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Die Bewegung für globale Gerechtigkeit und Solidarität und das Weltsozialforum

Im Dokument Rosa-Luxemburg-Stiftung Texte 15 (Seite 102-115)

Das Weltsozialforum ist derjenige Prozess, der wohl am deutlichsten mit der neueren internationalen Protestwelle identifiziert wird, die als »Antiglobali-sierungsbewegung« bekannt ist. Aber obwohl es eng mit dieser Bewegung verbunden ist, stellt es doch nur eine Strömung dieses viel allgemeineren Phänomens dar. Wie können die Beziehungen zwischen diesen Prozessen am besten verstanden werden?

Es bietet sich ein Vergleich mit dem 19. und 20. Jahrhundert an: mit der Be-ziehung zwischen Gewerkschaften und Arbeiterparteien auf der einen Seite und »der Arbeiterbewegung« auf der anderen. Aber die Arbeiterbewegung – offensichtlich breiter und loser als eine einzelne Institution – bestand aus an-deren, trotz ihres eigentlich internationalen Charakters hauptsächlich nationa-len Organisationsformen (Kooperativen und Frauenbewegungen zum Bei-spiel, auch um Publikationen herum gruppiert). Das WSF hingegen ist ein im

Wesentlichen internationales Ereignis (oder eine sich verlängernde Serie solcher Ereignisse). Und auch die Bewegung ist im Wesentlichen international – wenn sie sich vielleicht auch noch nicht immer als solche erkennt. So sind wir mit zwei neuen sozialen Phänomenen der Periode der Globalisierung kon-frontiert, die beide international und global sind.

Das WSF – angestoßen durch eine Gruppe brasilianischer, französischer und anderer Nichtregierungsorganisationen, Gewerkschaften und Individuen – ist organisch mit der allgemeineren Bewegung verknüpft. Dies geschieht durch ein informelles Ereignis auf dem Forum, das als »Aufruf der sozialen Bewegungen« bekannt ist, an dem viele beim WSF vertretene Körperschaften teilnehmen und dessen Erklärungen sie auch unterzeichnen. Der »Aufruf« in-stitutionalisierte sich zwischen dem 2. und dem 3. WSF mit einem Internatio-nalen Sekretariat der Sozialen Bewegungen. Aber diese Organisation oder Tendenz verursacht Unbehagen bei denen im WSF, die das Forum als »Raum«

– und nicht als »Bewegung« – sehen wollen.1

Die »Globale Gerechtigkeits- und Solidaritätsbewegung« (GGSB) ist eigent-lich ein durch den Aufruf vorgeschlagenerName für die allgemeine Protestwel-le gegen die konzerndominierte Globalisierung, gegen den von den USA initi-ierten Neoliberalismus/Neokonservativismus und gegen den Krieg, ein Name für die neue Welle des radikaldemokratischen Protests und der Gegen-vorschläge. Diese »Bewegung der Bewegungen« ist durch ihre Netzwerkform und Kommunikationsaktivität geprägt – das ist eine von Freunden und Fein-den gleichermaßen anerkannte Tatsache.2Ihre Größe, Form, Reichweite, Aus-breitung, ihre Zwecke und Ziele indes scheint sie je nach Lage der Dinge zu ändern. So könnte sie sich in einem Augenblick gegen die neoliberale wirt-schaftliche Globalisierung und in einem anderen gegen den von den USA an-geführten Krieg gegen den Irak wenden. Das freilich macht es noch wichtiger, sie zu analysieren, anstatt ihr nur einen Namen zu geben.

Wie jedes neue Phänomen ist auch die GGSB leichter durch das zu charak-terisieren, was sie nichtist, als durch das, was sie ist:

• sie ist keineinternationale Arbeiter- oder sozialistische Bewegung, obwohl sich in ihr Gewerkschaften und SozialistInnen herausragend engagieren;

• sie ist kein »transnationales FürsprecherInnen-Netzwerk«3, obwohl sie stark durch die Anwesenheit internationaler und nationaler NGOs geprägt ist;

• sie ist keineReinkarnation der internationalen Protestwelle von 1968, ob-wohl Che-Guevara-Ikonen immer noch populär sind und sie andere klare Echos der 60er und 70er Jahre in sich trägt;

1 Social Movement World Network Website (Website des Netzwerks der sozialen Bewegungen, www.movsoc.org – vgl. Anhang); Vargas 2003; Whitaker 2003; World Social Forum/Weltsozialforum Website.

