• Keine Ergebnisse gefunden

5.3 Blickpunkt Partnerschaft: Interaktion und Beziehung

5.3.1 Bewahrung und Überwindung von Eigensinn in der Interaktion

5.3.1.1 Zur Einzigartigkeit von Situationsdeutungen

Person als Bezugspunkt ihrer Weltauslegung dient (vgl. Schütz/Luckmann 1975, S. 26).59 Entsprechend handelt jeder Mensch alltäglich eingebettet in seine subjektiven Sinnzusam-menhänge.

Da das lebensweltliche Denken pragmatisch motiviert ist, richtet es sich im Wesentlichen auf die Zukunft aus, denn Vergangenes kann zwar noch einmal neu interpretiert werden, aber nur das Zukünftige ist durch unsere Handlungen beeinflussbar. Schütz führt in diesem Zusammenhang den Begriff des „Plansystems“ ein:

„Ich finde mich in einer raum-zeitlichen und sozialen Lage, in einer natürlich und gesellschaftlich gegliederten Umwelt. Daraus wachsen mir Relevanzstrukturen zu, die sich mit meiner Erinnerung an meine Vergangenheit, an vergangene Entscheidungen, an begonnene Handlungen, an unvollendete Projekte, zu einem zwar nicht homogenen, aber mir einheitlich erscheinenden Plansystem zusammenschließen“ (Schütz/Luckmann 1975, S. 36).

Wissensvorrat bzw. Plansystem und Situation stehen zueinander in einem engen Zusam-menhang: Der Wissensvorrat baut sich einerseits aus situationsgebundenen Erfahrungen auf, andererseits werden Situationen mit Hilfe des Wissensvorrates und vor dem Hintergrund planbestimmter Interessen definiert und bewältigt. Die planbestimmten Interessen sind zwar in eine übergeordnete Planhierarchie eingegliedert, aus der sich die Prioritäten und Dring-lichkeiten des Handelns ableiten, werden aber auch bis zu einem Gewissen Grad von der Situation „mitgerissen“ (vgl. Schütz/Luckmann 1975, S. 129).

Da der Wissensvorrat routinemäßige Problemlösungen enthält, können die offenen Ele-mente einer vertrauten Situation auch routinemäßig bestimmt werden. Das reicht jedoch nicht immer zur Bewältigung einer Situation aus. Passt eine neuartige Erfahrung nämlich nicht mehr in bekannte Bezugsschemata hinein, so wird die Situation problematisch und muss neu ausgelegt werden, bis genug Klarheit und Vertrautheit besteht, um den planbe-stimmten Interessen gerecht werden zu können (vgl. Schütz/Luckmann 1975, S. 127). „Die lebensweltliche Wirklichkeit fordert mich sozusagen zur Neuauslegung meiner Erfahrung auf und unterbricht den Ablauf der Selbstverständlichkeitskette. Der Kern meiner Erfahrung, den ich auf Grund meines Wissensvorrates ‚bis auf weiteres’ als selbstverständlich an mir vorbei passieren ließ, ist mir problematisch geworden, und ich muß mich ihm nun zuwenden“

(Schütz/Luckmann 1975, S. 29). Die Neuauslegung wird allerdings nur soweit vorangetrie-ben, wie zur Bewältigung der lebensweltlichen Situation nötig ist. Der Punkt, an dem sie unterbrochen wird und die Situation als ausreichend bestimmt gilt, wird von planbestimmten Interessen gesteuert (vgl. Schütz/Luckmann 1975, S.129). Im alltäglichen Handeln sind problematische Situationen und Prozesse der Neuauslegung allerdings gar nicht erwünscht, sondern dem Akteur liegt daran, sich in seinem Handeln an Routinen orientieren zu können (vgl. Schütz/Luckmann 1975, S. 32).

