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Eine andere Welt ist nötig

Im Dokument Rosa-Luxemburg-Stiftung Texte 15 (Seite 191-196)

Die internationalen Medien ignorierten das große Ereignis, das in Porto Alegre im Januar 2003 stattfand, als Tausende von Frauen und Männern durch die Straßen marschierten und riefen: »Eine andere Welt ist möglich!« Mehr als 100 000 Menschen kamen 2003 nach Porto Alegre, um zu sagen, warum eine andere Welt nicht nur möglich, sondern nötigist. Ich lebe in Ägypten, und ich bin nach Afrika, Asien, Europa, in die zwei Amerikas und nach Aus-tralien gereist, und überall habe ich gesehen, wie Menschen Hungers sterben, in Kriegen, auf dem so genannten »freien Markt« und unter der so genannten

»Demokratie«. Die Medien beschäftigten sich mit den wenigen, die den Reich-tum der Welt dominieren, die sich zur gleichen Zeit in Davos beim Welt-wirtschaftsforum trafen. Das ist kein Weltforum. Es ist ein Forum für die we-nigen Individuen, die multinationale Konzerne und den »freien Markt« besit-zen.

In der kapitalistischen Demokratie bedeutet »Freiheit« die Freiheit zu mor-den, Krieg zu erklären, das Öl, das Land und die natürlichen Ressourcen der anderen auszubeuten. Es ist die Freiheit, andere Länder mit militärischer Ge-walt zu besetzen. Es ist die israelische Besetzung Palästinas, die amerikanische und britische Besetzung des Iraks und Kuwaits. Dies sind nur einige Beispie-le für das, was in unserer post-modernen Ära passiert. In Davos schützte die Schweizer Polizei eine kleine Minderheit der reichen Machthaber der Welt. Sie konnten sich nicht ohne Polizei und militärischen Schutz bewegen. Jedoch sind sie nun von Milliarden von Menschen in der Welt entlarvt worden. Die

Leute wurden sich bewusst, dass sie angelogen wurden, obwohl dies unter schönen Worten wie Demokratie, freier Markt, Menschenrechte, Entwicklung usw. versteckt wurde.

Lula, Brasiliens Nasser?

Während dessen wurde auf Porto Alegres größtem Platz das dritte WSF durch

»Lula« – wie sie Brasiliens gewählten Präsidenten Luis Inácio Lula da Silva nennen – eröffnet. In seiner Rede, die an über 60 000 Frauen und Männer gerichtet war, begann er: »Ich fliege heute Abend nach Davos, um ihnen von euren Zielen zu erzählen, um ihnen eure Botschaft zu überbringen.« Aber die Menge war nicht überzeugt. Jemand rief: »Warum reist du so weit, Lula?

Sende ihnen eine E-Mail!«, und die Menge toste vor Lachen. Viele Leute in Brasilien halten Lula für einen liberalen Kapitalisten, trotz der zwanzig Jahre, die er die Arbeiterpartei geführt hat. Die Macht verdirbt revolutionäre Män-ner und Frauen, und Lula ist wahrscheinlich keine Ausnahme. Eine brasilia-nische Frau erzählte mir, seine Wirtschaftspolitik käme der »nationalistischen Bourgeoisie« zugute. Dies erinnerte mich an Gamal Abdel Nassers Wirt-schaftspolitik während der 60er Jahre. Die ägyptischen Kapitalisten korrum-pierten den öffentlichen Sektor, und dies führte zu Sturz und Niederlage Nassers und schließlich zu seinem Tod am 28. September 1970.

Manche Frauen und Männer in Porto Alegre glauben, dass Lula Brasiliens Nasser ist. Aber andere sind anderer Meinung. Sie betrachten ihn immer noch als den Helden der linken Gruppen, die gegen Globalisierung und Imperialis-mus kämpfen. Brasiliens neue Linke ist radikaler, jünger. Sie beschreibt die alte Linke, die das WSF dominiert, als dogmatisch, rigide, undemokratisch, mit den New Liberalsverknüpft, die dafür verantwortlich sind, dass das Forum von ge-wöhnlichen Frauen und Männern, vom täglichen Kampf der Leute isoliert ist.