2 Arquilla und Ronfeldt 2001; Cleaver 1998; Escobar 2003; Klein 2003.

3 Keck und Sikkink 1998.

• sie ist keine anarchistische Bewegung, obwohl Anarchisten, Autonome und Libertäre sehr aktiv in ihr sind;

• und sie ist keinenationalistische oder Dritte-Welt-Bewegung, obwohl na-tionale, Drittwelt- und antiimperialistische Kräfte und Gedanken in ihr klar ausgemacht werden können.

Es ist gleichzeitig nicht schwer, die Entwicklungen zu bezeichnen, die das Heraufkommen der GGSB provozierthaben. Diese Entwicklungen sind:

• die wachsende Vormachtstellung multinationaler Konzerne und internatio-naler Finanzorganisationen im internationalen Raum, zusammen mit der neolibe-ralen Politik, die sowohl dem Norden wie auch dem Süden aufgepfropft wurde;

• das Schrumpfen der öffentlichen Sphäre und die Reduzierung der staat-lichen Sozialprogramme und Subventionen;

• die Feminisierung der Armut, die Herabwürdigung der Frauen zur Ware (der Sexhandel), die gleichzeitige formale Bestätigung und politische Verwei-gerung von Frauen- und anderen geschlechtlichen Rechten;

• die De-Industrialisierung, die Arbeitslosigkeit und die Informalisierung der Beschäftigung: die Ideologie der Konkurrenzfähigkeit als eines »Gerichts-hofes« erster und letzter Instanz; die Untergrabung des Schutzes der eigenen Märkte (besonders für schwächere Volkswirtschaften);

• das Predigen und die gleichzeitige praktische Aushöhlung traditioneller Strukturen und Begriffe nationaler Souveränität,

• die Schaffung neuer internationaler Institutionen und Regulierungen bei gleichzeitiger Marginalisierung der Vereinten Nationen und solcher Agentu-ren wie der Internationalen Organisation für Arbeit (ILO);

• die andauernde Erosion der ökologischen Nachhaltigkeit; die Versuche der Konzerne, genetische Codes mit Copyright zu belegen, Nahrungsmittel genetisch zu modifizieren, sie zu kommerzialisieren und Menschen dann zu zwingen, sie zu kaufen;

• die Fortsetzung und sogar Forcierung des Militarismus, der Militarisie-rung und der Aufrüstung trotz der durch das Ende des Kalten Kriegs ge-weckten Hoffnungen;

• die Zunahme globaler Epidemien und der Bedrohungen des Klimas;

• die Dämonisierung von ImmigrantInnen, Asylsuchenden und des Islam und aller jeweils »anderen«.

All diese Prozesse haben die sozialen Spannungen dramatisch erhöht: ins-besondere im Süden, aber auch im Osten – in der ehemals kommunistischen Welt – und selbst in solchen Wohlfahrtsstaaten des kapitalistischen Kerns wie Kanada und Schweden. Dieser Druck hat auch heftige konservative, reak-tionäre, religiöse und ethnische Reaktionen gewaltsamer und repressiver Na-tur ausgelöst – zuweilen in internationaler Abstimmung.

Viele identifizieren die neuen Protestbewegungen des beginnenden Jahr-hunderts mit dem Norden – Seattle 1999, Prag 2000, Genua 2001, Göteborg

2001, Barcelona 2002, Evian 2003 usw. Sie verbinden sie auch mit dem Bürger-tum, den Studenten und Jugendlichen, die bei diesen Protesten eine herausra-gende Rolle gespielt haben. Aber sie identifizieren sie auch auch mit Frauen:

ungefähr 50 % der TeilnehmerInnen bei den Weltsozialforen sind Frauen – obwohl von ihnen wenig die Rede ist.

