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5.2 Blickpunkt Individuum: Identität

5.2.2 Innerer Schritt in die berufliche Selbständigkeit

Beim ersten Typ hat schon vor der Existenzgründung der bis dahin beschrittene Berufsweg an Sinn und Überzeugungskraft verloren, sodass eine aktive Suche nach Alternativen einge-setzt hat. Eng gekoppelt ist diese Sinnlosigkeitserfahrung an Wahrnehmungen der eigenen Person, die eine veränderte Zukunftsplanung verlangen. Man kann in diesem Fall von einem selbstinduzierten Transformationsprozess sprechen (vgl. Frey/Haußer 1987, S. 12/13; vgl.

Siegert/Chapmann 1987, S. 140/141). Selbstinduzierung schließt keinesfalls aus, dass der Identitätswandel kontextuell eingebunden ist und von lebensgeschichtlichen Erfahrungen beeinflusst wird, allerdings gibt es selten ein einziges und plötzliches Ereignis, das die Veränderung auslöst.

„Individuelle Sinnkrisen wachsen zumeist. Fragen wie ‚Ist das mein Leben?’,

‚Will ich so sein?’ verdichten sich zu einem Ostinato, meist begleitet von Abwehr, von einem geheimen Schreck vor diesen Fragen, bis schließlich die Entscheidung fällt: ‚Ich will anders sein’. Es sind Sinnkrisen, weil hier vertraute und im Lebensraum anerkannte Muster für die Person brüchig werden, nicht mehr ‚stimmen’, und damit ihren motivierenden Sinn verlieren“ (Frey/Haußer 1987, S. 13).

Veranschaulichen lässt sich dieser Typ exemplarisch an den Personen von Frau Ludwig und Frau Hesse. Beide waren zuvor im Angestelltenverhältnis tätig, womit sie allerdings unzu-frieden waren.38 Auf Grund ihrer „grauenhaften Erfahrung“ als Lehrerin hatte Frau Hesse bereits einige Jahre vor der partnerschaftlichen Gründung den Wechsel zu einer freiberufli-chen Tätigkeit im Bereich der Datenbankentwicklung vollzogen. Später wechselte sie erneut ihr Tätigkeitsfeld, indem sie als Computerdozentin arbeitete. Auch wenn sie mit dem Charakter der Dozententätigkeit nicht unzufrieden war, hat die Arbeit in geschlechtlich gemischten Lerngruppen für sie im Zeitverlauf inhaltlich an Sinn verloren, sodass sie zu dem Schluss kam: „Das kann es irgendwie nicht sein.“ Frau Ludwig erlebte eine vergleichbare Entwicklung. Mit ihrer Tätigkeit an der Hochschule war sie unzufrieden, während sie bei ihrer nebenberuflichen Tätigkeit als Dozentin in Computerkursen speziell für Frauen mehr Zufrie-denheit und Anerkennung fand und auch ihre Lebensvorstellungen eher erfüllt sah. So stand sie dann vor der Frage: „Was mache ich jetzt?“

Bemerkenswert ist bei diesem Typ, dass die identitätskritische berufliche Situation nicht passiv erlitten, sondern aktiv angegangen wird. So wurden die je individuellen Sinnkrisen von Frau Ludwig und Frau Hesse in zahlreichen Dialogen zu einer gemeinsamen Entwick-lungsaufgabe. Sie setzten sich das Ziel, etwas an ihrer beruflichen Situation zu ändern und gründeten eine eigene Computerschule speziell für Frauen. So waren beide schon zum Zeitpunkt der Existenzgründung eine weitreichende innere Verpflichtung für die unternehme-rische Selbständigkeit eingegangen. Auch bei weiteren der untersuchten Akteure sind indivi-duelle berufliche Sinnkrisen erkennbar. Hervorzuheben ist, dass diese Sinnfragen auch bei der späteren Unternehmensführung ihre besondere Bedeutung behalten.39 Begleitet wird der Aufbau der inneren Verpflichtung von einem Prozess der Entbindung von vorhergehenden Erwerbskonzepten, welcher sich im weiteren Verlauf der beruflichen Selbständigkeit fortsetzt (vgl. Kupferberg 1997, S. 188ff.). So wandte sich Frau Hesse vom Lehramt ab, obwohl sie sich während der ganzen Jahre zuvor darauf vorbereitet hatte. So gab Frau Ludwig ihre Hochschullaufbahn auf und brach ihre Dissertation kurz vor deren Vollendung ab. Zehn Jahre nach ihrer Existenzgründung ist diese Entbindung bei beiden so weit fortgeschritten,

