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Eckpunkte einer lebensweltorientierten und prozessbewussten Beratung

Zunächst zum ersten theoretischen Konzept, der Lebensweltorientierung:

Es kann zusammenfassend festgehalten werden, dass eine Alltags- und Lebensweltorientierung in der Beratung zwei notwendige Gegenpole vereinen muss:

Einerseits erfordert das Aufsuchen professioneller Beratung per definitionem ein Heraustreten aus dem Alltag, aus „borniert“ gelebter Routine des täglichen Lebens, oft gar ein Verlassen des angestammten Lebensfeldes, um beispielsweise eine Beratungsstelle aufzusuchen. Andererseits muss aber Beratung auf der konzeptionellen Grundlage der Lebensweltorientierung erstens hineinreichen in den Alltag Betroffener und diesen zu würdigen und verstehen suchen, zweitens dort agieren, diesen Alltag reflektieren, damit also, drittens, bei Bedarf auch transzendieren, um zu neuen Wegen, zu besseren Lösungen zu kommen. Dies stellt die Beratungsfachkraft und evtl. ihre Institution vor hohe Anforderungen, wenn nicht gar vor ein schwer einlösbares Paradox. Dieses Nebeneinander von Gegensätzen will ausgehalten und – durchaus sequentiell unterschiedlich betont, gelebt, ausgefüllt, ausgehandelt werden. Es fordert, so Thiersch (vgl. 1991) ein z. T.

eklektisches, immer jedoch hoch professionelles Vorgehen, dem auch eine entsprechende zentrale Stellung und Wertschätzung im institutionellen Kontext zukommen sollte. Wie sich dies in der Praxis nach Adressatenberichten zeigt, bewährt oder auch negiert, kann hoffentlich die Empirie zeigen.

Zum zweiten Teil der theoretischen Unterlegfolie, dem Prozessaspekt in der Beratung (Fragen an die Empirie):

Hier ist für die inhaltlichen Merkmale des Beratungsprozesses festzuhalten, dass sie dem Leben als Prozess folgen und hier besonders den Lebenslauf und die Biografie tangieren.

Nun sollen Beratungsprozesse die Lebensbewältigung in den jeweils subjektiv als schwierig oder hilflos erlebten Teilen der Biografie unterstützen, also emotionale und soziale (möglichst auch physische) Integrität wieder herzustellen versuchen. Unsere Frage wird also sein, wie dies in der und durch die Beratungssituation geschehen kann, im Hinblick auf Lebenslauftypisches ? Eine andere Frage ist: Wenn diese Bewältigungserfordernisse, diese kritischen Übergangs- und Anpassungssituationen lebenslauftypisch sind, gibt es dann auch mit nicht zufrieden stellender

Beratung, oder ohne der Beratung Erfolge zuzuschreiben, Bewältigungserfolge – eben weil die Schwierigkeiten gleichsam zum Leben dazugehören und sie etwa personeigene Ressourcen aktivieren könnten?

Für die strukturelle, oder anders: methodisch strukturierende Seite des Beratungsprozesses können die genannten Phasenmodelle uns zeigen, wie Beratung idealerweise ihren nachvollziehbaren und logischen Ablauf erhält. Sie zeigen aber auch, wie notwendige Vorläufe oder dann Interventionen u.U. völlig unpassend, verfrüht oder verspätet, gestaltet werden können und schärfen das Auge für sinnvolle Abläufe, die dann in der Empirie erkannt, bestätigt oder falsifiziert werden können.

Zudem können sie auf evtl. Schwierigkeiten aufmerksam machen, die aus der Nichtbeachtung resultieren, bzw. die Möglichkeit geben, Gründe für gelungene Beratung mittels der Analyse dieser Prozessgesetzmässigkeiten zu eruieren.

Um also für eine inhaltliche, eine „empirische Füllung“ der heran gezogenen theoretischen Konzepte eine Grundlage zu haben, können hier zusammenfassend Eckpunkte einer lebenswelt-orientierten und inhaltlich wie strukturell prozessbewussten Beratung extrahiert werden, die mir als Leitlinie für meine Untersuchung von Klientenerfahrungen mit Beratung dienen sollen. Ihr Umfang ergibt sich aus den mannigfaltigen Anforderungen an eine lebensweltorientierte Beratung; sie soll zunächst so stehen bleiben und nicht vorschnell zusammengefasst werden, weil dadurch u.U. wichtige Aspekte verblassen würden.

Aus diesen Theoriegrundlagen haben sich nun auch organisch und parallel Fragen an die Empirie ergeben,die im Teil 4.2. Eingang finden in den Interviewleitfaden.

