• Keine Ergebnisse gefunden

5.3 Theoriegeleitete Interpretation und zusammenfassende Einschätzung

5.3.1 Zugang zu Beratung

Die Dimensionen der Alltäglichkeit greifen so sehr in den Bereich des Zugangs zur Beratung, dass sie hier eine tragende Rolle spielen und eingearbeitet werden sollen.

Das Aufsuchen von Beratung „ist nicht so spontan gekommen“(7), sondern bedurfte eines langen Anlaufs; Jahrzehnte des Aushaltens einer Ehe, die von Demütigungen und Gewalt gekennzeichnet war, gingen voraus. Obwohl Frau Markovic sich jahrzehntelang nichts sehnlicher wünschte als sich von ihrem Mann zu trennen, verdeckte sie nach außen den zerrütteten Zustand ihrer Ehe und ihres Familienlebens. Sie vertraute sich niemand außer ihren Kindern an, und diese wurden dadurch, auch neben den Belastungen durch die ständigen Konflikte und gewalttätigen Ausbrüche des Vaters, stark überfordert. Tragfähige Beziehungen zu anderen Menschen entstanden durch die Einschränkung der Kontakte nach außen, wie sie ihr Mann forderte, erst gar nicht. Indem sie alles mit sich selbst ausmachte oder nur vor den damals halbwüchsigen, jetzt erwachsenen Kindern über ihre Situation klagte, trug sie auch dazu bei, dass dieser unbefriedigende, z.T. unerträgliche Zustand aufrecht erhalten blieb. Man könnte sagen, Verdeckung war ihr biografischer Bewälti-gungsversuch. Durch ihre Isolation und die immer wieder genährte Hoffnung auf Besserung einerseits und ihr Mitwirken an der Verdeckung der Zustände andererseits aber konnten auch

keine neuen Impulse zu ihr vordringen. Andere Menschen, Veranstaltungen oder Informationen hätten sie u.U. persönlich so ansprechen und stärken können, dass sie eine tatsächliche Verände-rung in Betracht gezogen hätte. Ihr Alltag spielte sich aber im abgegrenzten häuslich-familiären Bereich ab, und was darüber hinausging, wurde ihr verwehrt, notfalls unter Androhung oder Ausübung von Gewalt. Die Einnahme von Lebens- Raum außerhalb dieses Bezirkes war praktisch nicht möglich, nicht nur durch den physisch anwesenden Mann, auch durch den Schatten, den er auf Frau und Kinder warf: Seine Drohungen, deren Umsetzung sie bereits erfahren hatten, bewirkten Angst und hielten alle Beteiligten so in der Defensive, dass sich keine und keiner recht getraute, offen etwas gegen ihn zu unternehmen.

Dass Angst Möglichkeiten verschleiert und ein starkes Hemmnis sein kann, Veränderung anzu-peilen oder gar voranzutreiben, wird spätestens hier deutlich. Soziale Bezüge werden davon geprägt, indem sie sich kaum entwickeln, weil sich die Akteure die Offenheit nicht zugestehen, vielmehr alle Anzeichen, die familiäre Schwierigkeiten andeuten, verdecken. Ehemaliges Selbstbewusstsein verkümmert.

Dennoch hat sich die Familie arrangiert mit zweit- oder drittbesten Lösungen. So zeigt sich ein

„bornierter Alltag“, der innerhalb eng gesteckter Grenzen auch „irgendwie“ funktioniert, das Leben aber nicht blühen lässt, wie es könnte, sondern in einem Kümmerzustand hält.

Frau Markovic erleidet massive körperliche, sexualisierte und seelische Gewalt von ihrem Mann und ist darin ohne Frage Opfer. Über die Jahre hinweg aber bildet sie auch Mechanismen aus, die sie alles ertragen lassen: Sie nährt die Hoffnung auf kommende „Rache“, weil er ihr „ganzes Leben kaputt gemacht und versaut hat“ (457). Diese will sie üben zu einer Zeit, in der die dann erwachsenen Kinder aus dem Haus sind. Diese Perspektive hat sich sicher auch in ihrem Verhalten dem Mann gegenüber niedergeschlagen und es darf vermutet werden, dass auch sie sich in irgendeiner, wenn auch subtilen und wenig erfolgreichen, vielleicht eher verbalen Art, zu wehren versucht hat.