Im Januar 2005 wird das fünfte WSF wieder in Porto Alegre abgehalten werden, im darauf folgenden Jahr in Afrika. Weder Brasilien noch Indien noch irgendein anderes Land sollte die Erlaubnis haben, das WSF zu dominieren. Es gehört der Welt und nicht einem Land. Seit es im Jahre 2001 gestartet wurde, ist es fast immer in Porto Alegre abgehalten worden. Warum dieses Monopol?

Die TeilnehmerInnen aus den arabischen Ländern werden vielleicht eines Ta-ges ein Weltsozialforum in Palästina, Kairo der sogar Bagdad haben. Zur Zeit scheint dies nur ein Traum zu sein. Aber warum sollten wir keine großen Träu-me haben? In Porto Alegre träumt jede(r) von einer anderen Welt auf der Grundlage von Gerechtigkeit und Freiheit, in der Frauen und Männer gleich sein werden, in der es keinen Krieg und keine Armut geben wird und keine Verschmutzung der Umwelt durch Kapitalisten.

Die Musik der Wörter

Ich gehe am Jacui Fluss unter der Sonne von Porto Alegre spazieren. Der Duft

der Luft erinnert mich an mein Dorf im Nildelta – die Wasser des Flusses se-hen gleich aus, und die Sonnenstrahlen sind fast die gleicse-hen Sonnenstrahlen.

Die Gesichter um mich herum sind braun, sonnenverbrannt, wie die Gesich-ter daheim in Kairo. Ich fühle mich wie zu Hause. Ich kann kein Portugiesisch, aber ich verstehe die Musik der Wörter und den Wirbel der Trommeln.

Meine Rede fand in einer Halle mit 5 000 Sitzplätzen statt. Während sie mir standing ovations gaben, bahnte sich ein alter deutscher Herr mit eng aneinan-der liegenden Augen und einer großen Nase den Weg durch die Menge und rief ärgerlich: »Es gibt keine Brücke zwischen der Ersten und der Dritten Welt – Sie gewöhnen sich besser daran!« Ich lachte. Viele ZuhörerInnen lachten auch. Eine junge pakistanische Frau mit einem Schleier war auch zornig: »Ich habe mich dafür entschieden, diesen Schleier zu tragen – es ist meine persönli-che Freiheit!«, rief sie. Eine amerikanispersönli-che Frau mit Make-up auf ihrem Ge-sicht rief: »Ich habe mich entschieden, Make-up zu tragen. Was habt Ihr gegen Make-up? Wie könnt Ihr es einen postmodernen Schleier nennen? Es ist eine freie Entscheidung! Ich denke, ich bin frei zu tun, was immer ich will.« Ich lächelte: »Ja, Sie sind so frei wie der freie Markt, wie George W. Bush, wie Ari-el Sharon, wie Adolf Hitler, Sie sind frei!«

Eine Alternative schaffen

Für mich riss dieses dritte Weltsozialforum dem die Welt dominierenden Neo-liberalismus den Schleier ab. NAFTA und die Europäische Union sind nicht demokratisch. Sie sind Schlüsselfiguren in der korporativen Globalisierung.

