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Fazit: Lesen bildet narrative Identität

II. Das Wortgeschehen in der philosophischen Rezeption Paul Ricœurs

3. Philosophische Vertiefung: Der hermeneutische Prozess

3.3. Der Text

3.3.2. Fazit: Lesen bildet narrative Identität

Die Paradigmen, also formale Merkmale im Textaufbau, erfordern hermeneutisch einen analytischen Zugriff, wie ihn der Strukturalismus vorschlägt. Damit kann aufgezeigt werden, wie die einzelnen Elemente des Textes schematisch einzuordnen sind und wie sie zum Gesamten in Beziehung stehen. Ziel dieser Analyse ist es also, die innere Kohärenz des Textes, seinen Sinn, zu erklären. Erneut betont RICŒUR nun auch für dieses sprachliche Phänomen, dass das Verstehen nicht auf der Ebene des inneren Textsinnes abgeschlossen ist, sondern auch nach der Bedeutung gefragt werden muss, weil der Text über sich hinaus verweist. Diese außertextliche Referenz erschließt sich über einen weiteren hermeneutischen Schritt, nämlich die Interpretation, deren letztes Ziel die Aneignung des Textes ist. Es handelt sich bei dem in Erklärung und Interpretation unterteilten hermeneutischen Prozess nicht um eine lineare Abfolge von methodischen Schritten, vielmehr verweisen beide wechselseitig aufeinander: Aus der Erklärung entsteht die Frage nach der Referenz, eine Leerstelle, die die Interpretation füllen muss; die Interpretation dagegen kann nicht willkürlich erfolgen, sondern bemisst ihre Plausibilität daran, wie kompatibel sie mit der Erklärung ist. Die hier vorliegende zirkuläre Struktur ist also sachlich notwendig und wird daher von RICŒUR positiv bewertet.

Dem Phänomen „Text“ wird im Rahmen der Interpretation eine große Eigenständigkeit zugesprochen, zum einen, weil er eigenständig gegenüber den Bedingungen des mündlichen Diskurses ist, aus dem er stammt; zum anderen, weil RICŒUR den Text pointiert als Subjekt seiner Auslegung bezeichnen kann.763 Der Text ist es, der den Leser in den hermeneutischen Prozess zieht und auf allen Ebenen des Verstehens leitet.

Gegenüber einer klassischen, historisch-kritischen Textexegese fordert RICŒURs Ansatz, sich vom Ideal der historisch getreuen Textrekonstruktion zu verabschieden.764 Sein Textbegriff stellt dabei den hermeneutischen Ausgangspunkt dar. Dieser erweist nun gerade die Notwendigkeit einer Interpretation, die nicht in den unerreichbaren Bereich hinter dem Text zu

762 Ricœur 1986d, 114 („Interpretieren heißt, die Art des In-der-Welt-Seins zu explizieren, das vor dem Text ausgebreitet wird.“).

763 Ricœur 1986g, 142, der Text tritt gewissermaßen an die Stelle des Autors, bzw. der Autor ist selbst durch den Text gesetzt.

764 Mattern 1996, 108, formuliert treffend: Wir erlangen keine „Verfügungsgewalt“ über den Text.

173 blicken versucht, auch nicht allein beim Text verbleibt, sondern, die dem Text genau dadurch gerecht wird, dass sie „vor dem Text“ stattfindet. Die Intention des Textes besteht nämlich darin, eine Aussage über die Wirklichkeit zu treffen. RICŒUR argumentiert dafür, dass diese Intention des Textes auch Maßstab seiner Interpretation bleibt. Folglich ist es Aufgabe der Interpretation, die Aussage des Textes durchaus mithilfe der historisch-kritischen Textexegese so textnah wie möglich herauszustellen, dann aber auch die Wirklichkeitssicht des Textes aufzuzeigen und damit die existentiale Aneignung durch den Leser vorzubereiten. Damit widerspricht RICŒUR vor allem der hermeneutischen Position, wie sie DILTHEY vertreten hat, dass Texterklärung und Textverstehen getrennte Vorgänge sind.

