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Die Texthermeneutik: Textverständnis ist Selbstverständnis

II. Das Wortgeschehen in der philosophischen Rezeption Paul Ricœurs

3. Philosophische Vertiefung: Der hermeneutische Prozess

3.3. Der Text

3.3.1. Die Texthermeneutik: Textverständnis ist Selbstverständnis

Die Autonomie von den Diskursmerkmalen eröffnet nun, gerade weil sie nicht unmittelbar zugänglich sind, hermeneutische Zugänge. Unabhängig von einem konkreten Sprecher stellt der Text ein objektives Werk dar, das als solches erklärt werden kann.737 Hier bieten strukturale Analysen das geeignete Instrumentarium, um den Text sprachwissenschaftlich als Werk zu erfassen.738 Obwohl sich diese Art der Analyse auf das Innere des Textes beschränken will, treten durch sie die Beziehungen des Textes zur Welt auf einer tieferen Ebene wieder auf. Die strukturale Analyse führt zu der Frage, welchen Sinn der Text hat und zwar nicht mehr auf der Ebene einer oberflächlichen Verweisstruktur, sondern auf der Ebene einer „Tiefensemantik“.739 Mit diesem Begriff versucht RICŒUR die texteigene Intention zu erfassen, einen Sinn, der in den Textstrukturen selbst gegeben ist. Darunter ist eine Dynamik zu verstehen, nämlich den Bezug des Textes auf existentiale Strukturen des Seins. Dieser wird daran deutlich, dass die Analyse des Textes Fragen des Seins aufwirft, also die Sinnfrage im existentialen Sinne stellt;

735 Ricœur 1986e, 188.

736 Ricœur 1986e, 186f (nur noch eingeschränkt Sprechakt / Sprachereignis), 187 (Autor), 188 (direkter Wirklichkeitsbezug), 189 (Adressaten); vgl. auch Ricœur 1986g, 139 (Autor), 140f (direkter Wirklichkeitsbezug).

737 Je mehr, desto besser, Ricœur 1983, 12: „En conséquence, qu'il s'agisse de métaphore ou d'intrigue, expliquer plus, c'est comprendre mieux.“ („Schließlich, ob es sich nun um Metapher oder Handlungsverlauf handelt, mehr erklären, heißt besser verstehen.“). Zur Objektivität des Textes: Ricœur 1986e, 199.

738 Ricœur 1986c, 166. Ausführliche Darstellung anhand von LÉVI-STRAUSS‘ Mythenanalyse: Ricœur 1986e, 207f und Ricœur 1986g, 145-151.

739 Ricœur 1986e, 207: „d’une sémantique de surface […] à une sémantique de profondeur“ („von einer Oberflächensemantik zu einer Tiefensemantik“).

169 zum anderen zeigt sich diese Dynamik darin, dass der Interpretation selbst ein existentialer Bezug abgefordert wird. RICŒUR sieht in der Zeitlichkeit eine wechselseitige Verbindung zwischen Text und Existenz:740 Wie menschliche Erfahrungen wird ein Text nach Zeiteinheiten strukturiert. Ein erzählender Text ordnet menschliche Erfahrungen in einer zeitlichen Reihenfolge. Diese wechselseitige Beziehung, die sich in der Dynamik der Tiefensemantik ausdrückt, begründet den Zusammenhang von Fiktion, Geschichte und Zeit.741

Die Autonomie des Textes von seinen ostentativen Bezügen, also Bezügen auf eine Situation oder Welt, öffnet die Interpretation dafür, einen sinnvollen Weltbezug erneut zu erschließen.

Diese neue Referenz kann zunächst im Verhältnis zu anderen Texten bestimmt werden und besteht somit in der fiktiven Welt der Literatur.742 Die Leserin ist gefordert, eine Hypothese über die Bedeutung des Textes aufzustellen und zwar nicht „subjektiv“, im Sinne von willkürlich, sondern unter Rückgriff auf die linguistische Erklärung des Textes.743 Dabei kann es dennoch zu mehreren möglichen Bedeutungskonstruktionen744 kommen, wie das Phänomen der Rezeptionsgeschichte zeigt. Die erste Rezeption geschieht bereits auf textlicher Ebene, durch intratextuelle Bedeutungskonstruktionen legt der Text also quasi selbst seine eigene Interpretationstradition an, in die sich die folgenden Interpretationen eingliedern.745 In diesem Sinne spricht RICŒUR von „objektiven“746 Bedeutungskonstruktionen, die nämlich anhand der Textstruktur bestätigt oder verworfen werden. Somit besteht ein Interpretationsrahmen, den der Text selbst vorgibt und in dem sich eine Tradition bildet, auf die die jeweils aktuelle Interpretation aufbaut. Zwar ist die Leserin Subjekt der Interpretation, weil sie Strukturen erklärt und Bedeutung konstruiert, allerdings geht die Interpretation vom Text aus und muss

740 Dies ist das Thema seiner drei großen Bände „Temps et Récit“ sowie von „La mémoire, l’histoire et l’oubli“.

Die konkrete These ist kurz zusammengefasst in Ricoeur 1991a, 3f. Diesen Zusammenhang sieht auch Porée 2013, 40. Vgl. Vandevelde 2008, 141: „Narratives are ontological layers, part and parcel of the paste of actions and experiences.” (Er weist auf RICŒURs Rezeption von HUSSERL und HEIDEGGER hin).

