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Der Glaube als Sprachereignis: Offenbarungsstruktur von Text, Verkündigung und Rechtfertigung

4. Ernst Fuchs: Sprachereignis

4.1. Zur fraglichen Terminologie: Bedeutung und Funktion des Sprachereignisses

4.1.1. Der Glaube als Sprachereignis: Offenbarungsstruktur von Text, Verkündigung und Rechtfertigung

Es entspricht der Arbeitsweise von ERNST FUCHS als Exegeten, die Existenzhaltung des Glaubens aus der Begegnung mit dem Text des Evangeliums heraus zu erklären. Systematisch gesehen handelt es sich um einen offenbarungstheologischen Entwurf, in dem eben diese Erfahrung mit dem Text die Existenzhaltung bewirkt, von der aus alle anderen Erfahrungen gesehen und bewertet werden. Insofern ist der Text aus der Perspektive des Glaubens das Ende eines umfassenden Heilsgeschehens, das mit der Schöpfung begann und dem einzelnen Glaubenden eben durch den Text vermittelt wird, aber sich nun gerade darin erst als solches

233 So auch Brantschen 1974, 217: „Fuchs hat sein Sprachverständnis aus dem Neuen Testament gewonnen. […]

Fuchs‘ Sprachverständnis ist durch und durch theologisch, die Tiefengrammatik seiner Sprachlehre christologisch.“

234 Fuchs ²1965g, 283.

235 Dalferth 2010, 90: „Wie unsere Sprache im Wortgeschehen gründet, so gründet dieses im Geschehen des Wortes Gottes in Schöpfung, Offenbarung und Erlösung und das wiederum in Gott selbst, der das ursprüngliche Wortgeschehen ist, dessen Struktur die Trinitätslehre theologisch entfaltet.“

57 erschließt. Dieser gewissermaßen zirkuläre Zusammenhang zwischen Glaube und Offenbarung ist nicht ungewöhnlich, die Besonderheit in FUCHS‘ Entwurf liegt nun aber in der Fokussierung auf die Sprache.

Die grundlegende Erfahrung mit dem Text des Evangeliums ist es, dass dieser Text etwas über das Leben des Lesers sagt und dessen Existenz verändern kann:

„In diesem Falle [der Wahrheiten oder Fragen der Existenz] eröffnet der Text ein Gespräch zwischen demjenigen, der im Text zu Wort kam, und uns, die den Text lesen.

Auch so wird vorausgesetzt, daß der Text selbst schon einen Sachverhalt nennt, den wir kennen, so daß uns der Text sozusagen herausfordert. Handelt es sich um eine derartige Existenzwahrheit, so bringt der Text unsre Wirklichkeit in Bewegung. […] Dann spricht der Text.“236

Zum einen begründet diese Erfahrung eine bestimmte Sprachauffassung, dass nämlich der Text zum Subjekt wird, weil er dem Leser sprechend und herausfordernd gegenübertritt. Zum anderen begründet diese Erfahrung die damit korrespondierende Einsicht, dass Sprache überhaupt eine Wirkung auf die Existenz haben kann, weil sie nämlich immer mit der Existenz verbunden ist.237 Unter „Existenz“ versteht FUCHS ganz allgemein, dass sich der Mensch zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Welt vorfindet, sein Dasein also durch Zeit und Ort in der Geschichte gekennzeichnet ist.238 Gerade angesichts dieser somit endlichen Perspektive fragt der Mensch nach dem Grund und der Zukunft seiner Existenz, er fragt also danach, wie er sich selbst verstehen soll. Bleibt die Existenz auf die Gegenwart und Wirklichkeit beschränkt, versucht das Selbstverständnis, die Wahrheit, quasi den Kern und eigentlichen Sinn der Existenz auszumachen, nämlich das Sein.239 Aus sich selbst heraus kann der Mensch allerdings seine endliche und damit fragmentarische Perspektive nicht überwinden. Als Grund seiner Existenz erschließt sich ihm allein die Zeit und damit die Vergänglichkeit. Diese Begründung anzunehmen und über die eigene Zeit verfügen zu wollen, kann FUCHS als „Versuchung“

bezeichnen.240 Wenn der Mensch sich in dieser Weise auf sich selbst bezieht, bleibt ihm seine

236 Zitat: Fuchs 1965c, 403, vgl. auch die Folgen für die existentiale Interpretation: „Sie ist Interpretation der Existenz am Wahrheitskriterium der Einzelheit des Einzelnen“ (Fuchs ²1965r, 89).

