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Eine Neuauflage der 30er Jahre?

Im Dokument Rosa-Luxemburg-Stiftung Texte 15 (Seite 44-49)

Dieses Treffen des Internationalen Rats des WSF im August 2002 in Bangkok findet vor dem Hintergrund einer der schlimmsten Krisen des Kapitalismus seit der Weltwirtschaftskrise vor siebzig Jahren statt. Wie wir unsere Richtung für die Zukunft bestimmen, wird im großen Maße davon abhängen, wie wir die Natur und die Dynamik dieser Krise verstehen.

Zwei methodologische Prinzipien leiten diese Diskussion. Das erste, nie-mals die Hartnäckigkeit des Kapitalismus unterschätzen. Zweitens, nienie-mals

seine Krisenanfälligkeit unterschätzen. Lassen Sie mich in diesem Sinne wagen zu sagen, dass wir in eine Krise eintreten, die eine Kreuzung von vier verschiedenen Krisen darstellt: einer Legitimitätskrise, einer Überproduk-tionskrise, einer Krise der liberalen Demokratie und einer Krise der Überdeh-nung.

Legitimitätskrise

Die Legitimitätskrise bezeichnet die wachsende Unfähigkeit der den globalen Kapitalismus stützenden neoliberalen Ideologie, Menschen von der Notwen-digkeit und Lebensfähigkeit dieses Kapitalismus als Produktions-, Austausch-und Verteilungssystem zu überzeugen. Das Desaster, das die strukturelle Anpassung Afrikas und Lateinamerikas hervorgebracht hat; die Kettenreak-tion von Finanzkrisen in Mexiko, Asien, Brasilien und Russland; der Zusam-menbruch des von der freien Marktwirtschaft geprägten Argentinien; und die Kombination von massivem Betrug und spektakulärer Vernichtung von 7 Billionen US-Dollar an Investitionsmitteln – einer Summe, die fast dem jährlichen Bruttoinlandsprodukt der USA entspricht – : all dies hat der Glaub-würdigkeit des Kapitalismus einen schweren Schlag versetzt.

Die Institutionen, die der globalen wirtschaftlichen Verwaltung des globa-len Kapitalismus dienen – IWF, Weltbank und WTO – sind am negativsten von dieser Legitimitätskrise betroffen und stehen daher als schwächstes Glied in der Kette da.

Ein sicheres Zeichen der Legitimitätskrise ist, dass einige der besten Ideo-logen des Systems in den letzten Jahren für diese Art von Ideologie verloren gegangen sind: Jeffrey Sachs, Erfinder der »Schocktherapie« für Osteuropa in den frühen 90er Jahren, der nun die Entwicklungsländer aufruft, ihre Schul-den nicht zu bezahlen; Joseph Stiglitz, ehemaliger Chefökonom der Weltbank, nun einer der schärfsten Kritiker des IMF; Jagdish Bhagwati, der den Begriff

»Wall Street-Finanzministeriums-Komplex« kreierte, um die Interessen zu beschreiben, die den unendlichen Strom der globalen Finanzkrisen seit den 90er Jahren hervorbrachten; und György Soros, Kapitalist par excellence,der nun als Feind des »Marktfundamentalismus« wiedererstanden ist.

Überproduktionskrise

Die Krise der Überproduktion und der Überkapazität könnte mehr als eine gewöhnliche Rezession ankündigen. Seit 1997 stagnieren die Profite im Indu-striesektor der USA – ein Umstand, der durch die massive Überkapazität verursacht wurde, die während der Jahre des Booms der USA in den 90er Jahren im gesamten internationalen Wirtschaftssystem aufgebaut worden war.

Die Tiefe des Problems wird durch die Tatsache veranschaulicht, dass augen-blicklich nur 2,5 % der globalen Infrastruktur in der Telekommunikation ge-nutzt werden.

Die Überkapazität hat zur Folge, dass Investitionen von der realen Wirt-schaft zur spekulativen WirtWirt-schaft abgewandert sind – eine Entwicklung, die zum Entstehen der Aktienmarktblase insbesondere im Technologiesektor ge-führt hat. Die enorme Überschusskapazität hält als globaler Zustand an – und daher auch die andauernde Abwesenheit von Profitabilität.

