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5.3 Blickpunkt Partnerschaft: Interaktion und Beziehung

5.3.1 Bewahrung und Überwindung von Eigensinn in der Interaktion

5.3.1.4 Konsensfindung als Akt der Balancierung

Nach Krappmann erfordert jede soziale Interaktion von den Beteiligten eine Angleichung ihrer Handlungsorientierungen unter gleichzeitiger Wahrung von Einzigartigkeit, verlangt also vom Individuum Anpassung und Unterscheidung zugleich. Er operiert in diesem Zusammen-hang mit dem Identitätsbegriff. In Abgrenzung zu Haußer geht es ihm jedoch nicht um den psychologischen Prozess der Identitätsentwicklung, sondern um den Prozess des Wahrens, Offenbarens und Balancierens von Identität bzw. Individualität im sozialen Interaktionspro-zess.72

In einer konkreten Situation versucht jeder Akteur zunächst die Interpretation durchzusetzen, die seinen Handlungsmöglichkeiten und Absichten entspricht. Zwar weisen die Interpreta-tionen bzw. die damit verbundenen Erwartungen der Interaktionspartner Gemeinsamkeiten auf, dennoch stimmen sie nicht gänzlich überein. Dadurch ergibt sich für den einzelnen das Problem der Identitätswahrung - ein Problem, das Krappmann unter Bezugnahme auf das Konzept der Rollenerwartungen beleuchtet. Die Situationsdefinition des einzelnen erfolgt demnach ausgehend von seiner persönlichen Biografie und seiner besonderen Rollenkom-bination, also auch ausgehend von Anforderungen, die außerhalb der aktuellen Situation liegen. Die Beteiligung an verschiedenen Interaktions- und Normensystemen, für Krappmann eine sozialstrukturelle Gegebenheit, kann dabei für den einzelnen Widersprüche hervorrufen. Krappmann betrachtet diese Widersprüchlichkeit jedoch nicht als Belastung, sondern als Chance, um Einzigartigkeit und Unverwechselbarkeit zu schaffen. Die „Inkon-sistenz der gesellschaftlichen Normensysteme“ ist in diesem Sinne eine Voraussetzung dafür, dass man in der Interaktion Identität bilden und wahren kann (vgl. Krappmann 1993, S. 9). Der Mensch hat also nach Krappmanns Auffassung nicht mehrere Identitäten, die nebeneinander stehen und je nach Interaktionssituation zum Tragen kommen, sondern dem Individuum muss es gelingen, die verschiedenen Aspekte seiner Identität in ihrer jeweiligen Bedeutung im Interaktionsprozess präsent zu machen und zu vereinbaren. Die Leistung des Individuums, in diesem Sinne als Identisches aufzutreten, ist für ihn die Voraussetzung für eine gelingende Interaktion und die Koordination der am sozialen Handeln Beteiligten.

Da die individuellen Situationsdeutungen der Handelnden aber nicht übereinstimmen, müssen sie einen Konsens finden, damit die Interaktion erfolgreich verläuft. Dies funktioniert nach Krappmann, wenn Verständigung durch Sprache stattfindet, wenn die Erwartungen der

72 Vgl. Ausführungen zur Identitätsentwicklung durch Erfahrung, Kapitel 5.2.1.

anderen aufgegriffen werden, wenn die eigenen Erwartungen gezeigt werden, wenn dann Kompromisse gefunden werden und der einzelne auf eine vollständige Bedürfnisbefriedi-gung verzichtet (vgl. Krappmann 1993, S. 25). „Übereinstimmung über die Identität der Beteiligten und die Interpretation der Situation ist das Ergebnis eines Prozesses, in dem Erwartungen ausgetauscht und nach und nach einander angeglichen werden“ (Krappmann 1993, S. 34). Ein solcher Aushandlungsprozess ist auf einen Dialog angewiesen und Bedarf der Anstrengung jedes Beteiligten, zu ermitteln und herauszustellen, welche Erwartungen überhaupt bestehen, worauf sie sich beziehen, wie sie zu verstehen sind und welche als vorrangig betrachtet werden (vgl. Krappmann 1993, S.117). Der Prozess der Konsensfin-dung funktioniert allerdings nur in herrschaftsfreier, gleichberechtigter Interaktion reibungs-los, denn nur dann ist eine offene Kommunikation sowie die freie Anerkennung der Erwar-tungen des anderen möglich (vgl. Krappmann 1993, S. 33/34). Dennoch ist die eigene Indi-vidualität nie vollständig übersetzbar, sondern immer ein Verzicht auf die volle Bedürfnisbe-friedigung erforderlich.