237 Fuchs 1968, 31. Vgl. Heidegger 1985b, 149: „Wenn es wahr ist, daß der Mensch den eigentlichen Aufenthalt seines Daseins in der Sprache hat, unabhängig davon, ob er es weiß oder nicht, dann wird eine Erfahrung, die wir mit der Sprache machen, uns im innersten Gefüge unseres Daseins anrühren.“

238 Fuchs ⁴1970, 156. Die Begrifflichkeit (einschl. der Unterscheidung existentiell / existential und dem Verstehen als Existential) geht auf BULTMANN und HEIDEGGER zurück, vgl. z.B. Fuchs ²1965r, 65f; Fuchs 1968, 39ff. S.a.

Heidegger 1977, §4 und §9. In der Schreibweise schließt sich FUCHS BULTMANN an (existential usw., dagegen HEIDEGGER: existenzial usw.).

239 FUCHS stimmt HEIDEGGER darin zu, dass sich das Sein in der Geschichtlichkeit des Menschen ereignet und verweist dazu auch explizit auf die Verhältnisbestimmung in „Sein und Zeit“ (Fuchs 1968, 68).

240 Fuchs ⁴1970. 156.

58 Existenz fraglich. Dagegen erschließt sich ihm die Wahrheit über sich selbst von außen, nicht von innen.241 Die existentiale Interpretation befragt in diesem Sinne einen Text danach, was er dem Menschen über seine Existenz sagt, inwiefern ihn das Wort in seiner gegenwärtigen Situation angeht.242 Kennzeichnend für die existentiale Interpretation ist, dass sie diese grundlegende Situation überhaupt berücksichtigt und hermeneutisch reflektiert, sodass sich auch das Ziel der Auslegung erschließt: im Gespräch mit dem Text die „Wirklichkeit in Bewegung“ zu bringen, das heißt, zu einem neuen Selbstverständnis zu gelangen.243

Durch den historischen Abstand zwischen den Texten der Bibel und der heutigen Leserin ist es allerdings nötig, dass ein derartiges Gespräch durch die Exegese vorbereitet wird. Hier spricht FUCHS von verschiedenen Übersetzungsebenen. Letztlich hat die historisch-kritische Methode die Aufgabe, die Situation und Intention des Textes wieder verständlich zu machen, den Text also in den aktuellen Verstehenshorizont zu „übersetzen“.244 FUCHS betont, dass die Zielrichtung aber eine existentiale Interpretation sein muss, die die Aussage des Textes nicht nur erklärt, sondern aktualisiert und auch im existentialen Sinne für die heutige Leserin übersetzt.245 In diesem Existenzbezug wird der Text zum Sprachereignis, das er auch ursprünglich war, weil das Selbstverständnis allen Menschen gemeinsam ist.246 Die Frage nach der Existenz stellt sich nämlich durch die Geschichtlichkeit des Menschen zu allen Zeiten, wenn auch auf unterschiedliche Weise. Dies zu zeigen sollte vor allem in der Verkündigung gelingen, die deswegen ihrerseits als Sprachereignis bezeichnet werden kann.247

Was durch die Sprache des Textes „geschieht“ beziehungsweise, wie sich der Text genau auf die Existenz des Menschen bezieht, bestimmt FUCHS zunächst mit BULTMANN als „Ruf“ zur Entscheidung.248 Der Mensch nimmt nicht nur die Information des Textes zur Kenntnis, sondern ist gezwungen, sich zum Text zu verhalten: Entweder er entscheidet sich den Text nicht auf seine Existenz zu beziehen, oder er lässt sich auf den Existenzbezug ein.249 Der Text wird damit zu einem herausfordernden Gegenüber. Die Herausforderung gilt dabei dem