Eckpunkte einer lebensweltorientierten und prozessbewussten Beratung

1. Die handlungspraktischen Prämissen oder Grundlagen für eine lebensweltorientierte Beratung umfassen zunächst folgende Positionen: Unter dem Blickwinkel der Dimensionen der Alltäglichkeit sollen erfahrene Zeit, angeeigneter Raum, soziale Bezüge der KlientInnen rekonstruiert und als Ressourcenräuber wie als Ressourcenquelle gewürdigt werden. Weiterhin ist eine Grundvoraussetzung jeglicher Beratung der Respekt vor dem Klient als Subjekt und vor dessen subjektiven Sichtweisen und selbstverständlich die Freiwilligkeit, weil sinnvolle Beratung nicht unter Zwang geschehen kann. Auf persönlicher Ebene ist Zugänglichkeit die Maxime, die mit der Ermöglichung von Kontakt im räumlichen wie im sozialen Sinn, und von Vertrauen zu professionellen BeraterInnen zu tun hat. Auf eher organisatorischer oder

„logistischer“ Ebene ist es Erreichbarkeit, die für alle Bevölkerungsgruppen, auch finanziell Benachteiligte, den Zugang zu Beratung ermöglichen soll. Dazu zählt auch eine Komm- u n d

eine Gehstruktur einer Beratungsinstitution, wo sie sinnvoll erscheint. Weiterhin ist die Neutralität der Beratungsstelle und –fachkraft als eigener Wert zu verstehen, der als „dritter Ort“ durchaus auch etwas abgehoben vom Alltag diesem neue Impulse geben oder verkrustete Strukturen zum Gelingenderen hin aufbrechen kann.

2. Grundlagen der Haltung der Fachkräfte bezüglich inhaltlichen Vorgehensweisen formuliere ich als methodische und inhaltliche Offenheit, die nicht nur kommunikative, sondern auch handlungsorientierte Spielarten der Beratung miteinbezieht. Außerdem soll diese von Reflexivität begleitet sein, die bestimmte sich widerstreitende Charakteristika der Beratung mit-bedenkt, wie z.B. Methodik versus Lebenswirklichkeit der KlientInnen, Hilfe versus Kontrolle, Macht versus Ohnmacht, und dabei das Machtgefälle, das sich in der häufig per se assymetrischen Beratungsbeziehung zwischen Fachkraft und KlientIn auswirken kann.

Hierunter fällt auch die Bescheidung auf das tatsächlich Mögliche neben dem u.U.

unmöglichen Gewünschten des Klienten oder dem als machbar Forcierten der Fachkraft. Dies steht manchmal gewissen Omnipotenz- oder Machbarkeitsvorstellungen der Fachkräfte entgegen, von denen vielleicht „nur“ das Mit-Aushalten, Begleiten, ohne viel ändern zu können und immer wieder neue Bestärkung der KlientIn gefordert ist. Es versteht sich fast von selbst, dass dazu soziale Geschicklichkeit und Takt und eine Offenheit für Diskon-tinuitäten vonnöten ist, die den KlientInnen in ihren Lebenswelten auch zugesteht, dass Pünktlichkeit, Ordnung und allgemein als üblich erachtete Sauberkeit etc. nicht immer möglich sind.

3. Grundlegende inhaltliche Arbeitsansätze der Fachkräfte sind der dritte Punkt, der bei-spielsweise stark auf eine Ressourcensensibilität gegenüber Person und Lebenswelt der KlientInnen abhebt. Dazu zählt auch ein Fokus auf Umsetzbarkeit der Beratungsinhalte im Alltag bzw. in der Lebenswelt und Auswirkung auf den Alltag (u.U. nicht nur im Gespräch, im Kopf). Dazu muss sich die Partizipation gesellen, die den Beratungssuchenden selbstverständlich ein Mitspracherecht einräumt, und sich z.B. als Aushandlung auf Form- und Inhaltsebene versteht, sich aber auch in der Zielrichtung der Beratung als Ermöglichung der Teilhabe an der Gemeinschaft bzw. an gesellschaftlichen Gütern zeigt.

4. Der vierte Punkt ist Beratung als Agieren im Hilfenetz: Ihr vorangestellt ist als Maxime die Wahrung der Komplexität der Anliegen, entgegen einer kontraproduktiven Fragmentierung.

Beratung soll „aus einer Hand“ gewährleistet sein. Gleichzeitig muss das umgebende soziale,

materielle, rechtliche etc. Hilfenetz in Form von Kooperationmit und sinnvoller Überleitung zu anderen, zuständigen oder erreichbaren Institutionen und Personen im Sinne einer Vernetzung z.B. im Gemeinwesen gegeben sein.