Der Wissensvorrat ist in die zeitliche, räumliche und soziale Struktur der alltäglichen Lebenswelt eingebettet. Räumlich betrachtet steht der Mensch nach Schütz im Zentrum eines Koordinatensystems, das er in eine Reichweite und eine Wirkzone aufgliedert. Die Wirkzone ist der Ausschnitt der räumlichen Reichweite einer Person, in der sich ihr unmittel-bares Handeln ereignet und auf den sie unmittelbar einwirken kann (vgl. Schütz/Luckmann 1975, S. 54-61). Hinsichtlich des zeitlichen Aspektes ist die Lebenswelt nicht nur in die Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft der persönlichen Reichweite bzw. Wirkzone

59 Einen Erklärungsansatz, wie dieser Wissensvorrat kognitiv angelegt sein kann, liefert die Theorie der kognitiven Schemata, vgl. Ausführungen zu Wissen und Problem, Kapitel 5.4.3.2.

schichtet, sondern auch in eine Weltzeit eingefügt - eine Abfolge von Ereignissen der äuße-ren Welt – und artikuliert sich in einem subjektiven Bewusstseinsstrom des Individuums (vgl.

Schütz/Luckmann 1975, Z. 61-67). Darüber hinaus gibt es eine übergeordnete Ebene der subjektiven zeitlichen Artikulation, nämlich die biografische. Als reflexive Zuwendung zu vergangenen Lebensabschnitten und als „Pläne größerer Spannweite“ ist sie dem Tages-ablauf übergeordnet. Andererseits sind in diesen wiederum Interpretationen und Entwürfe eingefügt, deren „Sinnspannweite“ der Lebenslauf ist (vgl. Schütz/Luckmann 1975, S.

71/72). Dabei beruht die biografische Artikulation auf einer einzigartigen Abfolge und Sedi-mentierung individueller Erfahrungen, die ebenso wie die genannten räumlichen und zeitli-chen Faktoren die Deutung einer Situation prägen:

„Zu den strukturell bestimmten Elementen meiner Situation kommen auch bio-grafisch bestimmte. (...) Da jede Situation und jede Erfahrung einen Vergan-genheitshorizont hat, ist jede aktuelle Situation und Erfahrung von der Einzigar-tigkeit der Erfahrungsabfolge, der Autobiographie, notwendig mitbestimmt. Es ist von der größten Bedeutung, in welcher Abfolge sich Erfahrungen aneinan-derreihen, und es ist korrelativ von der größten Bedeutung, an welcher ‚Stelle’

des Lebenslaufs bestimmte Erfahrungen auftreten“ (Schütz/Luckmann 1975, S.

72).

Die Kategorien und formalen Strukturen der biografischen Artikulation - wie Kindheit, Jugend, Reife, Alter - sind jedoch nicht rein subjektiv, sondern intersubjektiv ausgeformt.

Ohnehin ist die alltägliche Lebenswelt nie nur Privatwelt, sondern immer intersubjektiv (vgl.

Schütz/Luckmann 1975, S. 24). Nach Schütz nimmt man dabei in Bezug auf seine Mitmen-schen die folgenden Aspekte als selbstverständlich gegeben an: Es existieren noch andere Menschen neben mir, sie haben ein Bewusstsein, das meinem prinzipiell ähnelt, sie sehen die Dinge der Außenwelt so wie ich, ich kann mit ihnen in Beziehung treten, mich mit ihnen verständigen und uns allen ist eine gegliederte Sozial- und Kulturwelt historisch vorgegeben (vgl. Schütz/Luckmann 1975, S. 73).