Mit dem Textbegriff und der Texthermeneutik erreicht RICŒURs Hermeneutik ihre allgemeine und gleichzeitig grundlegende Form.765 Dies zeigt sich zunächst daran, dass die zuvor ausgearbeiteten sprachlichen Phänomene sich hermeneutisch auch unter die Texthermeneutik fassen lassen, selbst wenn sich natürlich Symbol und Metapher in ihrer Erscheinung vom Text unterscheiden. So ist etwa der Verstehensprozess von Metapher und Text vergleichbar, weil es in beiden Fällen darum geht, die Bedeutung auf den Ebenen des Sinns und der Referenz zu erfassen. Die hermeneutischen Methoden Erklärung und Interpretation müssen in beiden Fällen angewandt werden. Schon das ontologisch begründete Symbolverständnis setzt sich von einem strukturalistischen Textverständnis ab und beinhaltet insofern bereits einen Ansatz zur Texthermeneutik. Da nämlich das Symbol als besonders prägnante Sprachform an den ursprünglichen ontologischen Bezug der Sprache überhaupt erinnert, muss auch die Texthermeneutik diesen Bezug berücksichtigen. Die entscheidendste Gemeinsamkeit liegt darin, dass diese sprachlichen Formen auf ihre Fähigkeit hin reflektiert werden, wie sie menschliches Selbstverständnis ermöglichen.766

Wie man so den Text als übergeordnete Struktur für schriftliche sprachliche Phänomene und ihre hermeneutischen Prozesse interpretieren kann, dient er ebenso als Modell für außersprachliche Phänomene.767 In der Handlung können textliche Strukturen erkannt werden, sodass auch sie als Text „gelesen“ und interpretiert werden kann. Auf diese grundlegende Verknüpfung baut RICŒUR seine Erzähltheorie auf, denn in der Erzählung wird Handlung konfiguriert und damit interpretiert. Diese Schnittstelle gilt sowohl für die fiktive Erzählung,

765 Mattern 1996, 95, bewertet die Texthermeneutik ähnlich: Sie ist „paradigmatisch“ und dient „der Aufdeckung allgemeiner Spezifika des Hermeneutischen“, vor allem in ihrer Verbindung zum Sein. Vgl. Bühler 2006, 410:

„eigentlicher Gegenstand der Hermeneutik“ bei RICŒUR ist der Text. Vgl. auch Breitling 2007, 66-82, das zusammenfassende Kapitel trägt die Überschrift: „Hermeneutik am Modell des Textes“.

766 Zusammengefasste Schritte von RICŒURs Entwicklung in dieser Frage in: Ricoeur 1991a, 16f.

767 Ricœur 1986c, 168-176, Ricœur 1986e.

174 als auch für die historische Arbeit, die Wahrheit beansprucht.768 In gleicher Weise wie es für das Symbol und die Metapher bereits angedeutet ist, bezeugt diese Modellfähigkeit der Texthermeneutik die enge Beziehung zwischen Sprache und Sein in Form eines hermeneutischen Zirkels. Dieser basiert auf der wechselseitigen Abhängigkeit von Sprache und Erfahrung und bewegt sich von der geäußerten Erfahrung über die Äußerung wieder zur Erfahrungswelt hin. Im Falle des Textes geht er von einem Selbstverständnis des Lesers aus, lässt Text und Leser sich in der Welt des Textes begegnen und endet bei einem neuen Selbstverständnis des Lesers.769