Die Zeitläuft dahin und im Rückblick fragt sich Frau Markovic, was in all den Jahren hätte anders sein können, besser – warum sie ihre Zeit nicht genutzt hat, die Zustände zu verändern, zum Beispiel durch unterstützende Beratung. Ihr Leben lief dahin, so buchstäblich war ihre unbewusste Verortung in ihrem Lebens-lauf. Sie hat sich nie ernsthaft damit beschäftigt, Hilfe von außen zu suchen, weil ihr das in den täglichen Anforderungen gar nie in den Sinn kam und sie davon auch keine Kenntnis erlangte. „Ich wusste nicht, dass es so was auch gibt“(141). Diese Möglichkeit blieb einfach unbelichtet, und so suchte sie auch nicht dezidiert weiter. Sicher handelt es sich hier um ein verwobenes Netz von Verdeckung aus Angst vor den Konsequenzen, die ihr Mann ziehen

würde, und aus Unkenntnis, das sie nicht in Richtung Hilfe aktiv werden ließ. Außerdem waren die Kinder da, die in jeder Entwicklungsphase einen gut Teil der Zeit beanspruchten, später jedoch auch eine Puffer-Rolle einnahmen zwischen ihr und dem Ehemann, indem sie Frau Markovics Ansprechpartner für die Partnerproblematik wurden. Hilfe von außen rückte so in noch weitere Ferne, weil sie kurzfristige, dennoch nur scheinbare Entlastung boten. „Aber ich habe irgendwie, nein, habe ich keine Beratung gemacht, auch nicht gedacht. Immer habe bei meinen Kindern mich ausgeweint und das war falsch. Das sehe ich jetzt ein, dass es falsch war, weil die Kinder haben auch sehr darunter gelitten.“(146-149). Dass sie damit überfordert, ja teilweise auch missbraucht wurden, sieht sie erst heute und bedauert dies.

Es gab auch eheliche Aussprachen, Besserungsversprechen, die doch wieder im alten Trott endeten, und erneute Hoffnung.

Private Kontakte konnten keine Unterstützungsfunktion übernehmen, weil sie nicht ausreichend ausgeprägt waren. Es lässt sich schließen, dass das Zusammenspiel aus Angst, Scham, vager Hoffnung auf Veränderung, ein Sich-Abfinden mit eigentlich unerträglichen Zuständen wie Gewalt und Einengung, mangelnde Zeit und Gelegenheit für Reflexion und ebenso mangelnde Unterstützung für Veränderungen den Zugang zu Beratung erschwerten.

Erst als die Beratung z u i h r kam in Form eines Hausbesuchs der Sozialarbeiterin, erkannte Frau Markovic, dass Hilfe und schließlich Veränderung möglich sind, wenn auch Unterstützung dafür da ist. Ihr Zugang zu Beratung fand nur statt, weil sie einen Punkt erreicht hatte, an dem nicht mehr zu verschleiern war, wie schlecht es ihr ging, und weil diese Art von „stummen“

Hilfeschreien die Initiative der Beratungsinstitution „Sozialer Dienst der Krankenkassen“ auslöste.

Ihr Körper reagierte deutlich, noch bevor ihr Verstand sich eine explizite Verbalisierung der unerträglichen Zustände erlaubte, und so war sie gezwungen, sich zu äußern, im besten Sinn des Wortes also nach Hilfe von außen zu suchen. So half hier die Geh-Struktur, die niedrigschwellige Ausrichtung einer Beratungsinstanz zum erstmaligen Kontakt, der anders wohl nicht so einfach möglich gewesen wäre. Das „Sich alles von der Seele Reden“ in einem Beratungsgespräch bei sich zuhause war ein Öffentlichmachen ihrer Misere. Dies stellte den Wendepunkt hin zu einem Aufbrechen oder zumindest einem Neudenken bisheriger rigider Strukturen ihrer Lebenssituation dar.

Der Zugang zu einer stationären Kur als zweite, weitgefasste Form von Beratung, hier im stationären Setting, gelang durch die Initiative der Fachkraft vom Sozialdienst der Krankenkasse auch nur unter Schwierigkeiten. Mehrfache Ablehnungen durch die Krankenkassen und Rentenversicherungsträger wurden durch Widerspruchsschreiben und andere Anstrengungen in

einem langen Prozess überwunden. Diesen übernahm die Sozialarbeiterin, was Frau Markovic gebündelt ausdrückt: „Dann hat sie alles für mich erledigt“ (22), bis die Kur genehmigt wurde.

