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Das Wort Gottes: Bibel, Offenbarung und religiöse Sprache

II. Das Wortgeschehen in der philosophischen Rezeption Paul Ricœurs

2. Was bedeutet Wortgeschehen? – Ricœurs Rezeption als eigener Entwurf

2.2. Das Wort Gottes: Bibel, Offenbarung und religiöse Sprache

Die Sprachlichkeit der Offenbarung dient RICŒUR als Argument, Kriterien einer allgemeinen Hermeneutik auch für eine theologische Hermeneutik geltend zu machen. Es ist jedoch andererseits zu sehen, dass aus der Perspektive theologischer Hermeneutik die Frage nach der Sprache überhaupt nur unter der Voraussetzung gestellt wird, dass die Offenbarung sprachlich ist. Von daher werden Verhältnisbestimmungen zwischen religiöser Rede und anderen Äußerungen vorgenommen. Wie verlaufen sie bei RICŒUR?

Die Bibel sieht er zunächst als einen Text der allgemeinen menschlichen Sprache. Dennoch wird sie als religiöser Text verstanden, zu dem sich Glaubende in Beziehung setzen, sodass sich die Frage stellt, welcher sprachlichen Mittel sich die Bibel bedient, um die Bedeutung religiöser Sprache zu gewinnen.533 Grundlegend bezieht RICŒUR diese Sprache auf menschliche Erfahrungen, weil religiöse Sprache Ausdruck von Erfahrungen ist und die Erfahrungen durch sie neu beschrieben werden.534 Religiöse Sprache ist demnach charakteristisch mit menschlicher Existenz verbunden.

Diese grundlegende Beziehung der menschlichen Existenz zur Sprache ist auch ein wesentliches Merkmal des Sprachereignisses / Wortgeschehens bei FUCHS und EBELING. FUCHS bestimmt einen Aspekt des Sprachereignis darin, die individuellen Erfahrungen des Menschen mit den Begriffen seiner Sprache zu vermitteln.535 EBELING sieht es als Charakteristikum des Wortgeschehens an, dass der Sprecher etwas von seiner eigenen Existenz mitteilt, sowie das Wortgeschehen entsprechend am Ort des Gewissens den Menschen in seiner

533 Damit beginnt RICŒUR seinen langen Aufsatz zur biblischen Hermeneutik: Ricoeur 1975, 32.

534 „In this expression – ‘redescribes human experience’ − we must emphasize both halves: what religious language does is to redescribe; what it redescribes is human experience.“ (Ricoeur 1975, 127).

535 Fuchs 1968, 178; 235, genauer s.o., 66f.

126 Existenz trifft.536 Hier wird besonders der Bezug auf den Menschen als Ganzen, nicht nur auf seine Erfahrung betont. RICŒUR teilt also diese für das Sprachereignis / Wortgeschehen zentrale Verhältnisbestimmung mit den Theologen, auch wenn er sie in sprachphilosophische Begriffe fasst.537

Im Blick auf das Alte Testament beschäftigt sich RICŒUR mit einem konkreten Aspekt biblischer Sprache, nämlich ihren verschiedenen Formen.538 RICŒURs grundlegende hermeneutisch-theologische Annahme ist, dass die biblischen Redeformen sich aus den unterschiedlichen Arten der Offenbarung Gottes ergeben, die dann in unterschiedlichen Formen des Bekenntnisses ihren Ausdruck finden:

„Ainsi Dieu est-il nommé diversement dans la narration qui Le raconte, dans la prophétie qui parle en Son nom, dans la prescription qui Le désigne comme source de l'impératif, dans la Sagesse qui Le cherche comme sens du sens, dans le hymne qui L'invoque en deuxième personne.“ 539

RICŒUR macht als Zielpunkt all dieser Redeformen „Gott“ aus, der von keiner bestimmten Redeform erfasst werden kann. Vielmehr wird etwas von dem Begriff erst dadurch verständlich, dass er in verschiedenen Kontexten und auf verschiedene Weise übermittelt wird, weil diese Formen an sich Bedeutung übermitteln.540 Trotz dieser Übermittlungen kann der Mensch Gott nie endgültig erfassen, weil eine Offenbarung immer nur ausschnittweise Einsicht gibt. Folglich bemerkt RICŒUR außerdem, dass philosophisch-spekulative Aussagen über Gott in einer Glaubensgemeinschaft erst nach den Bekenntnissen in diversen Redeformen erfolgen.