241 Fuchs ⁴1970, 246; Fuchs ²1965r, 69.

242 Fuchs ²1965s, 97; Fuchs 1968, 41.

243 FUCHS nennt diesen Bezug, der „Wirklichkeit in Bewegung bringt“ „allgemeine Wahrheiten“, „Wahrheiten oder Fragen der Existenz“, „Existenzwahrheit“, Fuchs 1965c, 403. Vgl. Dalferth 2010, 89f.

244 Fuchs ²1965s, 105: „Es geht hier nicht um die Rekonstruktion der Geschichte Jesu […], sondern um die Rekonstruktion gerade der Texte selber, um ihre Einordnung in denjenigen Sprachzusammenhang, der sie entstehen ließ.“ Vgl. auch Fuchs 1965c, 402.

245 Fuchs 1968, 37f; Fuchs ²1965f, 119f: hier als Ausarbeitung des Vorverständnisses.

246 Fuchs ²1965r, 76f.

247 Fuchs 1968, 246. Im Grunde interpretiert FUCHS hiermit die fides ex auditu (vgl. Fuchs ²1965g, 305).

248 Fuchs ⁴1970, 61; 72 (christologisch); Fuchs 1968, 146-154 – wobei FUCHS gegenüber BULTMANN den Kern der Sache im Wort Gottes und weniger in der Existenz sehen will.

249 Z.B. indem er die Botschaft des Textes weitergibt oder darüber schweigt (Fuchs ²1965s, 96).

59 Selbstverständnis, das durch den Text von sich entfremdet wird, sofern die Leserin sich entscheidet, dem Ruf zu folgen.250 Mit dieser Entscheidung übergibt sie nämlich – bildlich gesprochen – dem Text das Wort, oder passiv gewendet: ist bereit, auf den Text zu hören. Der existentiale Bezug des Textes ist auch deswegen sprachlich verstanden, weil er auf das Sprechen des Menschen zielt.251 Die Autorität, in deren Namen der Mensch spricht, entscheidet darüber, wer die Verantwortung für seine Existenz übernimmt. „Autorität“ ist hier wiederum wörtlich zu verstehen, nämlich als Urheberschaft der Existenz: Ein Mensch, der seine Existenz aus sich selbst heraus begründet, spricht mit seiner eigenen Autorität. Auf ein Wort zu hören bedeutet aber, die so verstandene Verantwortung für das eigene Sprechen abzulegen. Die Leserin erkennt damit den Vorrang der Sprache über ihr Sprechen und Handeln an, sie empfängt das Wort als Geschenk,252 das es ihr ermöglicht, in ein Selbstverhältnis zu treten, denn Sprache strukturiert die Wirklichkeit und erfasst sie im Gesamtzusammenhang des Seins.253 Diese ordnende und orientierende Funktion, in der sich der Zugang zum Sein erschließt, findet der Mensch bereits vor und erfährt sie als befreiend für das eigene Selbstverständnis. Denn er kann davon frei werden, seine Existenz in der eigenen Fraglichkeit gründen zu müssen, sondern kann sich durch die Sprache verstehen.

Entsprechend wird also die Entstehung des Glaubens interpretiert: als Wirkung des Textes, in der sich die Leserin von sich selbst entfremdet und sich durch das Gegenüber des Textes neu bestimmen lässt. Dann versucht der Mensch nicht, sich selbst zu begründen, sondern hört freiwillig auf Gottes Wort und lässt sich in seinem Handeln von ihm bestimmen. Diese bewusste Passivität nennt FUCHS „Ruhe“ oder später auch „Stille“,254 diese Begriffe korrespondieren mit dem „Ruf“ und dem Sprechen des Textes.255

250 Fuchs ⁴1970, 139.

251 Im Gegensatz zur BULTMANN, der die Entscheidung über die Existenz des Menschen in der Handlung sieht (Fuchs ²1965s, 100).