Aber die Bewegung kann nicht auf wichtige Protestereignisse reduziert werden, und auch nicht auf die seit 1999. Ihre Wurzeln müssen muss sowohl weit früher als auch im Süden gesucht werden – mindestens in den vom IWF provozierten »Hungerrevolten« in den Entwicklungsländern in den 80er Jah-ren, als es in den Städten Aufstände gegen das von außen erzwungene Ende der Nahrungsmittelsubventionen gab. Weit verbreitete Proteste gegen gigan-tische und ökologisch schädliche Dammprojekte, die von der Weltbank und entwicklungsversessenen lokalen Eliten gefördert wurden, gehen bis in die 80er Jahre oder noch weiter zurück. Es gab große Demonstrationen und Auf-stände gegen die Kopfsteuer in Großbritannien im Jahre 1990. Durch die 90er Jahre hindurch gab es im gesamten Süden unzählige Proteste gegen die eu-phemistisch »Strukturelle Anpassungsprogramme« genannten Projekte im Be-sonderen und gegen die neoliberale Politik im Allgemeinen. Und das Auftre-ten der oft korporatistischen, manchmal chauvinistischen und im Allgemei-nen duckmäuserischen US-Gewerkschaft AFL-CIO bei den Anti-WTO-De-monstrationen in Seattle wurde – etwas vorschnell – mit dem Slogan »Braune und Grüne: Endlich gemeinsam!« willkommen geheißen.4

Eine wichtiges Resultat der von den USA initiierten neoliberalen Politik war das Nordamerikanische Freihandelsabkommen (NAFTA), das sowohl in Kana-da als auch in Mexiko großen Protest auslöste. In KanaKana-da wandelte sich der Protest von einer ursprünglich national-protektionistischen Kampagne zu einer der internationalen Solidarität – zunächst mit Mexiko, dann mit Lateinamerika im Ganzen, was schließlich zur Bildung einer kontinentalen sozialen Allianz einschließlich der Vereinigten Staaten führte. In Mexiko war das Inkrafttreten des NAFTA-Vertrages am 1. Januar 1994 der Auslöser für den Beginn der Za-patista-Bewegung in dem im Süden Mexikos gelegenen, aufs schärfste globali-sierten, marginalisierten und ausgebeuteten Bundesstaat Chiapas.5

Während sie anfänglich als eine klassische bewaffnete Guerilla-Bewegung der diskriminierten und landhungrigen eingeborenen Mayagemeinschaften von Chiapas auftrat, entwickelte die Zapatista-Bewegung bald ganz neue Kampfformen: einen Aufruf an die mexikanische Zivilbevölkerung, einen scharf profilierten Internationalismus, ein geschicktes Verständnis und eine kluge Nutzung sowohl der Massenmedien als auch alternativer elektronischer Kommunikation. Dies alles kann in den Reden und Schriften ihres

Haupt-4 Aguitan 2003; Walton und Seddon 1994.

5 Website der Alianza Social Continental (Kontinentale Sozialallianz); Website Zapatista Index.

sprechers, des Subcommandante Marcos (Rafael Guillén), eines Akademikers und in Kuba für Guerilla-Kriegführung ausgebildeten Nichteingeborenen, nachgelesen werden. Die Aktivitäten der Zapatistas, insbesondere zwei inter-nationale Encuentros– eines in Chiapas 1996, eines in Spanien 1997 – brachten eine neue Welle des Internationalismus hervor. Die machtvollen, poetischen und spielerischen Worte von Marcos, der zwischen Maya und mexikanischem Dialekt und der Sprache der kosmopolitischen Intellektuellen abwechselt und sie kombiniert, verzauberten eine abgestumpfte Welt. Sie fanden an mehreren Fronten einen dramatischen Anklang. Eine internationale Linke, die zerschla-gen, verbeult und desorientiert war von der Aufweichung des Wohlfahrts-staats, vom Schrumpfen der Arbeiterklasse, vom Stopp des Vorwärtsmarsches der Arbeiterbewegung, vom Zusammenbruch der osteuropäischen und der zum Süden zählenden volkskommunistischen Staaten, fand eine neue Identi-fikationsmöglichkeit. Von den Zapatista-Treffen gingen auch zwei wichtige in-ternationale Entwicklungen aus: die Globale Aktion der Völker (PGA) und das WSF selbst.6