Daher vertieft sich die globale Rezession. Aber gerade weil bedeutende Ungleichgewichte sich für so lange Zeit in der globalen Wirtschaft aufgebaut haben, wird diese Rezession wahrscheinlich lange dauern; sie wird in den Hauptzentren des Kapitalismus synchron ablaufen; und es besteht eine große Gefahr, dass sie sich in etwas Schlimmeres verwandeln könnte: in so etwas wie eine globale Depression.

Krise der liberalen Demokratie

Die liberale Demokratie ist die typische Form des Regierens in kapitalistischen Wirtschaftsregimen. In Ländern wie den Philippinen und Pakistan wächst bei den unteren Klassen und selbst in der Mittelklasse die Enttäuschung über die aus der Geldpolitik gespeisten Elitedemokratien zusehends. In Pakistan war dies einer der Faktoren, die es General Musharraf erlaubten, die politische Macht zu übernehmen.

Es ist unübersehbar: Von Afrika bis Lateinamerika ist das Phänomen der Ausbreitung des Washington- oder Westminster-Typs der formalen Demokra-tie, das der amerikanische Politwissenschaftler Samuel Huntington »die drit-te Welle der Demokratisierung« nanndrit-te, vorbei. Aber die Legitimitätskrise ist nicht auf den Süden beschränkt.

In der öffentlichen Meinung der Vereinigten Staaten gewinnt die Ansicht an Gewicht, dass man wegen des massiven Einflusses der Konzerne auf die bei-den politischen Parteien das Regierungssystem der Vereinigten Staaten nur noch als Plutokratie bezeichnen kann – und nicht mehr als Demokratie. Mas-senunzufriedenheit und Zynismus sind dadurch verstärkt worden, dass ein großer Teil der Wählerschaft das Gefühl hat, dass Präsident George W. Bush die Wahlen 2002 gestohlen hat – und auch durch die kürzlich bekannt gewor-denen Enthüllungen über seine fragwürdige Moral als Geschäftsmann, hauptsächlich als Präsident der Wall Street zu fungieren und nicht als Präsi-dent des Landes.

Obwohl Washington augenblicklich Anstalten macht, den Wirtschafts-schwindel bestrafen zu wollen, werden die spektakulären Entwicklungen an der Wall Street als moralischer Kollaps betrachtet, in den sowohl die wirt-schaftlichen als auch die politischen Eliten einbezogen sind. Auch in Europa zeigt man sich besorgt über die Kontrolle der politischen Finanzen durch die Wirtschaft, aber noch bedrohlicher ist die verbreitete Ansicht, dass die Macht der gewählten nationalen Parlamente durch nicht gewählte, nicht rechen-schaftspflichtige Eurokörperschaften wie die Europäische Kommission

usur-piert wird. Wahlrevolten, wie sie in der Unterstützung von Leuten wie Le Pen in Frankreich und Pim Fortuyn in den Niederlanden zum Ausdruck kommen, sind Zeichen einer tiefen Entfremdung der Menschen von der technokrati-schen Demokratie.

Krise der Überdehnung

Die vierte Krise ist vielleicht nicht sofort erkennbar, aber dennoch wirksam.

Die kürzliche Expansion des US-Militäreinflusses nach Afghanistan, den Phi-lippinen, Zentralasien und Südasien könnte ein Ausweis der Stärke sein. Aber trotz all dieser Aktionen sind die USA nirgendwo in der Lage gewesen, ihren Sieg zu stabilisieren – ganz gewiss auch nicht in Afghanistan, wo die Anarchie regiert und nicht ein stabiles Pro-USA-Regime.

Es lässt sich daraus sehr wohl der Schluss ziehen, dass aufgrund der mas-siven Verärgerung, die sie in der ganzen moslemischen Welt geschaffen haben, die politisch-militärischen Aktionen der Amerikaner, einschließlich ihrer Pro-Israel-Politik, die strategische Situation der USA im Mittleren Osten, Südasien und Südostasien verschlechtert statt verbessert haben. Während Washington vom Terrorismus im Mittleren Osten besessen ist, erschüttern gleichzeitig po-litische Rebellionen gegen den Neoliberalismus seinen Hinterhof.