Am Beginn einer erfolgreichen Interaktion steht nach Krappmann das Hinhören auf die Erwartungen der anderen und die Darstellung der eigenen Identität. Hinhören verlangt, die eigenen Erwartungen und Interpretationen zurückzustellen und statt dessen aufzunehmen, was der Partner über sich selbst aussagen will. Erst durch diese „Selbstaufgabe“ kann das Individuum darstellen, ob die Erwartungen des Partners seiner eigenen Identität entsprechen und seine eigenen Erwartungen einbringen, um einen Interaktionsprozess zu wahren, der auch im eigenen Sinne ist (vgl. Krappmann 1993, S. 37/38). Das gemeinsame Handeln wird dabei vor Schwierigkeiten geschützt, wenn man zu erkennen gibt, wer man in anderen Inter-aktionssystemen ist und war, denn so kann der Interaktionspartner Motive erkennen, das Handeln des anderen besser einschätzen und antizipieren (vgl. Krappmann 1993, S. 50).

Gelingt einer Person die Darstellung ihrer Identität nämlich nicht, so hat der andere zum einen keine Anhaltspunkte, um das Risiko der eigenen Interaktionsbeteiligung abzuschät-zen, zum anderen bleibt ihm nichts anderes übrig, als die Person unter übliche Kategorien zu subsumieren und sie in den herangetragenen Erwartungen aufgehen zu lassen. Doch darf sich das Individuum auch nicht als so einzigartig präsentieren, dass gar keine Kategori-sierung mehr möglich ist - auch das würde die Möglichkeiten zum Gelingen der Interaktion schmälern (vgl. Krappmann 1993, S. 37/38, S. 117).

Wahrung von Identität in der sozialen Interaktion ist also nur möglich, indem das Individuum einerseits Erwartungen, Normen, Verhaltensmuster und Sprache übernimmt, diesen Bezugsrahmen aber andererseits infrage stellt und verändert. „Das Individuum akzeptiert Erwartungen und stößt sich zugleich von ihnen ab, und zwar jeweils im Hinblick auf andere, divergente Erwartungen, die ebenfalls Anerkennung fordern“ (Krappmann 1993, S. 79).

Krappmann bezeichnet diesen Prozess als einen „Akt der Balancierung“. Die Art und Weise der Balancierung macht für ihn die Individualität des einzelnen aus. Krappmann bezeichnet den Akt, scheinbar den sozialen Erwartungen zu entsprechen - da man sich ohne Benutzung der Norm nicht als Interaktionspartner etablieren kann - gleichzeitig aber zu zeigen, dass man nicht gänzlich unter diese subsumierbar ist, unter Bezugnahme auf Goffman als

„phantom normalcy“. Dem stellt er den von Habermas geprägten Begriff der „phantom uniqueness“ gegenüber, wonach das Individuum auch die ihm zugetragene Einzigartigkeit nur scheinbar übernimmt, so handelt, als wäre es einzigartig und doch an Gemeinsamkeiten festhält, so handelt, als wahre es Kontinuität und doch auf neue Anforderungen eingeht.

„Phantom normalcy“ und “phantom uniqueness” entspringen nach Krappmann den struktu-rellen Notwendigkeiten des Interaktionsprozesses (vgl. Krappmann 1993, S. 74-78).

Die Wahrung von Identität ist also eine Leistung, die Anstrengung erfordert und ohne Inter-aktion nicht zu gewinnen ist (vgl. Krappmann 1993, S. 95). Sie verlangt von gesellschaftli-cher Seite flexible Normensysteme, „die Raum zu subjektiver Interpretation und individueller Ausgestaltung des Verhaltens“ lassen sowie zur Um- und Neuinterpretation von Normen-systemen. Von Seiten des Individuums setzt die Leistung eine Reihe von Fähigkeiten voraus, die Krappmann von deren Funktion in Interaktionszusammenhängen her erfasst:

Rollendistanz, Empathie, Ambiguitätstoleranz und Identitätsdarstellung.

Krappmann bezeichnet Rollendistanz unter Verweis auf Goffman als die Fähigkeit, sich gegenüber Normen reflektierend und interpretierend zu verhalten. Rollendistanz wird möglich und erforderlich, wenn andere Rollen, die man ebenfalls inne hat, bzw. die Gesamt-heit der anderen Rollen ins Spiel kommen (vgl. Krappmann 1993, S. 136/137). Dies verlangt vom Individuum, „sich über die Anforderungen von Rollen zu erheben, um auszuwählen, negieren, modifizieren und interpretieren zu können“ (Krappmann 1993, S. 133). Nur wenn das Individuum zur einer derartigen Rollendistanz fähig ist, kann es die Erwartungen der anderen aufnehmen und die eigenen Absichten darstellen, „indem es zeigt, in welcher Weise es diese Normen aufgrund seiner Biographie und seiner Beteiligung an anderen Interak-tionssystemen interpretiert“ (Krappmann 1993, S. 142).