252 Vgl. auch zum Folgenden Fuchs ⁴1970, 144.

253 Diese Möglichkeit liegt also in der Sprache (FUCHS 1968, 178; 235). Vgl. Fuchs ²1965g, 283: „Das Wesen der Sprache heißt Erlaubnis“, sie ist es, die diese „Freiheit zum Wort“ gewährt.

254 Im Vergleich hat FUCHS in seiner späteren „Marburger Hermeneutik“ (1968) diesen Aspekt der Existenzbegründung mehr betont und ausgearbeitet, als zuvor. Zwar erhält er in der früheren „Hermeneutik“ einen eigenen Abschnitt (§8 „Die Mitteilung als Zwischenbestimmung der existentiellen Wahrheit“, aaO., 140ff), dessen Funktion aber offensichtlich der Übergang zwischen den Überlegungen zum Selbstverständnis (§7, aaO., 134ff) und den Ausführungen zur existentialen Interpretation des Neuen Testaments bildet. FUCHS verbindet insofern noch nicht direkt die Existenzbegründung mit der Ruhe, die die Sprache dem Ich verschafft, wenn gleich diese Verbindung sehr wohl angelegt ist, weil er bereits mit der „existentiellen Wahrheit“ arbeitet, der Gehör gegeben wird (Fuchs ⁴1970, 143).

255 Zum Begriff „Stille“ vgl. auch Heidegger 1985d, 26f. Auch hier zeigt die Stille in Verbindung mit dem Ruf das Wesen der Sprache an, in das der Mensch „gehört“ (!) und in dem er zu sich selbst kommt: „Das gesammelte Heißen, das Geheiß, als welches der Unterschied Welt und Dinge ruft, ist das Geläut der Stille.“ (aaO., 30). Zum

„Ruf ins Anwesen“: aaO., 21. Vgl. dazu FUCHS‘ Darstellung von HEIDEGGERs Begriffen: Fuchs 1968, 43.

60 FUCHS‘ Aussage: „Sprache bringt zur Ruhe“,256 verdeutlicht gut den Gedanken hinter dem Konzept Stille, in die die Sprache „als Sprachereignis“257 führt. Nicht im aktiven Sprachgebrauch, sondern gerade in einer Passivität kann der „Ruf“ auf den Menschen wirken.

FUCHS formuliert: „Die Stille ist ja Entzug (der Unruhe). Sie fordert das Sein-lassen.“258 Die Wortverbindung „Sein-lassen“ ist so zu verstehen, dass in der Stille das Sein zugelassen wird, sich zeigen kann, ihm Raum gegeben wird. Das Sein ist also zuvor durch das aktive Sprechen des Menschen gewissermaßen verdeckt, weil sich der Mensch stets auf eine situationsgebundene Aussage festlegen muss. In der Kommunikation ist er gefordert, Sachverhalte ganz wörtlich „festzustellen“, um Anderen seine Sicht auf die Situation zu vermitteln. Dabei läuft er Gefahr, seine Sprache auf ihre Aussagefunktion zu reduzieren. Wie es aber auf der sprachlichen Ebene neben der Aussage auch das Sprachereignis gibt, umfasst das Sein auf der ontologischen Ebene neben der Wirklichkeit auch die Möglichkeit. Insofern ist gerade die Stille der Raum der Sprache, weil sie in ihm das Sein mit allen Möglichkeiten in Erscheinung treten lässt. Die Sprache erscheint paradoxerweise als der vermittelnde Raum zwischen Sein und Seiendem, weil sie selbst in ihrer Vermittlung stumm bleibt oder wie FUCHS

sagt, sich „entzieht“259. Ausgehend von der Erfahrung der Stille ist also innerhalb der Sprache zwischen solchen Worten zu unterscheiden, die existential wirken, indem sie das Sein zur Sprache bringen und solchen, die lediglich im Rahmen der Wirklichkeit eine Aussage treffen.