Die theologische Konsequenz der biblischen Polyphonie ist also, dass der biblische Glaube selbst vielstimmig ist und dass diese Vielstimmigkeit als Bereicherung der Theologie bewahrt und durchdacht werden muss. Diese These hat RICŒUR unter Rezeption GERHARD VON RADS

536 Ebeling 1971, 98, genauer s. I.5.1.1.; zum Gewissen: Ebeling ³1967e, 429-446, genauer: s.o., S.67-69.

537 Z.B. Ricoeur 1975, 127: „the ultimate referent of the parables, proverbs, and eschatological sayings is not the Kingdom of God, but human reality in its wholeness“ (kursiv von mir).

538 Andeutungsweise auch auf das NT ausgeweitet, wenn er von den Theologien innerhalb des vielstimmigen Gleichniskorpus spricht, das wiederum auf andere Redeformen Jesu übertragbar ist und schließlich auch in einer

„Intersignifikation“ zu seinen Taten steht (Ricoeur 1975, 100-103; „intersignification“: 102).

539 Ricœur ³1994a, 294 („So wird Gott in verschiedenen Weisen genannt in der Erzählung, die Ihn erzählt, in der Prophetie, die in Seinem Namen spricht, in der Weisung, die Ihn als Ursprung des Imperativs anzeigt, in der Weisheit, die Ihn sucht als Sinn des Sinnes, im Hymnus, der Ihn in der zweiten Person anruft.“ Übersetzung:

Ricœur 2005b, 170.). Vgl. aaO., 295: „Le référent « Dieu » n’est pas seulement l’index de l’appartenance mutuelle des formes originaires du discours de la foi, il est aussi celui de leur inachèvement.“ („Der Referent »Gott« wird so durch die Konvergenz aller dieser partiellen Redeweisen angezeigt. Er drückt das Kreisen des Sinnes in allen Formen der Rede, in denen Gott genannt wird, aus.“ Übersetzung: Ricœur 2005b, 170).

540 Ricœur 1977, 31: „Je dirai, pour faire bref, que la confession de foi qui s’exprime dans les documents bibliques est directement modulée par les formes de discours dans lesquelles elle s’exprime.“ („Ich werde sagen, um es kurz zu machen, dass das Glaubensbekenntnis, das sich in den biblischen Dokumenten ausdrückt, direkt geformt wird durch die Diskursformen, in denen es sich ausdrückt.“).

127 mehrfach ausgeführt541 und daraus die hermeneutische Konsequenz für seine Interpretationstheorie gezogen: Ist nämlich die Offenbarung in der Gesamtheit ihrer Formen nicht eindeutig und interpretationsbedürftig, kann auch keine Auslegung die Wahrheit für sich beanspruchen.542 Anders gesagt kann ein mehrdeutiger Gegenstand nicht eindeutig ausgelegt werden, vielmehr gibt es treffendere und weniger treffende Auslegungen. Es bleibt eine Offenheit für andere Deutungen, die in der Mehrdeutigkeit der Texte und vor allem ihrem Gegenstand selbst begründet ist.