38 Vgl. Fallanalyse Hesse/Ludwig, Kapitel 4.5.

39 Vgl. Ausführung zur Unternehmenspraxis als Ausdruck persönlicher Erwerbsentwürfe, Kapitel 5.4.1.

dass sie sich in beruflichen „Ex-Rollen“ verstehen und sich von ihrem damaligen Berufsweg, ihren damaligen Kompetenzen und Haltungen bewusst abgrenzen.40

In Ergänzung zu den eigenen Daten lässt sich die Bedeutung individueller Sinnkrisen beim Schritt in die berufliche Selbständigkeit durch weitere Ergebnisse der Gründungsforschung untermauern. So wurde festgestellt, dass eine Arbeitssituation, die grundlegende Bedürf-nisse und Lebenspläne behindert, eine berufliche Umorientierung hin zur Selbständigkeit auslösen kann. Aus der Praxis von Existenzgründungsberatungen wird berichtet, dass junge Akademiker den Anstoß zur Existenzgründung vor allem durch die Organisationsstrukturen ihrer vorherigen Arbeitsstätten erhalten, die das berufliche Fortkommen und ein Umsetzen kreativer Ideen blockieren (vgl. Lang-von Wins 1999, S. 30-32). So können Unzufriedenheit mit dem Chef oder ein Verlust von Zeitautonomie am Arbeitsplatz beispielsweise zu dem Wunsch führen, die eigenen Arbeitsbedingungen selbst gestalten zu wollen und größere Autonomie zu erlangen. Auch der innere Wunsch nach Selbstverwirklichung kann eine Revi-sion bisheriger sozialer und beruflicher Positionen bewirken. Es wird berichtet, dass viele Hochschulabsolventen den Weg in die Selbständigkeit gehen, weil sie „in kleinen Organisa-tionen Arbeit suchen und ganz allgemein neue Wege gehen wollen“ (Lang-von Wins 1999, S. 31).

Beim zweiten Typ allerdings wird erst nach dem Akt der Existenzgründung allmählich der innere Schritt in die berufliche Selbständigkeit vollzogen. Man nimmt bzw. strebt nach dem Studium eine angestellte Tätigkeit an, wobei die Bindung an den traditionellen Berufsweg des Angestellten hoch ist. Hier bewirkt erst ein bestimmtes Ereignis, das nach Wahrneh-mung der Akteure ungeplant, oder sogar ungewollt, auf sie zukommt, einen Wechsel der Erwerbsperspektive und den Schritt in die berufliche Selbständigkeit – ein Schritt, der dann eine Veränderung der persönlichen Identität mit sich bringt. Dieser Anlass kann im Einzelfall durchaus den Charakter eines kritischen Lebensereignisses haben:

„Da diese Ereignisse eine Unterbrechung habitualisierter Handlungsabläufe darstellen und die Veränderung oder den Abbau bisheriger Verhaltensmuster erfordern, werden sie prinzipiell als ‚streßreich’ angesehen, und zwar in vielen Fällen unabhängig davon, ob es sich dabei um ein nach allgemeinen Maßstä-ben ‚positives’ (z. B. Heirat) oder ‚negatives’ (z. B. Verlust des Arbeitsplatzes) lebensveränderndes Ereignis handelt“ (Filipp 1981, S. 23/24).

Dieses Muster lässt sich exemplarisch gut an Frau Marschall oder Herrn Berg beschreiben.

Zwar hegten beide schon vor dem Anlass zur Unternehmensgründung erste Gedanken an eine berufliche Selbständigkeit, doch diese Erwägungen blieben „theoretisch“ und mündeten nicht in einem konsequente praktischen Engagement – es gab keine echte innere Verpflichtung.

