöglicht, den Glauben zu begründen. Der Glaube hängt nicht von einem bestimmten geschichtlichen Ereignis ab, sondern davon, ob wir uns auf das – seinerseits geschichtlich überlieferte und theologisch immer wieder zu aktualisierende Wortgeschehen einlassen.

Insgesamt kann man also eine große Schnittmenge zwischen dem theologischen Konzept des Wortgeschehens und RICŒURs Bibelhermeneutik erkennen. Diese umfasst neben der Reflexion auf das „Wort“, also auf die Sprache, auch das Verstehen von und durch Sprache. Damit

608 Ricœur 1969g, 382.

142 verknüpft sich zum einen das Verstehen der Wirklichkeit, zum anderen aber zentral das Selbstverständnis der menschlichen Existenz. Im Bereich der religiösen Sprache sind Offenbarung und der Glaube zirkulär aufeinander bezogen, weil sie sich wechselseitig bedingen. Hier wird BULTMANNs Einfluss auf alle Konzepte sehr deutlich.

Insofern bewegen sich der Philosoph und die Theologen von den zwei Polen des Phänomens auf das gemeinsame Zentrum zu, nämlich die Begegnung des Menschen mit Gott im Wort, jenes Ereignis, das die Theologen Wortgeschehen nennen. Bei RICŒUR gibt es keinen Begriff, der sich unmittelbar mit dem theologischen identifizieren lässt, vielleicht weil er den theologischen Begriff grundsätzlich problematisiert. Vielmehr beschreibt er den gemeinten Sachverhalt umfassender mit einem hermeneutischen Prozess.

Dennoch lassen sich neben dieser grundlegenden Parallele verschiedene Fragerichtungen und Interessenfelder ausmachen: Während RICŒUR,der nach hermeneutischen Strukturen für das menschliche Selbstverständnis sucht,am Phänomen der Sprache interessiert ist, steht für die Theologen der Mensch im Vordergrund, weil es ihnen eigentlich um die Offenbarung Gottes an den Menschen im Wort geht. Entsprechend kommt der „Interpretation“ bei RICŒUR große Bedeutung zu, sowohl auf der Ebene theoretischer Reflexionen, als auch hinsichtlich konkreter methodischer Schritte. Gerade über diesen sprachphilosophischen und hermeneutischen Zugang zielt RICŒUR auf Fragen der Identität und des Selbstverständnisses. Bei den Theologen ist die Reflexion auf Sprache mit dem theologischen Deutungsrahmen verbunden und damit auch mit einem bestimmten Selbstverständnis. Der Begriff Wortgeschehen ist dementsprechend vor allem theologisch begründet, das heißt genauer: als Konzept christologisch verankert und folglich bildet er auf allen Ebenen der Beziehung zwischen Gott und Mensch das zentrale Interpretationskonzept. Mit dieser Begründung beansprucht das theologische Wortgeschehen universale Gültigkeit.

RICŒURs Kritik zielt nun genau auf diese Universalität wegen der mangelnden hermeneutischen Reflexion der Sprache und des Geschehens, die im Wortgeschehen gemeint sind. Nach seinem Ansatz muss der Begriff in einen differenzierteren hermeneutischen Zusammenhang gestellt werden, das heißt, der Begriff löst nicht die hermeneutischen Probleme, die eine „Theologie des Wortes“ bearbeiten muss. Im Bereich des „Wortes“ erfordert es vielmehr eine Reflexion der unterschiedlichen biblischen Sprachformen; im Bereich des „Geschehenes“ ist ein genaueres Konzept des Wirklichkeitsbezuges von Sprache auszuarbeiten, das RICŒUR mit seinem hermeneutischen Prozess vorlegt. Als Besonderheit der religiösen Sprache, die von

143 einer Gottesbegegnung zeugt, zeigt sich, dass dieser Prozess gewissermaßen eine „Hermeneutik des Vertrauens“ ist.609 Der Interpret vertraut darauf, dass die Texte etwas über sein Leben zu sagen haben, wobei kritische Texterklärung und historische Einordnungen keineswegs ausgeschlossen sind, sondern im Gegenteil diese existentiale Bezugnahme vertiefen und bereichern. Dieses Vertrauen ist darin begründet, dass es in der Tradition der Rezipienten vermittelt wird und diese sich wiederum auf die Glaubwürdigkeit des – nicht mehr zugänglichen − ursprünglichen unmittelbaren Zeugnisses beruft. Damit legt RICŒUR im Grunde eine Interpretation des biblischen Kanons vor, die zum einen seine innertextliche Kohärenz bestimmt und zum anderen seine außertextliche Bedeutung für den Glauben aufweisen will.610

Diese Überlegungen zur Bibelhermeneutik, zu denen das Konzept des Wortgeschehens gehört, sind nur ein Anwendungsbereich von RICŒURs ausführlichen Auseinandersetzungen mit hermeneutischen Problemen. Es stellt sich die Frage, vor welchem philosophischen Hintergrund RICŒUR seine Kritik an dem theologischen Konzept äußert und wie sich seine Bibelhermeneutik zu seinem Gesamtentwurf ins Verhältnis setzt. Dies ist vor allem deswegen relevant, weil der weitestgehende Kritikpunkt RICŒURs die theologische Interpretation des Verhältnisses von Sprache und Wirklichkeit betrifft. Hier als eine christologische Begründung auf das Wort Gottes zu verweisen, das Grund und Maßgabe dieses Verhältnisses ist, überzeugt den Philosophen nicht. Stellen FUCHS und EBELING auch allgemeine anthropologische Überlegungen zur Bedeutung der Sprache für die menschliche Existenz an, die in einigen Aspekten auch auf HEIDEGGERs seinsphilosophische Überlegungen zurückgreifen, handelt es sich doch letztlich um ein theologisches Konzept. Während RICŒUR nicht bestreitet, dass diese theologische Verhältnisbestimmung aus der Perspektive des Glaubens gültig ist, sucht er doch nach anderen Wegen der Begründung. Auch RICŒUR versucht, eine ontologische Dimension von Sprache zu beschreiben und ist daran interessiert, eine existentielle Hermeneutik zu begründen – seinerseits ebenso in Bezug auf HEIDEGGER, allerdings nicht im Zusammenhang von dessen theologischer Rezeption. Am Ende vertritt RICŒUR tatsächlich eine durchaus vergleichbare Auffassung des hermeneutischen Zusammenhangs, allerdings setzt er bei sprachphilosophischen Fragen an: Wie kann die Eigenständigkeit sprachlicher Strukturen begründet werden, sodass sie ihre Auslegung mitbestimmen oder sogar steuern, ohne auf eine

609 So könnte man die theologisch-hermeneutische Entsprechung zur „zweiten Naivität“ („seconde naïveté“

(Ricœur 1988b, 483 u.ö), vgl.u., S.170) der philosophischen Hermeneutik in Anlehnung an RICŒURs

„Hermeneutik des Verdachts“ („herméneutique du soupçon“, z.B. Ricœur 1995b, 38) nennen.

610 Eine bemerkenswerte Konsequenz ist es, die traditionelle Autorität des Kanons als eine sinngebende Verbindlichkeit zu interpretieren.

144 Referenz zur Wirklichkeit zu verzichten? Und inwiefern kann Sprache die existenzverändernde und identitätsstiftende Funktion übernehmen, die RICŒUR in seiner Bibelhermeneutik annimmt?

Die Beantwortung setzt bei konkreten sprachlichen Strukturen an, nämlich Symbol, Metapher und Text, und soll im Rahmen dieser hermeneutischen Konzeptionen dargestellt werden.

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