RICŒURs Texthermeneutik zielt letztendlich auf einen narrative Identität, das heißt, die kreative Rezeption von Texten, die Selbstverständnis erst ermöglicht und konstituiert.770 Somit handelt es sich um eine Verschränkung von aktivem und passivem Verstehen des Textes und des Selbst, das zwar durch das Subjekt des Lesers erfolgt, aber nur auf der Grundlage des Textes möglich ist. Der Text, das fremde Gegenüber, ermöglicht erst das Selbstverständnis. RICŒURs Grundsatz ist daher hier nochmals zu wiederholen: „There is no self-understanding that is not mediated by signs, symbols and texts.“771

Gerade in dieser Vermittlung kommt aber auch das aktive Moment des Verstehensprozesses zum Tragen: Zwischen den vielfältigen und sich teilweise widersprechenden Textwelten entwickelt der Leser wechselnde „Selbstverständnisse“, von denen her er sich versteht. Auch für diese narrativ vermittelte, oder sich selbst narrativ konstituierende Identität stellt sich keine dauerhafte Gleichheit ein, so bleibt „Identität“ ein Problem.772 Zudem gesteht RICŒUR zu, dass nicht alle Textwelten handlungsleitend werden. Am Ende hat der Leser eine Wahl, welches Selbstverständnis er übernimmt und welches er zwar im Verstehen erlebt, aber nicht überzeugend findet. Darüber hinaus gibt es auch „composantes non narratives de la formation du sujet agissant“.773 Der Begriff der narrativen Identität wird also durch den der Identität des handelnden Subjektes begrenzt.774

768 Ricœur 1983, 124f.

769 RICŒUR reformuliert den hermeneutischen Zirkel unter dem Begriff „Mimesis 1-3“, den er von ARISTOTELES übernimmt (dazu Vandevelde 2008, 147-150): Allgemein gewendet verläuft der Zirkel zwischen der Handlung, der Fiktion und der Rückkehr der Fiktion zu Handlung und Leben. Die positive Bewertung des Zirkels als hermeneutische (weil existenziale) Notwendigkeit findet sich bereits bei Heidegger 1977, 202-204.

770 Mehrfach hebt RICŒUR die Bedeutung des Lesens hervor, z.B. Ricœur 1983, 86; Ricœur 1986g, 142; 151f.

771 Ricoeur 1991a, 15.

772 Zum Komplex der „narrativen Identität“ im Übergang von „Témps et Récit“ zu „Soi-même comme un autre“:

Breitling 2007, 164-174.

773 Ricœur 1985, 359 („nicht narrative Komponenten der Bildung des handelnden Subjektes“, Übersetzung:

Ricœur 1991, 400).

774 Vgl. Porée 2013, 38f.

175 Diesem Zusammenhang geht RICŒUR in seinen späteren Veröffentlichungen weiter nach, in denen er das Identitätsproblem ausführlich behandelt und mit ethischen, kultur- und geschichtstheoretischen Fragen verknüpft.775 Diese Überlegungen können als die Konsequenz der bisher vorgestellten Hermeneutik gesehen werden.776 Konkreter sind sie die Konsequenz von RICŒURs „ontologischer Vehemenz“777, die er vor allem gegenüber dem Strukturalismus vertreten hat, aber auch gegen eine universalisierende Sicht auf Sprache richtet, wie sie in der Sprechakttheorie zuweilen vertreten wird.778 Weder darf die Sprache ohne Beziehung zur Wirklichkeit betrachtet werden, noch die Wirklichkeit ausschließlich auf ihren Bezug auf Sprache reduziert werden, das hieße dann in letzter Konsequenz: Sprache als einzige Wirklichkeit anzunehmen. Vielmehr bleiben sie als getrennte Phänomene kreativ aufeinander bezogen. Diesen Bezug hat RICŒUR in seinen hermeneutischen Überlegungen so bestimmt: Der Mensch versteht das Sein vermittelt durch sprachliche Strukturen, weil diese existentialen Strukturen entsprechen.