741 „By treating the temporal quality of experience as the common reference of both history and fiction, I make of fiction, history, and time one single problem.” (Ricoeur 1991a, 3).

742 Ricœur 1986g, 141.

743 Ricœur 1986g, 155f, bes. 156: „Chercher, en deçà de l’opération subjective de l’interprétation comme acte sur le texte, une opération objective de l’interprétation qui serait l’acte du texte.“ („Diesseits einer subjektiven Interpretationsoperation als Handlung am Text eine objektive Interpretationsoperation zu suchen, die die Handlung des Textes wäre.“).

744 „conjectures“ (engl. „guess“), „‚construire‘ la signification“ (engl. „‘construe’ meaning“), Ricœur 1986e, 200 (engl. Ricoeur 1991b, 158). In der deutschen Übersetzung (Ricœur 1978, 102) problematischerweise mit

„Deutungshypothesen“ und „Sinngehalt ‚konstruieren‘“ wiedergegeben, sodass nicht zwischen Sinn, Deutung und Bedeutung („couches de signification“/ „layers of meaning“ werden mit „Bedeutungsebenen“ übersetzt) differenziert wird. Ich halte mich an die bereits eingeführte Terminologie (s.o., S.159, Anm.688).

745 Ricœur 1986g, 156, erläutert am Beispiel von Gen1,1-2,4a (unter Verweis auf: Ricœur 1971c). Zum Verhältnis unterschiedlicher Interpretationen vgl. Ricœur 1986e, 201-203.

746 Bes. Ricœur 1986e, 199f: „signification objective“.

170 sich an ihm messen lassen. Mit dieser Priorität über die Interpretation und seinem „Vetorecht“

erhält der Text in RICŒURs Verständnis eine weitgehende Autonomie über seine Hermeneutik, bis hin zur Hypostasierung.747 Das Verstehen ist in erster Linie nicht durch Autor oder Auslegerin, sondern durch den Text selbst bestimmt: „Comprendre un texte, c’est suivre son mouvement du sens vers la référence.“748 Die „Sache“ oder „Welt des Textes“ ist der eigentliche Gegenstand des Verstehens.749

Insofern vermittelt die strukturale Texterklärung zwischen einer objektiven Betrachtung des Textes, die seine außertextlichen Referenzen offen lässt, und der subjektiven Aneignung, die durch die Tiefensemantik des Textes gefordert wird.750

Der Verstehensprozess hat schließlich eine identitätsstiftende Pointe, weil er damit abgeschlossen wird, dass die Leserin sich die Wirklichkeitsdeutung des Textes aneignet.751 Die wesentliche Voraussetzung dafür ist, dass der Text eine aktive Rolle im hermeneutischen Prozess einnimmt und sich sein Gegenüber bildet.752 Zwar ist er als Schriftstück losgelöst von seinen ursprünglichen Adressaten, öffnet sich aber gerade deswegen als Diskurs für eine neue Leserin. Dieser Aktivität des Textes entspricht eine grundlegende Passivität des Selbstverständnisses: „Le soi est constitué par la « chose » du texte.“753 Der Text vermittelt eine fiktive Wirklichkeitsdeutung und ein ebenso fiktives Selbstverständnis mit dem Standpunkt der Leserin. Diese Fiktion lässt sich nämlich mit der Wirklichkeitswahrnehmung der Leserin nicht reibungslos in Einklang bringen, vielmehr erscheint sie als „Verfremdung“.754 Wie die Wirklichkeit allgemein, so ist auch das Selbstverständnis der Leserin angesichts des Textes herausgefordert, sich in die vorgeschlagene Fiktion hineinzudenken, um sie zu verstehen. Die Leserin muss sich dazu von ihrem eigenen Welt- und Selbstentwurf entfernen, um sich auf den fremden Entwurf des Textes einzulassen, das heißt, die im Text imaginierten Möglichkeiten mit der eigenen Wirklichkeit in Beziehung zu setzen.755 Aus der Perspektive des Textes

747 Z.B. sichtbar an diesem Vergleich: „[le texte] est un individu, comme l’est un animal ou une œuvre d‘art“

(Ricœur 1986e, 201) („[der Text] ist ein Individuum, wie ein Lebewesen oder ein Kunstwerk“).

748 Ricœur 1986e, 208 („einen Text verstehen heißt seiner Bewegung vom Sinn zur Referenz folgen.“).

749 „chose du texte“; „monde du texte“ (Ricœur 1986c, 168).