Rollendistanz ist wiederum die Voraussetzung für Empathie, d.h. für das kognitive genauso wie affektive Vermögen, eine Situation aus verschiedenen Perspektiven betrachten zu können. Damit eine Interaktion erfolgreich verläuft, muss das Individuum nämlich auch Ein-stellungen wahrnehmen, die ihm zunächst „nicht akzeptabel“ erscheinen (vgl. Krappmann 1993, S. 142/143). Empathie ist zum einen Voraussetzung zur Formulierung einer Ich-Iden-tität, andererseits legt die Ich-Identität fest, bis zu welcher Grenze Empathie möglich ist. In diesem Zusammenhang lässt sich festhalten, dass eine Identität, die „mit klarem Blick für sehr verschiedenartige und vom Individuum – wenigstens im Augenblick – durchaus nicht nur positiv bewertete Erfahrungen, Eigenschaften und Interaktionsbeteiligungen aufgebaut wurde, den einzelnen eher befähigt, sich an die Stelle eines anderen zu versetzen, um auf diese Weise dessen Sicht auf Probleme zu erkennen“ (Krappmann 1993, S. 147).

Rollendistanz und Empathie konfrontieren eine Person mit Widersprüchlichkeiten und wirken daher durchaus belastend. Außerdem entspricht ein ausgehandelter „working consensus“

den Bedürfnissen jedes einzelnen nicht in vollem Maße, sondern lässt diese teilweise unbe-friedigt – ein Zustand, mit dem sich der einzelne abfinden muss. Das Individuum benötigt daher Ambiguitätstoleranz, d.h. die Fähigkeit grundsätzlich in jeder Interaktionsbeziehung Divergenzen und Inkompatibilitäten, genauso wie persönliche Ambivalenzen, zu ertragen (vgl. Krappmann 1993, S. 151). Eine Person kann sich dieser Anforderung entziehen, indem sie Diskrepanzen verdrängt, also eigene Bedürfnisse übergeht, zurückstellt, modifiziert und so an den Erwartungen der anderen ausrichtet. Das kann jedoch dazu führen, dass sie den eigenen Bedürfnissen dann in Bereichen nachgeben muss, wo sie sich „eigenmächtig Aus-druck verschaffen“ und nicht mehr mit denen der Interaktionspartner ausgehandelt werden können (vgl. Krappmann 1993, S. 155/156). Auch kann das Individuum die Komplexität der Erwartungen leugnen und somit an den Perspektiven der anderen nicht interessiert sein – ein fehlendes Verständnis für die Identität der Interaktionspartner, das aber zum Abbruch von sozialen Beziehungen führen kann (vgl. Krappmann 1993, S. 157). Ambiguitätstoleranz ist dagegen für Krappmann die für die Identitätsbildung „entscheidendste Variable“, denn

„das Individuum ist gezwungen, sich ständig damit auseinanderzusetzen, daß Erwartungen und Bedürfnisse sich nicht decken und daß zwischen persönlichen Erfahrungen und den für sie zur Verfügung stehenden allgemeinen Kategorien eine Lücke klafft. Die Errichtung einer individuierten Ich-Identität lebt von Kon-flikten und Ambiguitäten. Werden Handlungsalternativen, Inkonsistenzen und Inkompatibilitäten verdrängt oder geleugnet, fehlt dem Individuum die Möglich-keit, seine besondere Stellung angesichts spezifischer Konflikte darzustellen“

(Krappmann 1993, S. 167).

Schließlich hängt es von der Fähigkeit des Individuums zur Identitätsdarstellung ab, inwie-fern seine Identität gegenüber anderen sichtbar, somit in den Interaktionsprozess eingeführt und auch wirksam wird. Dabei muss eine Person auch Informationen über sich zum Aus-druck bringen, die zwar die unmittelbare Situation nicht verlangt, aber im späteren Verlauf der Interaktion noch bedeutsam werden könnten (vgl. Krappmann 1993, S. 170).

Basierend auf dem Rollenkonzept lässt sich also aufzeigen, dass jedes Individuum aufgrund vergangener Erfahrungen und seiner aktuellen Rollenkombination mit ganz eigenen Erwar-tungen und Bedürfnissen an eine Interaktionssituation herangeht. Um zu einer zufrieden stellenden Interaktion zu gelangen, müssen die verschiedenen, am Interaktionsprozess beteiligten Individuen einen „working consensus“ aushandeln, der allerdings nie die volle Durchsetzung individueller Interpretationen ermöglicht. Dieser Aushandlungsprozess wird nur durch einen Akt der Balancierung möglich, in dem sich der einzelne an Normen und Erwartungen anderer anpasst, gleichzeitig aber auch eigensinnig von diesen abstößt. Ein gelingender Interaktionsprozess erfordert vor diesem Hintergrund zum einen flexible gesell-schaftliche Normensysteme und zum anderen vom einzelnen die Fähigkeit zu Rollendistanz, Empathie, Ambiguitätstoleranz und Identitätsdarstellung.