Aus den bisherigen Ausführungen zu den Strukturen der Lebenswelt ergibt sich allerdings, dass die Annahme, andere sähen die Dinge der Außenwelt genauso wie ich, so nicht stehen bleiben kann. Schon in den einzigartigen räumlichen, zeitlichen und sozialen Lagen des Individuums liegt begründet, dass ein und dasselbe Objekt in der individuellen Wahrneh-mung Unterschiede aufweist. Zudem enthält jede Situation offene Elemente, die auslegbar sind und die bestimmt werden müssen, um in ihr handeln zu können. Dabei wird die Situa-tion vom Individuum auf der Basis seines lebensweltlichen Wissensvorrates interpretiert, der zwar schon gesellschaftlich bestimmt ist, aber hinsichtlich Inhalt, innerer Dauer, Erlebnistiefe und –nähe sowie der Erfahrungsabfolge einzigartig ist. Auch leitet sich erst aus dem indivi-duellen Wissensvorrat und den planbestimmten Interessen ab, welche Elemente einer Situ-ation vom Handelnden überhaupt als offen und auslegbar angesehen werden, sodass nicht jede denkbar Bestimmungsmöglichkeit der Situation auch verfolgt wird (vgl.

Schütz/Luckmann 1975, S. 126). Für die praktischen Zwecke des Alltages werden diese Unterschiede in den Situationsdeutungen der Mitmenschen allerdings wieder aufgehoben.

An ihre Stelle tritt die Idealisierung, dass die Standpunkte vertauschbar wären und die Rele-vanzsysteme, die andere zur Auslegung heranziehen, mit den eigenen übereinstimmten. Wir handeln so, als hätten alle die gleiche Erfahrung und Auslegung der Welt (vgl.

Schütz/Luckmann 1975, S. 73/74). Schütz und Luckmann bezeichnen dies als die „Gene-ralthese der wechselseitigen Perspektive“, ohne die zum Beispiel die Bildung und Aneignung von Sprache gar nicht möglich wäre.

Nun erfahren wir aber andere Menschen grundsätzlich in verschiedenen Stufen der Erleb-nisnähe, Erlebnistiefe und Anonymität. Teilen wir einen bestimmten räumlichen und zeitli-chen Sektor der Lebenswelt mit einer anderen Person, ist unsere Aufmerksamkeit wechsel-seitig aufeinander gerichtet und besteht eine gewisse Gleichzeitigkeit des Erlebnisablaufes, so spricht Schütz von einer unmittelbaren „Wir-Beziehung“ (vgl. Schütz/Luckmann, S. 76).

Nur Wir-Beziehungen ermöglichen die bewusste Teilnahme am Leben eines anderen. Zwar erlebt jeder die Ereignisse in seinem individuellen Bewusstseinsstrom und sie werden dem anderen nur durch Mitteilungen zugänglich, doch kann der eine aufgrund der Gleichzeitigkeit des Erlebnisablaufes die „subjektive Sinnkonfiguration“ des anderen „mehr oder weniger adäquat“ erfassen (vgl. Schütz/Luckmann, S. 76). Wir-Beziehungen aktualisieren sich in sozialen Begegnungen auf verschiedene Weisen: Man erlebt die verschiedenen Inter-aktionspartner in räumlich, zeitlich und sozial-biografisch differenzierten Auffassungsper-spektiven sowie in unterschiedlicher Erlebnistiefe und –nähe. Außerdem ist man nicht immer gleich daran interessiert, sich in die Bewusstseinsvorgänge des anderen „hineinzuleben“

(vgl. Schütz/Luckmann 1975, S. 78).

Wie weiter oben festgestellt wurde, geht der Mensch nach Schütz selbstverständlich von einer „Generalthese der wechselseitigen Perspektive“ aus. Diese Selbstverständlichkeit kann sich nun innerhalb von Wir-Beziehungen bestätigen oder auch nicht. Im Verlauf der unmittelbaren sozialen Begegnung werden Wissen und Deutungsschemata angewendet, überprüft, modifiziert und durch neue Erfahrungen verändert. Die Erfahrungen der Akteure voneinander werden nicht nur koordiniert, sondern auch wechselseitig bestimmt und aufein-ander bezogen (vgl. Schütz/Luckmann 1975, S. 79/80). „Allgemein gesagt ist es also die Wir-Beziehung, in der sich die Intersubjektivität der Lebenswelt überhaupt ausbildet und kontinuierlich bestätigt. Die Lebenswelt ist nicht meine private Welt, auch nicht die meine und die deine addiert, sondern die Welt unserer gemeinsamen Erfahrung“