Frau Marschall, als promovierte Wirtschaftswissenschaftlerin seit längerem auf der Suche nach einer Anstellung, bekam dann „zufällig“ das Angebot, als Unternehmensberaterin in das Büro eines ehemaligen Kommilitonen einzusteigen. Genau das tat sie, bezeichnet ihren Schritt in die berufliche Selbständigkeit jedoch als „Notlösung“, für die sie sich nur „halbher-zig“ engagierte. Im Grunde plagten sie immer wieder Zweifel an der Richtigkeit ihrer Ent-scheidung – vor allem dann, wenn ihr ein hoher Arbeitseinsatz abverlangt wurde oder das Einkommen nur wenig gesichert war. So bemühte sie sich auch weiterhin um eine feste

40 Vgl. Fallanalyse Hesse/Ludwig, Kapitel 4.5.

Anstellung und stieg sogar noch einmal für einige Zeit aus dem eigenen Unternehmen aus, um als Angestellte in einem Hochschulprojekt zu arbeiten.41

Herr Berg dachte angesichts des überraschenden Gewinns eines Planungswettbewerbes zwar erstmals an eine eigene Bürogründung, wurde aber dennoch als freier Mitarbeiter für ein anderes Planungsbüro tätig - eine Arbeit, mit der er sehr zufrieden war. Erst als ein Jahr nach dem Wettbewerbsgewinn die Gemeinde mit dem Auftrag zur Realisierung der Pläne an ihn und seinen späteren Partner herantrat, gründeten er und sein Partner, angeregt durch dieses Ereignis, ein eigenes Büro. Herr Berg engagierte sich aber nur „mit halber Kraft“ für sein eigenes Unternehmen. Er stand schließlich vor einer „Zerreißprobe“, als ihm das andere Büro eine interessante Perspektive anbot. Angesichts der mit der beruflichen Selbständigkeit verbundenen „existenziellen Not“ war diese Alternative für ihn durchaus attraktiv.42

Die Beispiele zeigen, dass der nach außen klare Schritt in die Selbständigkeit eine innere Desorientierung auslösen kann. Marcia spricht diesbezüglich von einem „Moratorium“, das er als einen wichtigen Zustand der Identitätsentwicklung ansieht (vgl. Haußer 1995, S. 79-84). Er differenziert Identitätszustände u. a. nach dem Bestehen bzw. Nichtbestehen einer inneren Verpflichtung für einen bestimmten Gegenstand. Während des Moratoriums befindet sich eine Person im „Kampf“ zwischen zwei Alternativen: im gegebenen Zusammenhang zwischen beruflicher Selbständigkeit zum einen und abhängiger Tätigkeit zum anderen. Zu beiden Alternativen fühlt man sich in gewisser Weise hingezogen, doch zu keiner zeigt man eine echte innere Verpflichtung. Dieser Typ steht vor allem dann vor einer Bewährungs-probe, wenn seine Tätigkeit nicht mehr nur mit Lust verbunden ist, sondern Anstrengung und Einsatz fordert oder wenn existenzielle Notsituationen eintreten. Die Tatsache, dass die berufliche Selbständigkeit mit einem existenziellen Risiko verbunden ist, trägt also wesent-lich zu diesem inneren „Kampf“ bei.

Dennoch müssen die Akteure früher oder später eine klare Linie finden, um die identitätskri-tische Lage zu überwinden. So gelingt es ihnen schließlich, sich innerlich für den Erwerbs-entwurf der beruflichen Selbständigkeit zu verpflichten. Als wesentliche Faktoren, die den inneren Schritt in die berufliche Selbständigkeit ermöglichen, erweisen sich Bestätigungen und Ermutigungen im sozialen Umfeld, der Wunsch nach beruflicher Selbstverwirklichung, gekoppelt an das Erkennen von Selbstverwirklichungschancen in der eigenen Selbständig-keit, oder auch das Eintreffen neuer Aufträge und damit einer gewissen existenziellen Sicherheit. Dennoch holt diesen Typ bei Auftragsflauten, die bisweilen sogar als „existenz-bedrohlich“ empfunden werden, immer wieder ein innerer Zwiespalt ein zwischen dem Wunsch nach Sicherheit, also angestellter Tätigkeit, und unternehmerischer Freiheit.

41 Vgl. Fallanalyse Kilian/Marschall, Kapitel 4.2.

42 Vgl. Fallanalyse König/Berg, Kapitel 4.3.