• Keine Ergebnisse gefunden

Rezeption des theologischen Konzepts aus hermeneutischer Perspektive

II. Das Wortgeschehen in der philosophischen Rezeption Paul Ricœurs

4. Fazit: Das Wortgeschehen in philosophischer Rezeption

4.1. Rezeption des theologischen Konzepts aus hermeneutischer Perspektive

RICŒUR befindet sich mit seinem eigenen Ansatz in dem gleichen Diskussionskontext wie die Theologen der Hermeneutischen Theologie. Wie sie setzt sich auch der Philosoph mit HEIDEGGER und BULTMANN beziehungsweise deren gemeinsamem Problem der existentialen Hermeneutik auseinander. Auch RICŒUR versteht folglich die Hermeneutik in einem umfassenden Sinne, sodass er sich zwar mit dem engeren Feld der Verstehenslehre, also den Methodenfragen der Textauslegung, beschäftigt, aber sich darüber hinaus für den Zusammenhang von Sprache und Wirklichkeit, das heißt hermeneutisch: Verstehen und Existenz interessiert. Diese Verbindung erklärt, warum sich RICŒUR dem theologischen Konzept des Wortgeschehens annähert und sich auch darüber hinaus mit hermeneutischen Fragen der Theologie, besonders der biblischen Exegese beschäftigt. Zwar stellt die Auseinandersetzung mit BULTMANN einen prägenden Schritt für RICŒUR dar,785 zahlreiche Verweise zeigen aber, dass er sich davon ausgehend bemüht, auf dem aktuellen Stand der theologischen Diskussion zu bleiben und daher auch FUCHS, EBELING und JÜNGEL einbezieht.

RICŒUR fasst das Wortgeschehen berechtigterweise als Zentrum der Hermeneutischen Theologie auf, weil sich hieran deren hermeneutische Position festmachen lässt.

Er kennt die jeweiligen Ausdrücke der Autoren, differenziert aber in seiner Auseinandersetzung die damit verbundenen theologischen Unterschiede nicht. Dies gibt bereits einen Hinweis darauf, dass RICŒURs Interesse vor allem dem hermeneutischen Konzept und weniger den konkreten theologischen Entwürfen gilt.786 Ebenso wenig berücksichtigt RICŒUR explizit die Rezeption HEIDEGGERs, die besonders FUCHS‘ Entwurf erkennen lässt. Dennoch wird deutlich, dass RICŒUR die systematischen Verbindungen sieht, weil erHEIDEGGERs Sprachverständnis im weiteren Rahmen der Auseinandersetzung einbringt.787 Insofern ist die Kritik, dass das Wortgeschehen sich nicht mit entsprechenden Konzepten aus den Nachbarwissenschaften auseinandersetzt, in diesem Punkt einzuschränken. Allerdings behält RICŒUR grundsätzlich Recht, weil die Auseinandersetzung keineswegs explizit und auf erkennbare Weise kritisch

785 Andere Theologen, die RICŒUR rezipiert (etwa VON RAD, PANNENBERG oder MOLTMANN), kommen hier nur am Rande oder gar nicht in Betracht, weil sie nicht zur Sache beitragen.

786 Obgleich er sich mit BULTMANNs und EBELINGs Entwürfen durchaus auch im Ganzen auseinandergesetzt hat (Ricœur 1967b; Ricœur 1969g u.ö.).

787 Vgl. auch die Einordnung in Ricœur 2006b, 76f.

182 verläuft und darüber hinaus neben der Verbindung zu HEIDEGGER die Berücksichtigung weiterer außertheologischer Positionen nicht klar auszumachen ist.

RICŒUR wendet sich vor allem deswegen der Theologie zu, weil er nach einer ontologischen Dimension von Sprache sucht, also nach sprachlichen Strukturen, die auf die Verbindung zur Existenz des Menschen oder sogar zur übergeordneten Verbindung mit dem Sein hinweisen.

Diese Suche hat RICŒUR dann hermeneutisch auf verschiedene Sprachformen ausgeweitet, wobei sein besonderes Interesse denjenigen Sprachformen gilt, die scheinbar dem Bereich der

„uneigentlichen“ Sprache angehören, wie das Symbol oder die Metapher. Also Sprache, die nicht direkt beschreibend funktioniert oder deren Referenz in der Wirklichkeit nicht unmittelbar erkennbar ist. Darunter fällt auch die religiöse Sprache, die RICŒUR im Rahmen von bibelhermeneutischen Überlegungen, aber auch in der Reflexion auf das religiöse Bekenntnis daher genauer untersucht. Er analysiert, dass religiöse Sprache menschliche Lebenserfahrung nicht einfach beschreibt, sondern „neubeschreibt“788, das heißt, die Erfahrung auf einen neuen Bezugspunkt außerhalb der unmittelbar wahrnehmbaren Wirklichkeit bezieht und sie aus dieser Perspektive neu interpretiert. Darin wird nicht eine andere Wirklichkeit, sondern vielmehr die Tiefendimension der wahrnehmbaren Wirklichkeit erkennbar. Für diese Überlegungen kann RICŒUR auf BULTMANNs Ansatz, aber auch auf weitere hermeneutisch-theologische Positionen zurückgreifen.