Die Kampagne für ein Referendum zur Europäischen Verfassung1ist ins Leben gerufen worden, um reale Demokratie zu bauen und die volle Teilhabe von Frauen und jungen Menschen in der EU zu garantieren. Denn es sind immer noch die alten Männer, die die Politik der Welt dominieren – sei es nun links oder rechts, im Westen oder Osten, im Norden oder Süden. Auf dem ganzen Globus ist die kapitalistische Globalisierung immer noch auf ihrem Triumph-zug. Die Schatten des Imperialismus und des Neokolonialismus sind stark, be-sonders in unserer Region, dem so genannten Nahen Osten (wem eigentlich nah, nebenbei gefragt?). Die Führer der so genannten »freien Welt«, die sich in Davos treffen, bewegen sich stetig nach rechts und verbergen ihre Wirt-schaftsinteressen hinter einem religiösen Schleier, sei er christlich oder jüdisch, und benutzen den islamischen Fundamentalismus oder post-modernen Terro-rismus, um ihre Herrschaft zu verstärken und auszudehnen. Der so genannte

»Krieg gegen den Terrorismus« hat Afghanistan, Palästina, Irak verwüstet, und es werden Pläne entwickelt, den Iran, Libyen, Jemen, Syrien, Ägypten, den Sudan, Korea und andere Länder zu zerstören.

1 http://www.european-referendum.org.

Das WSF ist nicht nur ein jährliches Ereignis in Porto Alegre. Es ist zu einer globalen Bewegung geworden, einem andauernden Prozess, einen offenen Raum für freien und gleichberechtigten Austausch von Gedanken und Aktio-nen zu schaffen. Was die Zahlen angeht, ist es von 25 000 Leuten beim ersten Treffen 2001 auf über 80 000 im Jahre 2004 gewachsen. Aber es sind nicht nur die Zahlen, die zählen. Das Forum hat eine Alternative zur kapitalistischen Globalisierung geschaffen. Es hat eine neue Hoffnung geschaffen, eine neue Macht, die eine profunde Rolle in der Befreiung der Leute in der ganzen Welt von den Ketten der Verzweiflung und des falschen Bewusstseins, das von den globalen Medien propagiert wird, spielt. Aber es wird noch viel mehr Nach-denken gebraucht, um die Kluft zwischen politischer Aktivität und sozialer Aktivität, zwischen Frauengruppen und sozialistischen Gruppen zu schließen.

Schaut auf die Frauen, schaut in die Zukunft

Die Linke, die sozialistische Bewegung – einschließlich der marxistischen – hat eine ganze Menge von den Frauenbewegungen in unseren Ländern und in der ganzen Welt gelernt. Sie neigt jetzt dazu, soziale Aktivitäten mit politischen, wirtschaftlichen, religiösen, historischen und anderen zu verbinden. Der Input der Frauen in das Denken und in die Philosophie ist und bleibt weiterhin be-deutend und sollte nicht vernachlässigt werden.

In Ägypten – wie auch in anderen Ländern auf der Welt – neigt der traditio-nelle linke Flügel einschließlich der neuen Art von Antiglobalisierungsgruppen dazu, Frauen auszuschließen, obwohl er etwas von ihnen gelernt hat. Traditio-nelle linke Gruppen sollten ihre alten Angewohnheiten verändern. Die meisten Menschen in Porto Alegre waren Frauen und junge Leute. Aber alte professio-nelle politische Gruppen waren auch da, und sie neigten dazu, in alte Muster zurückzufallen, um Frauen und junge Leute zu dominieren oder auszuschließen.

Nun müssen wir dagegen kämpfen, dass das WSF von gewissen linken Gruppen aus Frankreich, Europa, den USA oder anderswo »gekidnappt«

wird. Die linken Gruppen in Europa sind stärker als die in Afrika, und sie ver-suchen zu dominieren. Ein französischer Mann, ein Führer einer Gruppe na-mens ATTAC aus Paris, hat versucht, einige der Gruppen aus Afrika zu domi-nieren. Ein amerikanischer Mann in einer Gruppe namens Habitat versuchte das Gleiche mit einigen Gruppen aus den arabischen Ländern.