750 Ricœur 1986c, 168; Ricœur 1986e, 208. Es geht bei der „Aneignung“ darum, sich die Bezüge des Textes bewusst zu machen.

751 Hier nimmt RICŒUR eine rezeptionsästhetische Perspektive ein, ohne jedoch auf eine gewisse Eigenständigkeit des Textes auch gegenüber seiner Leserin zu verzichten (Ricœur 1983, 116f). Ricœur 1986d, 115-117.

752 Ricœur 1986d, 116.

753 Ricœur 1986d, 117 („Das Selbst ist konstituiert durch die ‚Sache’ des Textes.“).

754 Ricœur 1986d, 112 u.ö. (als deutsches Fachwort). Der Begriff „Verfremdung“ stammt von GADAMER, wird aber durch seine Funktion im Interpretationsprozess deutlich aufgewertet. Vgl. Ricoeur 1991a, 6: „the world of the text necessarily collides with the real world.“

755 Ricœur 1986d, 117.

171 formuliert, geht RICŒUR eben soweit, dass die Welt des Textes das Selbst konstituiert.756 Dabei erweitert sich das eigene Welt- und Selbstverständnis, weil es sich selbst in die Welt des Textes projiziert und sich zu ihr in Beziehung setzen muss. Die zunächst negativ erscheinende Selbstentfremdung hat die positive Folge, dass sich das Selbst neu und anders verstehen kann.757

Diese Fähigkeit des Textes ist also mit der schöpferischen Funktion der Metapher vergleichbar, die ebenso eine neue Deutung der Wirklichkeit ermöglicht, weil der hermeneutische Prozess sie bewirkt. Wieder handelt es sich um das Freilegen einer zweiten, tieferen Referenz, die auf das Sein zielt.758 Entscheidend ist erneut die Voraussetzung, dass auch und gerade die Sprache der fiktiven Texte Wahrheit ausdrücken kann, aber eben auf andere Weise als es eine deskriptive Sprache tut.759

Damit kehrt das Verstehen des Textes gleichzeitig wieder zur Rede zurück, denn der Text wird durch die Aneignung wieder eine aktuelle Rede, die bestimmte Bezüge erhält.760 Das hermeneutische Vorgehen ergibt sich also aus dem Phänomen des Textes selbst.

In der Auseinandersetzung mit anderen hermeneutischen Entwürfen ist es RICŒUR wichtig, dass in der Interpretation Texterklärung und Textverstehen stets aufeinander bezogen werden, weil auch Textstruktur und Textsinn aufeinander bezogen sind.761 Beide Verstehensebenen verbinden sich im Entwurf der Textwelt: Die Erklärung deckt ihrerseits aus der inneren Kohärenz eine Beziehung des Textes zur Welt auf; im Verstehen sucht die Leserin nach der Wirklichkeitsdeutung, die der Text anbietet. Schließlich ist es das Ziel der Interpretation, ein

756 Nochmals: Ricœur 1986d, 117. Vgl. Ricoeur 1991a, 15. Spätestens mit dieser Spitzenaussage dürfte er den rezeptionsästhetischen Ansatz verlassen haben.

757 S. die Suggestivfrage zu dieser Fähigkeit der Einbildungskraft, Ricœur 1972, 112: „Ne sommes-nous pas prêts à reconnaître dans le pouvoir de l'imagination, non plus la faculté de tirer des «images» de notre expérience sensorielle, mais la capacité de laisser de nouveaux mondes façonner la compréhension de nous-mêmes?“ („Sind wir nun nicht soweit, in dem Vermögen der Einbildungskraft zu erkennen, dass es nicht nur Fähigkeit ist, ‚Bilder‘

unserer Sinneserfahrung hervorzubringen, sondern die Kapazität, neue Welten das Verständnis von uns selbst herstellen zu lassen?“).

758 Ricœur 1983, 11; Ricœur 1986d, 114, Seinsbegriff mit Bezug auf HUSSERL („Lebenswelt“) und HEIDEGGER („être-au-monde“: „In-der-Welt-Sein“). Ricœur 1986f, 221: Die Fiktion habe eine „force heuristique“

(„heuristische Kraft“).

759 Ricoeur 1991a, 2; 11f und weitergehend: 20 (Sprache hat grundsätzlich eine ontologische Dimension).

760 Ricœur 1986g, 151.

761 Ricœur 1986c; Ricœur 1986e, 199. Vor allem gegen DILTHEYs Trennung von Erklären (naturwissenschaftliches Arbeiten) und Interpretieren (geisteswissenschaftliches Arbeiten) vertritt RICŒUR eine dialektische Beziehung zwischen beiden Ebenen: Ricœur 1986e, 162-168; Ricœur 1986g, 137, und ausführlicher 142f; sowie 145f.

172 Verständnis des Seins zu entwickeln und zwar ausgehend vom Text: „Interpréter, c’est expliciter la sorte d’être-au-monde déployé devant le texte.“762

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