Frau Markovics Kraft war an diesem Punkt bereits so weit aufgebraucht, dass sie schon weit vorher aufgegeben hätte. Ganz deutlich treten hier Zusammenhänge zwischen Zugang und sozialanwaltschaftlichem Handeln zutage. Erst letzteres (ich komme darauf zurück) ermöglichte den Zugang zu einer Kur, die schließlich den Ausschlag gab für langfristige Veränderungen.

Es scheint, Beratung muss manchmal ein weiteres Stück des Weges mitgehen, als anfangs absehbar oder intendiert war, um wirklich Zugänge –schlussendlich zur Veränderung – zu ermöglichen; sozialanwaltschaftliches Handeln schafft hier einen Zugang.

Die Kur selbst erschloss wieder neue Dimensionen.

So ermöglicht ein Zugang oft den nächsten in einer Art Domino-Effekt oder Schlüsselfunktion:

Beratung öffnet Tür um Tür.

Zugang zur Beratung alltagsbegleitend wieder zuhause sollte sichergestellt werden noch während der Kur durch die dringliche Empfehlung, sich Unterstützung in Form von Psychotherapie zu suchen. Dies erwies sich aufgrund der Frage nach der passenden Art von Therapie und der langen Wartezeiten bei niedergelassenen Psychotherapeuten als nicht ganz einfach.

Hier fällt sofort die Diskrepanz zwischen Dringlichkeit und langen Wartezeiten ins Auge.

Ein Organisationsproblem der Institutionen scheint hier den Zugang zu erschweren, und das Resultat dieser Suche ist weitere Entmutigung.

Dabei tut sich auch eine inhaltliche Kluft auf: Aus klinisch orientierter Sicht mag zutreffen, dass Hilfe durch Psychotherapie ermöglicht wird, und dass zunächst Einstellungen geändert werden sollten, um aus einem Teufelskreis häuslicher Gewalt und mangelnder Abgrenzung und Durch-setzungsvermögen heraus zu treten. Frau Markovic macht subjektiv sinnvolle Unterstützung aber zunächst an dringenden lebenspraktischen Entscheidungshilfen und dann akutem Handlungsbedarf fest. Dieser beinhaltet z.B. einfach Trennung vom Mann, wenn Gewalt angedroht oder ausgeübt wird, und schließlich, ganz lapidar, das Auswechseln des Türschlosses. Diese Erfordernisse kön-nen keine langen Wartezeiten in Kauf nehmen, sondern sollten sofort besprochen und umgesetzt werden, wenn die organisatorischen und inhaltlichen Strukturen darauf zugeschnitten sind. In der hier gefundenen sozialen Beratung war dies der Fall. Die Fachkräfte konnten dort inhaltlich offen, d.h. beispielsweise nicht nur kommunikativ, sondern auch praktisch handelnd mit Frau Markovics Anliegen umgehen.

Fest zu halten ist auch, dass der Zugang erschwert wird durch den eingegrenzten Blick auf Psychotherapie. Diese ist u.U. nicht primär die angemessene Hilfe, erst vielleicht sekundär, nach Klärung akut anstehender lebenspraktischer Anliegen.

Frau Markovic gibt auch ihrer Verwirrung über die Vielfalt der Therapiemethoden Ausdruck, die in ihrem Fall ein hohes Hindernis darstellt, überhaupt zu einer Unterstützungsquelle zu gelangen.

Sie erwartet zunächst, gesagt zu bekommen, was für eine Art von Therapie sie brauche und legt so die Definitionsmacht über ihre Lebenssituation durchaus in die Hände der Experten. „weil überall hat man mich bei den Psychotherapeuten, wo ich gefragt habe, (gefragt, erg.v. I.D.), was für eine Therapie brauchen Sie und das haben sie mir aber nicht gesagt, dass es Verhaltenstherapie oder was weiß ich was für eine Therapie ist.“ (451 ff). Als sie aber merkt, dass sie an dieser Stelle erst einmal einer inhaltlich unüberschaubaren Vielfalt preisgegeben ist, fragt sie konkret nach und erhält die Antwort, dass vorrangig die Unterstützung bei ihrem Trennungsvorhaben zählt, nicht dezidiert Psychotherapie. Daraufhin entscheidet sie selbst und greift zur Adressenliste, die sie von ihrer Krankenkasse erhalten hat.

Dass sie schließlich soziale Beratung mit einer handlungsorientierten Ausrichtung findet, scheint eher Glücksache gewesen zu sein. Zunächst haben ihr die Vielfalt und die Verwirrung der Begriffe bezüglich Therapie und Beratung einen Einstieg erschwert, bzw. leisteten eher einer Fehlverweis-ung Vorschub.