Ein Rat an die westliche Linke

Revolutionäre Gruppen in Europa und in den USA sollten wissen, dass wir, die Frauen (und Männer) aus der so genannten »Dritten Welt« nicht rückstän-dig sind und ihrer Führerschaft nicht bedürfen. Wir brauchen keine Führer aus dem Ausland, um uns den Weg zu zeigen. Wir schätzen die Fähigkeiten die-ser revolutionären Gruppen, ihre Nationalität, Religion, ihr Geschlecht, ihre Hautfarbe, ihre Klasse, ihren Glauben, ihre Sprache und die anderen aus der

Sklaverei überkommenen Trennungen. Wir schätzen ihre sozialistischen Nei-gungen im Kampf gegen die kapitalistische Globalisierung. Aber sie müssen ihre verbleibenden Vorurteile überwinden. Wir lehnen es ab, uns unter dem Vorwand, dass sie uns von lokalen und globalen Unterdrückern befreien wol-len, von ihnen dominieren zu lassen und uns ihnen unterwerfen zu müssen.

Wir können unser eigenen Kämpfe kämpfen, so wie sie die ihren gekämpft haben. Wir wollen kooperieren, aber auf gleicher Basis. Wir wollen einen gleichberechtigten Austausch von Ideen und Erfahrungen.

Sie müssen von dem Konzept der »Hilfeleistung« zu dem des gleichbe-rechtigten Austauschs übergehen. Sie müssen aufhören, sich so zwanghaft auf die kapitalistische Wirtschaftsglobalisierung zu fokussieren und auch andere Typen der Globalisierung und Ausbeutung im täglichen Leben von Frauen und Männern in ihr Gesichtsfeld holen. Diese Tausenden anderen Formen von Globalisierung haben im öffentlichen und privaten Leben von Frauen, Flücht-lingen, ImmigrantInnen und ArbeiterInnen unter dem Deckmantel der »Wie-dergeburt« von Religion oder Spiritualität oder sogar sozialistischen Ideologi-en großes Chaos angerichtet. Wir müssIdeologi-en das post-modernistische Spiel von neuen politischen Gruppen entlarven und die neue Sprache der progressiven Gruppen demystifizieren, die füruns arbeiten und nicht mituns.

»Glokale« Aktion

Wir müssen aufhören, das Forum in Porto Alegre als das einzige Weltsozial-forum zu sehen und die lokalen und thematischen Foren nur als marginal zu betrachten. Selbstkritische Reflektion ist ein wesentlicher Teil des WSF. Ohne sie kann es nicht wachsen, keine neuen Ideen und neue Aktionen global und lokal schaffen. Ich mag das neue Wort »glokal«, da das Lokale und das Glo-bale unzertrennlich sind.

In Porto Alegre traf ich einige TeilnehmerInnen aus Ägypten und anderen arabischen Ländern. Die meisten kamen aus Europa und den USA. Jedoch do-minierte die palästinensische Fahne die Demonstrationen, und die Demon-strantInnen gegen den Irakkrieg waren sichtbar, während alle anderen Fahnen im Rot der durch die brasilianischen Bauern und Arbeiter getragenen Fahnen untergingen. Das Forum in seiner Gesamtheit verurteilte den amerikanischen Unilateralismus, Militarismus und das Fehlen globaler Verantwortlichkeit trotz seiner Ansprüche als globale Supermacht. Macht ohne Verantwortung ist eine politische Krankheit, die von dem patriarchalen Klassensystem ererbt wurde, das mit der Sklaverei geboren wurde. Es ist einer der Zwiespalte, die uns durch Religion und Philosophie aufgezwungen werden. Wir müssen der Idee von einer angeblich unumkehrbaren Spaltung zwischen einer guten, gött-lichen Macht und des Teufels Verantwortung für alles Böse Widerstand leisten.

Wir müssen die Sprache von George W. Bush, Vater, Sohn und Heiliger Geist, zusammen mit seiner Achse des Bösen demaskieren und bloßstellen.

NIKHIL ANAND1

Im Dokument Rosa-Luxemburg-Stiftung Texte 15 (Seite 191-196)