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Einordnung: Das Wortgeschehen im Rahmen der Bibelhermeneutik

II. Das Wortgeschehen in der philosophischen Rezeption Paul Ricœurs

1. Was heißt Wortgeschehen? − Ricœurs Rezeption der theologischen Ansätze

1.1. Einordnung: Das Wortgeschehen im Rahmen der Bibelhermeneutik

RICŒUR ist die hermeneutische Entwicklung in der Theologie und konkret das theologische Konzept des Wortgeschehens aus seiner Beschäftigung mit BULTMANN und EBELING

bekannt.445 Diese lässt sich an zwei großen Aufsätzen von 1967 und 1968 festmachen.446 Er rezipiert das Wortgeschehen aber nicht nur in solchen Arbeiten, die sich direkt mit bestimmten Theologen auseinandersetzen. Vielmehr findet der Begriff Wortgeschehen ebenso in seinen Texten zur Bibelhermeneutik Erwähnung, meist gekennzeichnet als Begriff der Hermeneutischen Theologie.447 RICŒURs Rezeption beschränkt sich allerdings dort nicht nur darauf, diesen theologischen Fachbegriff zu zitieren, sondern bemüht sich darum, das gemeinte Konzept kritisch nachzuvollziehen und konstruktiv zu durchdenken. Dabei macht er die hermeneutische Arbeit am Wort Gottes als Kernproblem des Konzeptes aus. RICŒURs eigene Hermeneutik der religiösen Sprache kann vor dem Hintergrund dieser Auseinandersetzung als philosophische Interpretation des Wortgeschehens gesehen werden. Die Bibelhermeneutik bildet also zunächst grundsätzlich den Rahmen, innerhalb dessen RICŒUR das Konzept

445 Auch das Sprachereignis findet vereinzelt Erwähnung, allerdings ohne konkrete Auseinandersetzung: Ricoeur 1975, 63 (Verweis auf FUCHS); aaO., 136f (Verweis auf JÜNGEL).

446 Zu EBELING: Ricœur 1967b; zu BULTMANN: Ricœur 1969g.

447 Noch weiter zu besprechende Beispiele sind: Ricœur 1968a; Ricœur 1977.

104 rezipiert. Sie ist allgemein ein durchgängiger Reflexionsgegenstand in RICŒURs Philosophie, wie ein kurzer Überblick zeigt:448

Durch die Arbeiten zu BULTMANN und EBELING hat RICŒUR Ende der 1960er zwei der einflussreichsten Positionen für die weitere Entwicklung der theologischen Hermeneutik erfasst. In der Auseinandersetzung mit BULTMANNs Kerygmakonzept und dem hermeneutischen Ansatz der Entmythologisierung449 sieht RICŒUR bereits das zentrale hermeneutische Problem des christlichen Glaubens:

„Ce rapport de l’écriture à la parole, et de la parole à l’événement et à son sens, est le noyau du problème herméneutique.“450

Schon BULTMANN wird allerdings hinsichtlich seines hermeneutischen Vorgehens kritisiert.

RICŒURs zentraler Kritikpunkt besteht darin, dass BULTMANNs Ansatz zu schnell die Ebene der existentialen Bedeutung im Interpretationsprozess betritt und dabei die des objektiv erklärbaren Sinns vernachlässigt.451 Dem Interpretationsprozess vorausgesetzt ist vielmehr eine „Ontologie der Sprache“, die eine existentiale Bedeutung erst sinnvoll macht:

„La revendication (Anspsuch [sic!]) que Dieu adresse à notre existence par sa parole, si elle doit être pensée, suppose non seulement que le sens du texte soit constitué comme un vis-à-vis idéal de mon existence, mais que la parole elle-même appartienne à l’être qui s’adresse à mon existence. C’est toute une méditation sur la parole, sur la revendication de la parole par l’être, qui s’impose ici, donc toute une ontologie du langage, si l’expression « parole de Dieu » doit être une expression sensée ou, dans les termes de Bultmann, si cet énoncé doit avoir une signification non mythologique.“452 Die hier aufgezeigten Probleme und Anfragen weisen bereits in das Problemfeld des Wortgeschehens, wo RICŒUR sie erneut stellt. Denn zum einen handelt es sich beim

448 Zusammenfassend zur Bibelhermeneutik: Dosse 2008, 344-354. Zur Entwicklung von RICŒURs Hermeneutik allgemein vgl. Greisch 1993, 199-223, und Waldenfels 1983, 269f, mit der Zielbestimmung: „was uns in der Sprache anspricht und in der Sprache Wirklichkeit wird“ (aaO., 270).

449 Vgl. auch zum Folgenden die Analyse von Stricker 2016, die RICŒURs Auseinandersetzung mit BULTMANN anhand der einschlägigen Quellen darstellt und zu folgendem Ergebnis kommt: „Der Dialog zwischen Ricœur und Bultmann gründet auf ihrem gemeinsamen Versuch zu zeigen, 1) dass der Bezug zur Schrift ein lebendiger und transformierender Bezug ist, 2) dass wir ihren Texten trotz der uns von ihnen trennenden kulturellen Distanz zugehörig sind, 3) dass diese Texte uns anreden und uns zu verstehen geben, dass ihre Sache die unsere ist: Tua res agitur.“

450 Ricœur 1969g, 374 („Dieser Zusammenhang von der Schrift zum Wort und vom Wort zum Ereignis und zu seinem Sinn ist der Kern des hermeneutischen Problems.“).