RICŒURs Ansatz unterscheidet sich dann allerdings in der Begründung dieser ontologischen Dimension. Führen hier die Theologen eine theologische, genauer christologische Begründung an, die sich auch als leitendes Muster hinter ihrem Sprachverständnis zu erkennen gibt, setzt RICŒUR sprachphilosophisch beziehungsweise linguistisch an. Leitend ist dabei die Frage, wie sich ein sprachliches Phänomen am besten verstehen lässt. Dazu gehört in jedem Fall eine gründliche Analyse der Struktur und Kohärenz, aber auch die Berücksichtigung der Gattung beziehungsweise Form des sprachlichen Phänomens. RICŒUR zieht hierfür die strukturale Sprachphilosophie ebenso heran wie die Sprechakttheorie und die analytische Philosophie. Wie sehr er auch die Bedeutung dieser Ansätze betont und immer wieder in seine Methodendiskussion aufnimmt, so stellen sie für sich genommen nur die erste Stufe des Verstehensprozesses dar. Zwar ist diese Erklärung, also die Arbeit auf der sprachlichen Ebene, unverzichtbar, dennoch bedarf es anschließend einer Interpretation, die auf dieser Grundlage

788Religious language […] redescribes human experience” (Ricoeur 1975, 127, kursiv von mir, s.a. das ausführliche Zitat o., S.139, Anm. 537).

183 die Bedeutung ermittelt. Beide Zugangsweisen zum Text stehen für RICŒUR nicht unvermittelt oder gar in Konkurrenz nebeneinander, vielmehr verweist die Erklärung bereits selbst auf die Interpretation als weitere Stufe des Verstehens, sowie die Interpretation sich auf die Grundlage der Erklärung stützt.

So lassen sich gerade „uneigentliche“ Sprachformen nicht allein oder sogar gar nicht auf der Ebene der ersten Referenz verstehen. Vielmehr ist verkürzt gesagt eine existentiale Interpretation nötig, um die volle Bedeutung dieser Ausdrücke zu erfassen. Dies wertet RICŒUR

so, dass diese Phänomene „uneigentlicher“ Rede selbst eine existentiale Dimension transportieren, die gerade den Kern ihrer Bedeutung ausmacht und daher durch entsprechende Methoden sichtbar gemacht werden muss. Entsprechende Zusammenhänge sieht er auch allgemein für sprachliche Phänomene, vor allem den Text. Weil der Text ursprünglich in einem Lebenszusammenhang, in einer bestimmten Situation gesprochen wurde, gilt es, diesen Lebensbezug neu zu erfassen. Je nach Sprachform ist also der Bezug auf eine existentiale Ebene anders gestaltet, da er aber immer vorhanden ist, gehört er in den Verstehensprozess, er drängt sogar selbst dazu, verstanden zu werden. Weil Sprache eine existentiale Ebene hat, ist sie nach RICŒUR gewissermaßen unverfügbar, im hermeneutischen Prozess äußert sich dies als Eigenständigkeit des Textes gegenüber den Entstehungsbedingungen und auch gegenüber dem Interpreten.

Insofern geschieht oder ereignet sich das Wort auch nach RICŒUR, sodass seine Überlegungen durchaus dem theologischen Interesse dienen, Sprache theologisch als Ereignis zu interpretieren und Theologie als Theologie des Wortes zu verstehen. RICŒURs Kritik mahnt allerdings an, dass die linguistische Ebene dieser Sprachtheologie nicht vernachlässigt werden darf. Da es sich bei dem Wortgeschehen seinem Anspruch nach zumindest auch um ein hermeneutisches Konzept handelt, sollte es in dieser Hinsicht ausgearbeitet werden. Seiner Ansicht nach werden die Theologen der Sache nicht gerecht, wenn sie das Wortgeschehen als ein theologisches Ideal verwenden, das die Offenbarung auf ihre sprachliche Dimension beschränkt. Mit diesem Kritikpunkt hat RICŒUR die zentrale hermeneutische Schwierigkeit getroffen. Zwar muss RICŒURs Kritik in der Hinsicht relativiert werden, dass man den geforderten Geschichtsbezug durchaus in den theologischen Konzepten nachweisen kann, schon allein weil der historische Jesus eine wichtigere Stellung gegenüber BULTMANNs reinem