Das Wachstum der anti-neoliberalen Globalisierungsbewegung

Diese sich miteinander verzahnenden Krisen brechen zu einer Zeit aus, da die Bewegung gegen die Globalisierung durch die Konzerne an Stärke gewinnt.

Während der 90er Jahre entwickelte sich Widerstand gegen den Neoliberalis-mus überall im Süden und im Norden. Nur an wenigen Stellen war er jedoch stark genug, auf nationaler Ebene genug kritische Masse anzusammeln, um die neoliberale Politik entschieden umzukehren. Aber obwohl sie national keine kritische Masse darstellten, konnten die Bewegungen global zu einer kritischen Masse werden, wenn sie zu gewissen wichtigen Ereignissen zu-sammenkamen.

Das war es, was in Seattle im Dezember 1999 geschehen ist, als massive Mobilisierung dazu beitrug, die Dritte Ministerkonferenz der WTO zum Er-liegen zu bringen. Die anderen globalen Konfrontationen des Jahres 2000 – von Washington über Chiang Mai bis Prag – erschütterten ebenfalls das Ver-trauen in das Establishment. Als das WSF im Januar 2001 in Porto Alegre 12 000 Teilnehmer vereinigte, wurde die ideologische Herausforderung zu einer sehr realen Gefahr für den globalen Kapitalismus.

Heute könnten wir ein zweites Moment im Werdegang des Widerstands miterleben, da viele anti-neoliberale Bewegungen eine kritische Masse wer-den, die auf die Politik auf nationaler Ebene Druck ausübt. Das scheint vor allem in Lateinamerika der Fall zu sein, wo die Durchsetzung neoliberaler wirtschaftspolitischer Maßnahmen heutzutage ein gesicherter Weg ins

Wahl-desaster ist und progressive Bewegungen entweder die politische Macht ge-wonnen haben oder an der Schwelle der Macht stehen: in Venezuela, Brasilien und in Bolivien.

Konkurrenz mit der Rechten

Nichtsdestoweniger garantiert die Krise den Kräften gegen den Neoliberalis-mus auf der Linken nicht die Überlegenheit. Denn die Rechte ist auch in Be-wegung und nutzt die Krise des neoliberalen Establishments, um ideologische Cocktails aus Reaktion und Populismus zu mixen, die die tiefsten Befürch-tungen der Massen schüren. Man schaue nur auf die Massenresonanz auf den Slogan des Faschisten Le Pen »Sozial bin ich links, wirtschaftlich bin ich rechts, und politisch bin ich für Frankreich«.

Erscheinungen des Rückzugs des Neoliberalismus stellen sich für die ver-ärgerten Massen als apokalyptischer Wettstreit zwischen Links und Rechts dar, obwohl man zu diesem Zeitpunkt ein ideologisches Comeback des globa-len Establishments noch nicht ausschließen kann.

Die Schlacht von Cancún

Die nahe Zukunft wird durch eine ziemlich fließende Situation geprägt sein.

In diesem Zusammenhang stellte sich die Fünfte Ministerkonferenz der WTO in Cancún als Konfrontation zwischen der alten Ordnung und ihren Heraus-forderInnen auf der Linken dar. Aufgrund ihrer Entscheidungsstruktur, die auf »Konsens« aller Mitgliedsländer beruht, ist die WTO der Schwachpunkt des globalen kapitalistischen Systems, ähnlich wie Stalingrad der Schwach-punkt in den nazideutschen Linien während des zweiten Weltkriegs war.

Das Establishment hatte in Cancún das Ziel, eine neue ehrgeizige Runde der Handelsliberalisierung in Gang zu setzen – ähnlich wie die Uruguay-Run-de. Die Gegner hatten die Absicht, die Globalisierung umzukehren, indem Cancún in das Stalingrad des Globalisierungsprojekts verwandelt wurde.

Im Zeitraum nur eines Jahrzehnts nach den triumphalen Feiern zur Wende in den ehemals sozialistischen Ländern hat der globale Kapitalismus einen grundsätzlichen Vertrauensverlust erlitten. Er tritt in eine »Zeit der Wirren«

ein, die der des zweiten und dritten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts ähnelt.

Sein erfolgreiches Auferstehen aus dieser Entwicklungskrise ist keinesfalls ge-sichert.

JEREMY BRECHER, TIM COSTELLO, BRENDAN SMITH

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