FUCHS verknüpft dieses Konzept mit der Existenzbegründung, weil die „Stille […] unser Dasein ermöglicht und begründet“.260 Diese Begründung anzunehmen bedeutet, Jesu Gottesverhältnis zu entsprechen, also einen gehorsamen Glauben anzunehmen. Diese Glaubensannahme ist bei Fuchs, wenn auch christologisch fokussiert, pneumatologisch gedacht: Die Stille entspricht dem Heiligen Geist, er ermöglicht und bewirkt, dass das Wort Gottes im Gehorsam angeeignet wird.261 So kann man die Formulierungen FUCHS‘ zur Stille im

256 Vgl. auch zum Folgenden FUCHS 1968, 178.

257 FUCHS 1968, 242. Sie ist mit JÜNGEL formuliert ein Schweigen, das „beredt“ „vieldeutig“ und „angemessen[]“

ist (Jüngel ⁷2001, 347f). Vgl. auch Heidegger 1977, 219: „Nur im echten Reden ist eigentliches Schweigen möglich.“

258 Fuchs 1968, 179.

259 Fuchs 1968, 179: „Entzug ist also nichts Negatives, sondern ursprünglich verstanden das Ereignis des Seins in der Stille einer uns gemeinsamen Welt, in der wir uns verstehen; in die wir uns sprachlich eingelassen finden.“

260 Fuchs 1968, 179.

261 Fuchs 1965n, 247. Dies hat HUXEL nicht gesehen, wenn sie bemerkt, dass „Fuchs‘ Beschreibung [der Offenbarung und des Glaubens] ohne Bezugnahme auf das Wirken des Heiligen Geistes auskommt.“ (Huxel 2004, 311). Sie hat insofern recht, als dass der Begriff „Geist“ offensichtlich nicht zu FUCHS‘ bevorzugtem Vokabular gehört. Dass er allerdings in der Sache sehr wohl mit einem Wirken des Geistes rechnet, wird dort deutlich, wo FUCHS sich auf traditionelle Begriffe bezieht (s. nur die traditionelle trinitarische Bestimmung in: Fuchs 1965p, 81; 88f; 92 – und auch den ursprünglichen Titel dieser Überlegungen: „Die trinitarische Bezogenheit der Lehre vom Worte Gottes“, aaO., 70, Anm.). FUCHS bevorzugt dagegen konsequenterweise sprachtheologische Umschreibungen (so eben die Beschreibung der Stille, konkreter und an traditionelle Bestimmungen leicht

61 Rahmen seiner Rechtfertigungslehre sehen, die er mit weiteren Begriffen aus dem Feld

„Sprache“ interpretiert:262 Indem der Mensch sein eigentliches Verhältnis zu Sprache und Wirklichkeit erfasst, nämlich dass er nicht über sie verfügt und sich nicht aus sich selbst heraus begründen kann, erkennt er sich als Geschöpf an. Der Mensch kommt anhand der Sprache zu einer angemessenen Verhältnisbestimmung von Aktivität und Passivität, beziehungsweise Freiheit und Gehorsam. Als Geschöpf wird ihm nämlich die Sprache gewährt, mittels derer er sich aktiv frei entscheiden und in der Wirklichkeit orientieren kann.263 Ihm wird aber auch die Stille gewährt, in der er zu sich selbst kommen kann, also zu dem Gehorsam seinem Schöpfer gegenüber. Verweigert er den Gehorsam, ist er als Sünder gewissermaßen von den Möglichkeiten des Seins abgeschnitten und allein auf die Wirklichkeit verwiesen.264 Die Wirklichkeit erscheint in dieser Perspektive als Raum des Gesetzes,265 in dem die Gabe der Sprache zum Zwang wird, sich zu verantworten. Indem er das Sein als „Ansprechbarkeit“

auffasst,266 kann FUCHS zwischen der Wirklichkeit des Menschen und seinen Möglichkeiten unterscheiden. Zwar ist der Mensch auf eine Wirklichkeit festgelegt und muss in ihr handeln, er ist aber gleichzeitig (und kontrafaktisch) auf unverwirklichte Möglichkeiten ansprechbar.