„Daß“ einnimmt. Allerdings gilt der Vorwurf des Idealismus durchaus insofern, als dass die Offenbarungsgeschichte kurz gesagt selbst zum Wortgeschehen wird. Die Spannung zwischen

184 den sprachlich überlieferten Zeugnissen und den geschichtlichen Ereignissen lösen die Theologen nämlich so, dass das, was in den Ereignissen zur Sprache gekommen ist, relevant ist.789 Der Sprachbegriff wird zugunsten der theologischen Deutung extrem ausgeweitet, beziehungsweise die Wirklichkeit unter die Sprache subsummiert.

In seinem eigenen Entwurf versucht RICŒUR das Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit anders zu bestimmen. Dabei geht er über die theologische Konzeption hinaus. Mit seiner vorwiegend hermeneutischen Perspektive steht die theologische Deutung von Sprache nicht im Vordergrund, sondern ergibt sich gewissermaßen eher als eine mögliche Konsequenz. Im Detail zeigt sich dies daran, dass RICŒUR das Wortgeschehen mithilfe des Sprechaktes deutet, es also im Rahmen sprachphilosophischer Entwürfe verortet, wovon die Theologen bewusst Abstand nehmen. Folglich erfüllen sie nicht die Forderung nach einem linguistisch und hermeneutisch differenzierten Begriff, wie RICŒUR auch kritisiert. Das theologische Interesse ist es viel mehr, dieselbe hermeneutische Struktur für verschiedene Ebenen des Heilsgeschehens zu kennzeichnen und dadurch ihre Zusammengehörigkeit aufzuzeigen.

Die hermeneutische Perspektive RICŒURs ist nicht nur der Ausgangspunkt, sondern auch der Maßstab, den RICŒUR an das Wortgeschehen anlegt. So trifft seine Kritik die hermeneutischen Schwächen des Konzeptes und seine eigene Darstellung setzt entsprechend bei den hermeneutischen Fragen an, wie Sprache als Phänomen und einzelne Sprachformen zu verstehen sind und inwiefern von einem Geschehen die Rede sein kann, das heißt, inwiefern Sprache auf die Wirklichkeit wirkt.

Diese hermeneutische Perspektive erklärt sich mit RICŒURs eigenem philosophischen Ansatz, ist aber hinsichtlich des Anspruchs des Konzeptes selbst durchaus berechtigt.

789 Vgl. Fuchs ⁴1970, 165: „Geschichte im eigentlichen Sinn wäre also gerade die Geschichte der Sprache“; Fuchs 1968, 122: „Sie [die Offenbarung] macht vielmehr Geschichte zur Geschichte. Dabei geht es in der Tat um

‚Aussagen‘.“ Vgl. Ebeling ³1967a, 311: „Der historische Jesus ist der Jesus des Glaubens. Das Jesus-Verständnis des Glaubens muß sich darum als Förderung des historischen Verständnisses Jesu geltend machen. Denn der Glaube selbst ist das Zum-Ziel-Kommen dessen, was in Jesus zur Sprache gekommen ist. Wer glaubt, ist bei dem historischen Jesus.“; Ebeling 1979c, 90: „Daß das Thema Menschwerdung Gottes in diesem Maß auf das Wort zusteuert als ein sich ereignendes, geschehendes Wort […], das von seinem Ursprung her und kraft dieses Ursprungs weitersagbar ist?“

RICŒUR verweist in diesem Zusammenhang durchaus positiv auf PANNENBERGs Ansatz, der verfolgt, dass die

„Wahrheit Gottes und seiner Offenbarung für sich festeht“ (Pannenberg 1962, 16), sie also außerhalb und vor der existentialen und situationsbedingten Glaubensperspektive aufweisen zu wollen (vgl. die Auseinandersetzung zwischen EBELING und PANNENBERG, die bei der Frage nach der Begründung von Ethik ihren Ausgangspunkt nimmt, sich letztlich aber darum dreht, ob und „wie […] denn das, was Sache des Glaubens ist, ohne Bezug auf die Situation des Glaubens feststehen [kann]“, Ebeling ³1975d, 51).

185

4.2. Bibelhermeneutik und philosophische Hermeneutik: Begründung der

Outline

ÄHNLICHE DOKUMENTE