5. Der Beratungsprozess muss sich dem Lebensprozess auf inhaltlicher Ebene anpassen und kann durch die lebenslaufbewusste, prozesshafte Betrachtung wesentlich vertieft werden. Ziel ist hier die biografische Lebensbewältigung (komplementär dazu wird die Alltagsbewältigung gestellt), und die Frage ist, wie Beratung möglichst in biografischer Angemessenheit dazu beiträgt.

Beratungsprozesse sollten auf methodisch - struktureller Ebene sinnvollen Ablaufstrukturen folgen, die gewährleisten, dass die Anliegen der KlientInnen umfassend, lebensweltorientiert, lebenslaufangemessen, biografisch unterstützend und effektiv, d.h. erfolgreich behandelt werden können.

6. In einem grundsätzlicheren Sinne muss die Diskussion lebensweltorientierter Beratung erweitert werden um eine Sensibilität für die Kategorie Geschlecht. Dieser Aufgabe widme ich mich in einem eigenen Abschnitt, siehe Kapitel 3.

Hier schließt sich der Kreis: Lebensweltorientierung, biografische Lebensbewältigung und Prozessmodelle ergänzen sich gegenseitig in diesem „sensibilisierenden Konzept“.

Die genannten Eckpunkte fungieren also als Folie, auf der ich sinnvolle Fragen stellen kann, und durch die ich subjektive Dimensionen von Beratungserfahrungen in den Befragten generieren kann. Ich gehe auch davon aus, dass diese leitenden Eckpunkte (man könnte auch ansatzweise von Hypothesen sprechen) nach der Zusammenschau aller Interviews aus der Empirie eine Erweiterung, auch Kritik oder Bejahung erfahren, und sich zu einem ganz eigenen Kategoriensystem der Beratungserfahrung zusammenfassen und systematisieren lassen. Aus dem empirischen Material selbst wird sich dann eine eigene Ordnung gemäß den Relevanzsetzungen der einzelnen Interviewpartner ergeben müssen. Dann will ich auch ein besonderes Augenmerk auf den Ablauf des (oft langjährigen) Beratungsprozesses legen, der aus dem empirischen Material sichtbar wird. Hier wird die Frage relevant, wie sich Prozesse gestalten, wie Beratungsgeschichten entstehen und was sie bewirken.

Dieser gesamte „Katalog“ der Anforderungen an die Empirie lasse ich hier aber zunächst einmal ungekürzt und nochunbearbeitet stehen, weil ein weiterer Punkt bedacht werden muss.

Ein Desiderat der Forschung besteht in der Sensibilität für die Kategorie Geschlecht. Deshalb soll hier noch vor der Beschreibung des Forschungsprozesses eine skizzenhafte theoretische Grundlage gelegt werden, damit die Frage nach der Wahrnehmung von Beratung unter allen genannten Eckpunkten mit der Kategorie Geschlecht in Beziehung gesetzt werden kann. Ein Grund hierfür ist die enge Verwobenheit von Beratungsform, -inhalt, und -beziehung zur Kategorie Geschlecht, z.B. im Thema Macht und Machtgefälle in der per se assymetrischen Beratungsbeziehung, die in der Beziehungsdiskussion womöglich einen wichtigen Platz einneh-men. Ein anderes Beispiel wäre die mögliche Selektion von vorgebrachten Beratungsinhalten bzw.

Anliegen in Abhängigkeit zum Geschlecht der Beratungsfachkraft, wie beispielsweise etwa Scham oder Angst und daraus resultierendes Verschweigen von durch einen Mann zugefügte Missbrauchserfahrungen einer Klientin gegenüber einem männlichen Berater.

Der sog. zweiten Frauenbewegung kommt das Verdienst zu, hierzu geforscht und aufgedeckt zu haben, was heute für die aktuelle Diskussion von Beratung unverzichtbar und als Theoriebestand anerkannt ist. Im folgenden Abschnitt wird also den als wichtig heraus gearbeiteten Aspekten nochmals aus dem Blickwinkel der Geschlechtersensibilität Aufmerksamkeit gewidmet.

3 Exkurs: Beratung und Geschlecht

Im Rahmen der Geschlechterforschung wird seit einigen Jahrzehnten, und verstärkt in den letzten Jahren, die Einbeziehung der Kategorie Geschlecht in jegliche Art der Forschung gefordert.

Bezogen auf meine theoretische Grundlage der Lebensweltorientierung erscheint mir die Kate-gorie Geschlecht per se schon immer implizit mitgedacht, tatsächlich wird sie aber kaum realiter

„ausbuchstabiert“, explizit gemacht.

Diese Anmerkungen sollen deshalb den Auftakt bilden zu einer angesichts des Rahmens dieser Arbeit kurz gefassten Diskussion zum Thema Geschlecht in der Beratung. Wie kann dieses einfließen in das Forschungsdesign, in die Fragestellung und in die Interpretation der Erfahrungen von Menschen mit Beratung ?