RICŒUR bestimmt als Besonderheit der religiösen Sprache des Neuen Testaments, dass sie den gewöhnlichen Bezug des Textes auf die Wirklichkeit stört. Dazu bedient sie sich beispielsweise der Mittel „uneigentlicher“ Rede wie Hyperbel, Paradoxie oder Ironie. Immer geht es dabei um Irritation und Desorientierung einer bekannten Gattung oder eines alltäglichen Sachverhalts.543 Religiöse Sprache hat also insofern poetische Funktion,544 dass sie auf der formalen Ebene die Logik des Diskurses durchbricht und die erste Referenz auf die Wirklichkeit aufhebt, weil sie sich nicht deskriptiv zu ihr verhält. Stattdessen verhält sich poetische Sprache ganz wörtlich schaffend und schöpferisch,545 indem sie eine neue Welt anbietet, in der sich der Mensch neu entwerfen kann. So lernt er sich „vor dem Text“ neu verstehen.546 Damit ist gleichzeitig der Text erst erschlossen, dessen Bedeutung nicht „hinter“ ihm liegt, also etwa in der Frage nach seinem Autor, oder allein „in“ ihm zu finden ist, wenn man seine Struktur erfasst hat. Vielmehr zielt der Text durch seine poetische Funktion selbst darauf, in Bezug auf die menschliche Existenz interpretiert zu werden, das heißt, weitergedacht und angewandt zu werden.

Diese hermeneutische Konzeption kann mit FUCHS‘ Überlegungen zur Dichtung verglichen werden, insofern hier ebenfalls das Element der Wirklichkeitsverfremdung – FUCHS nennt es

„Übertreibung“ – kennzeichnend ist.547 Die Dichtung kann dadurch auf die Wahrheit

541 „Ich muß erwähnen, daß ich das Verständnis für das Verhältnis von Redeform und theologischem Gehalt vor allem Gerhard von Rad verdanke.“ (Ricoeur 1974b, 37).

542 Ricœur 1977, 31f.

543 RICŒURs Begriff für diesen Vorgang, der der Auslösers des metaphorischen Prozesses ist, lautet „limit-expression“ („Grenzausdruck“), für die Gleichnisse auch: „extravagance“ („Extravaganz“, „Ausgefallenheit“,

„Außergewöhnlichkeit“). Dies ist der Leitbegriff des Aufsatzes Ricoeur 1975, gattungsorientiert differenziert er ihn auf 108-121.

544 Diese Funktion führt RICŒUR mehrfach aus. Kompakt und klar z.B. in Ricœur ³1994a, 286-289 (vgl. auch zum Folgenden).

545 Dieser Gedanke lässt sich auf HEIDEGGERs Konzept des In-der-Welt-Seins zurückverfolgen, weil sich hier nach RICŒUR eine grundlegende ontologische Dimension in die poetische Sprache eröffnet (Ricoeur 1975, 87). Darüber hinaus schließt RICŒUR aber zumindest auch an FREGEs Modell der Referenz an (aaO., 83).

546 Vgl. RICOEUR 1975, 124f. Daher lässt sich religiöse Sprache auch mit einem Enthüllungsmodell beschreiben („disclosure model“ von RAMSEY). Vgl. auch aaO., 82, zur antistrukturalistischen Spitze dieser Formulierung.

547 Fuchs 1968, 234.

128 ausgreifen, die mit beschreibender Sprache nicht erreicht werden kann. Sie ist insofern ein Sprachereignis. In der Analyse der biblischen Sprache fragt FUCHS seinerseits „in hermeneutischer Absicht nach der Existenzbewegung der Sprache“, dieser Frage geht er konkreter nach in der Suche nach „Sprachformen, in denen sich die Sprachkraft der Existenz charakteristisch äußert“.548 Insofern haben diese allerdings keinen Eigenwert, sondern entsprechen jeweils der theologischen, beziehungsweise existentialen Botschaft, die sie vermitteln.

Die Neubestimmung der Existenz ist die zentrale Funktion des Sprachereignisses, ebenso wie von EBELINGs Wortgeschehen.549 Die Wirkung bildet daher das Kriterium, ein Sprachereignis / Wortgeschehen von lediglich beschreibender Sprache zu unterscheiden.

RICŒUR versucht, diese Neubestimmung mit einem hermeneutischen Prozess zu beschreiben, der die Wirkung sprachlicher Strukturen analysiert und nach den Mechanismen fragt, durch die existentiale Bedeutung entsteht.

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