(Schütz/Luckmann 1975, S. 81, Hervorhebung im Original). So ist dann auch in der unmittel-baren sozialen Begegnung Andersartigkeit erfahrbar:

„Ich erfahre in reflektiver Auslegung einer sozialen Begegnung, eines Gesprä-ches, daß du die Welt bzw. einen bestimmten Sektor der Welt nicht einmal für die praktischen Zwecke der gegenwärtigen Situation so erfahren hast wie ich und andere, mit denen ich solche Situationen geteilt habe. Ich komme zu dem Schluß, daß du mein Relevanzsystem gar nicht in dem Maß teilst, dass ich die Generalthese der reziproken Perspektiven bzw. die Idealisierung der Kon-gruenz der Relevanzsysteme noch aufrechterhalten kann. Du bist also nicht

‚jedermann’, sondern etwas anderes“ (Schütz/Luckmann 1975, S. 74/75).

Das bisher Selbstverständliche wird durch diese neuartige Erfahrung problematisch und man wird zur Neuauslegung der Situation gezwungen. Von da an sind zwei Erkenntnisse denk-bar: Entweder es gibt verschiedene Arten von Menschen oder der andere ist kein „normaler“

Mensch (vgl. Schütz/Luckmann 1975, S. 75).

Bei der Erfahrung von anonymen Zeitgenossen hingegen ist mir das Bewusstsein des andern nicht mehr so unmittelbar zugänglich, wie in der Wir-Beziehung. Diese Zeitgenossen werden daher durch Typisierungen erfahren, also durch „typisches Wissen um typische Vor-gänge“ (vgl. Schütz/Luckmann 1975, S.87). Typen entstehen aus vorangegangenen Erfah-rungen von Mitmenschen und durch Auslegungen von Mitteilungen über Dritte, liegen also letztendlich wieder in konkreten Erfahrungen begründet (vgl. Schütz/Luckmann 1975, S. 86).

Typisierungen von Menschen im allgemeinen und von bestimmten Menschen gehören zum Wissensvorrat und spielen zwangsläufig auch in Wir-Beziehungen eine Rolle. Ohnehin können nur in Wir-Beziehungen Typen belebt und modifiziert werden.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Situationsdeutungen auf den planbestimmten Interessen und lebensweltlichen Wissensvorräten der Akteure beruhen.60 Wissensvorräte werden zwar intersubjektiv geformt, hinsichtlich Inhalt und biografischer Erfahrungsabfolge sind sie aber bei jeder Person einzigartig ausgeprägt. Dennoch gehen wir im alltäglichen Handeln von einer „Generalthese der wechselseitigen Perspektive“ aus. In der unmittelbaren Wir-Beziehung allerdings können wir entgegen dieser These auch die Andersartigkeit von Situationsdeutungen erfahren. Dann stehen wir vor der Aufgabe, die subjektiven Sinnkonfi-gurationen anderer zu erfassen und uns bis zu einem gewissen Grad in ihre Welt hineinzu-leben. Durch diese Auslegungsprozesse wiederum wird die eigene Lebenswelt intersubjektiv verändert.

Es gibt also auf der einen Seite soziale Beziehungen, die nicht in lebendigen Wir-Beziehun-gen „geformt“ sind. Auf der anderen Seite aber gibt es BeziehunWir-Beziehun-gen, die sich nur in der Unmittelbarkeit von lebendigen „Wir-Beziehungen“ konstituieren können, da sie einer gewissen Erlebnisnähe und –tiefe bedürfen. Zu dieser Art von Beziehungen zählt auch die unternehmerische Partnerschaft, der wir uns anhand des empirischen Materials wieder genauer zuwenden werden.