451 So auch Stricker 2016, 25.

452 Ricœur 1969g, 391 („Der Anspruch (revendication), den Gott durch sein Wort, wenn es gedacht werden muß, an unsere Existenz richtet, setzt nicht nur voraus, daß der Sinn des Textes wie ein ideales Gegenüber zu meiner Existenz verfasst ist, sondern daß das Wort selbst dem Sein zugehört, das sich an meine Existenz wendet. Dies ist alles eine Meditation über das Wort, über den Anspruch des Wortes durch das Sein, die sich hier aufdrängt, also alles eine Ontologie der Sprache, wenn der Ausdruck ‚Wort Gottes‘ ein sinnvoller Ausdruck sein soll oder, wie Bultmann sagt, wenn diese Äußerung eine nicht-mythologische Bedeutung haben soll.“ Zur Übersetzung vgl.

Ricoeur 1973a, 474).

105 Wortgeschehen um eben einen solchen Versuch, eine „Ontologie der Sprache“ theologisch zu erarbeiten, zum anderen ist das Wortgeschehen selbst ein theologischer Ausdruck, der sinnvoll und vernünftig verwendet werden sollte. Sowohl das Konzept als auch der Begriff werden also unter diesen Voraussetzungen kritisiert, die bereits in der Auseinandersetzung mit BULTMANN

begegnen.

Die Arbeit am Sinn eines Textes oder Begriffes einzufordern bleibt ein zentrales Argument in RICŒURs Philosophie, zumal es durch sprachphilosophische Entwicklungen noch verstärkt wird: Bis Mitte der 1970er Jahre sind RICŒURs Arbeiten geprägt von der Auseinandersetzung mit dem Strukturalismus. Es handelt sich dabei im Grunde um eine Methodendiskussion, die vor allem die Stellung der historisch-kritischen Exegese zum Gegenstand hat. GERHARD VON

RADs formgeschichtliche Arbeiten zur Theologie des Alten Testaments453 sind in diesem Zusammenhang ein wichtiger Analysegegenstand für RICŒUR. Hermeneutisch steht in dieser Zeit die Texttheorie im Vordergrund,454 spezifisch in Gestalt einer Autonomie des Textes gegenüber seinen Entstehungsbedingungen, die allerdings nicht zu einer Idealisierung führen soll. Damit besteht eine doppelte Frontstellung gegen eine Historisierung beziehungsweise Psychologisierung (im Sinne der romantischen Hermeneutik) und gegen den strukturalistischen Ansatz eines absoluten, das heißt referenzlosen, Textes. RICŒUR bearbeitet diesen Konflikt, indem er den Text vom Diskurs als „event“ 455herleitet und daher das hermeneutische Ziel so bestimmt, den Text wieder als eine (aktualisierte) Rede zu interpretieren: In der Struktur des Textes zeigt sich eine Sinnbewegung, die der Leser sich aneignen muss, um den Text zu verstehen.456 In seiner Interpretationstheorie verbindet er folglich „Erklären“, also das Erfassen der Textstruktur, und „Verstehen“, also das Nachvollziehen der Textintention. Somit wird ein vielschichtiges Textverständnis Grundlage der hermeneutischen Reflexion und exegetischen Arbeit.

453 Vor allem verweist RICŒUR mehrfach auf VON RADs „Theologie des Alten Testaments“ (hier: Rad ⁶1975), z.B.

in Ricœur 1971c.

454 Siehe auch zum Folgenden den programmatischen Aufsatz: Ricœur 1986g (11970). Ausführlicher dazu s.u., II.3.3.

455 Ricoeur 1975, 66.

456 Ricœur 1986g,156: „Ce que veut le texte, c’est nous mettre dans son sens, c’est-à-dire – selon une autre acception du mot « sens » – dans la même direction. […] Expliquer, c’est dégager la structure, c‘est-à-dire les relations internes de dépendance qui constituent la statique du texte ; interpréter, c’est prendre le chemin de pensée ouvert par le texte.“ („Das, was der Text will, das ist uns in seinen Sinn [sens] stellen, das heißt, gemäß einer anderen Bedeutung des Wortes ‚sens’ – in die gleiche Richtung. Erklären heißt, die Struktur, das heißt die inneren Abhängigkeitsbeziehungen, die die Statik des Textes konstituieren, zu enthüllen; Interpretieren heißt, dem Gedankengang zu folgen, der durch den Text eröffnet wird.“).

106 Den hermeneutischen Prozess, in dem sich die Interpretation vollzieht, hat RICŒUR in Bezug auf die Metapher weiterverfolgt (v.a. „La métaphore vive“, (Ricœur 1975). Die Metapher wird zum Paradigma der poetischen, das heißt schöpferischen, Funktion von Sprache: Indem sie die gewöhnliche Referenz stört, eröffnet sie eine zweite Referenz und damit einen neuen Wirklichkeitsbezug.457 Von dieser Theorie der Metapher, die RICŒURauch auf die Sprache der Bibel bezogen hat, erhält die theologische Hermeneutik entscheidende Impulse für die Gleichnisforschung.458 In diesem Themenbereich ist EBERHARD JÜNGEL für RICŒUR ein wichtiger Gesprächspartner; dies ist deutlich sichtbar an der bedeutenden gemeinsamen Publikation zur Metapher, wo dieser metapherntheoretische Ansatz im Rahmen biblischer Hermeneutik dargestellt wird.459

Das erweiterte Konzept der Hermeneutik auf Text- und Selbstverständnis, besonders in „Temps et récit I–III“ (Ricœur 1983); (Ricœur 1984) ; (Ricœur 1985) und „Soi-même comme un autre“

(Ricœur 1990), erhöht schließlich noch die Relevanz der biblischen Texte für die Existenzdeutung.

Vor diesem Hintergrund soll nun RICŒURs Verständnis des Begriffs „Wortgeschehen“

herausgestellt werden.

1.2. Ricœurs Übersetzung des Begriffs „Wortgeschehen“ als Verknüpfung zu

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