Fokussieren die Arbeiten an Symbol, Text und Metapher eben diese sprachlichen Strukturen, treten in seinen späteren Werken der Mensch und das Sein in den Vordergrund. Insofern nähert sich RICŒUR dann von Seiten des Subjektes aus denjenigen Existenzstrukturen, die er bereits aus sprachlicher Perspektive zu beschreiben sucht. Es ist kein Zufall, dass dabei Schuld und Zeitlichkeit wieder ins Zentrum der Argumentation rücken,779 denn in ihnen fallen Wirklichkeit und Sprache auf dichte Weise zusammen. So gibt das Schuldbekenntnis Zugang zum Willen als ambivalenten Existenzstruktur und dem Problem der Verantwortung. Auf vergleichbare Weise legt die Erzählung offen, dass die Existenz zeitlich strukturiert ist und sich in einem bestimmten Raum verwirklicht. RICŒUR versucht zu zeigen, wie sich etwas wie ein „Subjekt“

über diese sprachlichen Strukturen identifiziert lässt und wie diese zum Verständnis der Wirklichkeit beitragen. Dazu gehört auch, welche außersprachlichen Faktoren für das Verständnis des Menschen und seiner Existenz entscheidend sind. War das Subjekt bisher nur als Funktion sprachlicher Strukturen in den Blick gekommen (Leser, Autorin usw.), bearbeiten

775 Ich nenne stellvertretend seine großen Werke: Ricœur 1990 und Ricœur 2000.

776 Bühler 2006, 408, sieht ebenfalls den Zusammenhang zwischen narrativer Identität und Identitätstheorie als eine Verbindung zwischen RICŒURs hermeneutischen Werken und seinen späteren Themen. Vgl. die Darstellung von RICŒURs Entwicklung (Symbol – Metapher – Text – Geschichte) in Breitling 2007, 62-96.

777 „véhémence ontologique“ (Ricœur 1975, 321).

778 Vgl. auch zum Folgenden Ricœur 1990, 349f.

779 Ein detaillierter Einzelnachweis ist hier nicht möglich, ich weise exemplarisch darauf hin, dass Ricœur 2000 schon im Titel menschliche Bezüge auf die Zeit benennt und mit einem Kapitel zur Schuldvergebung schließt. Für die Bände von Temps et Récit ist der Bezug auf den philosophischen Gegenstand „Zeit“ offensichtlich. Dieser Bezug erfolgt nicht zuletzt im Anschluss an HEIDEGGER.

176 RICŒURs spätere Studien nun gewissermaßen das Subjekt vor und nach dem Text. So diente beispielsweise das Zeugnis als Sprachform dazu, einen Aussagecharakter zu bestimmen, in dem der Sprecher sich für die Aussage verbürgt.780 „Außerhalb“ des Textes gilt aber: „Le témoignage constitue la structure fondamentale de transition entre la mémoire et l’histoire“,781 die Sprachform dient jetzt also der Phänomenologie anthropologischer Kategorien. Der Zusammenhang von Sprache und Wirklichkeit ist dabei vorausgesetzt, denn gerade weil die semantische Funktion des Zeugnisses darin besteht, wahrhafte und vertrauenswürdige Aussage zu sein, erhält es Bedeutung für den Wahrheitsanspruch des Gedächtnisses.782

Dieses Beispiel zeigt, wie RICŒUR seine Hermeneutik weiterentwickelt hat und seine bisherigen sprachphilosophischen Überlegungen nun in eine weitere Perspektive und Fragestellung integriert, die bisher offen geblieben war. So wird der hermeneutische Prozess des Textverständnisses zu einem Aspekt eines umfassenderen Selbst- und Wirklichkeitsverständnisses,783 auch wenn er den paradigmatischen hermeneutischen Prozess des Verstehens überhaupt darstellt.

Damit entfernt RICŒUR sich von hermeneutischen Fragen im konkreten sprachphilosophischen Sinne, also auch von solchen Fragen, die mit dem Wortgeschehen im engeren Zusammenhang stehen.

3.4. Zusammenfassung: Der hermeneutische Prozess als Ausarbeitung des

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