Die Haltung des Glaubens ist dementsprechend die Annahme dieses Anspruchs, der als Zuspruch verstanden werden muss, weil er den Menschen von seiner Verantwortung befreit.

Dass er in der Wirklichkeit trotzdem verantwortlich ist, ist Ausdruck eines eschatologischen Vorbehalts, den FUCHS mitführt. Die Stille, die also somit die Lage des gerechtfertigten Menschen interpretiert, ist zwar „für immer“267 geschaffen, aber kein dauerhafter Zustand für den Menschen. Über diese sprachlichen Begriffe kommt FUCHS also zu theologischen und anthropologischen Bestimmungen.268

anschließbar: Fuchs 1965n, 246: „Sprachkraft“; aaO., 247: „Kraft ihres Wortes“). Unter Berücksichtigung dieser Hinweise kann FUCHS‘ Entwurf sachlich durchaus als trinitarisch angelegt interpretiert werden.

262 Dazu gibt auch die Bemerkung Anlass: „Die Sprache rechtfertigt das Sein.“ (Fuchs ²1965g, 283). Ebenso:

Fuchs 1960b, 425.

263 V.a. im ethischen Sinne: „Diese Stille [die Stille der Sprache] ermöglicht so etwas wie Gewissen.“ (Fuchs 1968, 243). Wobei Gewissen wiederum ein sprachlich verfasstes Phänomen ist, allerdings zum Bereich der Sprechereignisse, also des gesetzlichen, vorläufigen zählt. Dieses Phänomen ist für FUCHS daher offensichtlich nicht von besonderem Interesse. Es begegnet v.a. in seinen Paulusexegesen (z.B. Fuchs ²1965g, 295; Fuchs 1965a, 202; Fuchs 1965l, 397f).

264 Fuchs 1960b, 428.

265 Fuchs 1968, 243f.

266 S.o., S.39f. Vgl. auch S.67.

267 Fuchs 1968, 244.

268 PILNEI findet die Verhältnisbestimmung nicht klar genug, da Aktivität und Passivität des Glaubens nicht einleuchtend differenziert seien (Pilnei 2007, 180), s.a. aaO., 196: „Dieses schlägt sich in einer Vielzahl von widersprüchlichen Gegenüberstellungen […] nieder, die das Zugleich von Aktivität und Passivität hervorheben, um den Glauben als das eine, einheitliche Heilsgeschehen auszuweisen, damit aber die Differenz beider Aspekte nivellieren.“

62 Die Begegnung mit dem Wort Gottes, in Form des Bibeltextes oder der Verkündigung, findet auf existentieller Ebene statt, auf der der Text den Menschen auffordert, ein Selbstverhältnis einzunehmen. Diesem Ruf des Textes kann der Mensch als sprachlich bestimmtes Wesen entsprechen, indem er im weitesten Sinne auf sein eigenes Sprechen verzichtet und sich allein vom Wort Gottes bestimmen lässt. In der Stille verortet FUCHS die gerechtfertigte Beziehung zwischen Mensch und Gott: Der der Mensch lässt sich von Gott alles sagen und entsagt seiner eigenen beschränkten Wirklichkeit. Im Wort Gottes begegnet er dann seinen Möglichkeiten und der Wahrheit seines Seins. Glaube ereignet sich also als gerechtfertigtes Selbstverständnis im Raum der Sprache, die somit auch die existentialhermeneutische Struktur von Textverstehen, Verkündigung und Rechtfertigung bietet.

Was sind nun die unverwirklichten Möglichkeiten des Menschen, beziehungsweise was ist die Wahrheit gegenüber der Wirklichkeit? Um diese Fragen zu beantworten, muss nun noch genauer auf den Inhalt des Sprachereignisses eingegangen werden, das dem Menschen im Text des Evangeliums begegnet: Jesus Christus, das Wort Gottes.

4.1.2. Jesus als Sprachereignis: Wahrheit und Rechtfertigung als

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