Andere wichtige Quellen der neuen Bewegung müssen ergänzt werden: ins-besondere die steigende Welle des Protests gegen die Arbeitslosigkeit, gegen die Privatisierung und gegen Einschnitte bei den sozialen Dienstleistungen, die während der 90er Jahre speziell in Europa sichtlich an Kraft gewann; weiter die Entwicklung eines »Gegenexpertentums«, das – konzentriert in internationalen und nationalen NGOs – auf einer Reihe von UN-Konferenzen und Gipfeltreffen während der 90er Jahre seine Wirkung zeigte, und zwar insbesondere bei der Weltkonferenz über Umwelt und Entwicklung im Jahr 1992 und bei der Vierten UNO-Weltfrauenkonferenz; schließlich die Zunahme unbotmäßiger, oft anar-chistisch gefärbter, direkter Aktionsgruppen mit üblicherweise internationa-listischer Ausrichtung – wie etwa die Reclaim the Streets(Die Straße zurückfor-dern)-Bewegung in Großbritannien. Diese unterstützte die mutigen, aber letzt-endlich zerschlagenen Proteste der Liverpooler Werftarbeiter gegen die Angriffe der Konzerne, gegen die staatliche Gesetzgebung und gegen die Gleichgül-tigkeit der Gewerkschaften ihnen gegenüber. Eine bedeutende internationale libertäre Initiative, die mit dieser Art nationaler Aktivität zu tun hatte, war die der PGA, die Treffen in Genf, Bangalore und Cochabamba durchführte.7

Und natürlich sind zu nennen die Bewegungen der 70er und 80er Jahre, die als Vorläufer der so genannten neuen sozialen Bewegungen angesehen werden müssen. Diese Bewegungen – von Frauen, von eingeborenen Völkern, von sexuellen Minderheiten, aber auch für Demokratisierung der Medien, Ökologie oder Verbraucherschutz – wurden sowohl im Norden als auch im Süden wahrgenommen, und es wurde über sie gesagt, dass sie eher

»Iden-6 De la Grange und Rico 1998; Holloway und Peláez 1998; Oleson 2004; Wahl 2002.

7 Abramsky 2001; PGA-Website; Reclaim the Streets-Website; Sweeney 1997.

tität« als »Interessen« verträten. Sie brachten verborgene Formen der Entfremdung ans Licht der Öffentlichkeit, suggerierten neue Formen der

»Selbst-artikulierung«. In gleichem Maße auf die Umgestaltung der Zivilge-sellschaft und auf die von Staat und Wirtschaft gerichtet, brachten diese Be-wegungen Themen auf, die von der großen, alten internationalen »Interes-sen«bewegung – den Gewerkschaften – ignoriert oder an den Rand verstoßen worden waren.8

Der Aufstieg der »Antiglobalisierungsbewegung« hat diesen unterstellten Gegensatz zwischen »Interessen« und »Identität« nicht weiter vertieft, son-dern ihn vielmehr sogar aufgehoben. Indem sie die wachsende Macht der Konzerne über die Staaten und deren negative Auswirkungen auf Menschen und Völker – egal, ob im Norden, Süden oder Osten – hervorhob, war die Be-wegung eine Herausforderung sowohl für die institutionalisierte Arbeiterbe-wegungen und die Linke weltweit als auch für eine internationale Frauenbe-wegung, die extrem unter ihrer »NGOtisierung« litt.9

Auch aus noch einer anderen Bezeichnung heraus – der Bezeichnung »an-tikapitalistische Bewegung« – wird klar, dass die »Bewegung der Bewegun-gen« ebenso sehr Bestrebungist wie Tatsache, ebenso Werdenwie Sein. Einen wichtigen Test hat sie bei all dem schon bestanden. Als die terroristischen Anschläge in New York und Washington am 11. September 2001 stattfanden, gab es einen Stillstand in der bis dahin wachsenden Bewegung in Nordameri-ka (Seattle 1999; Washington DC 2000; Quebec 2001). Nach den US-geführten Kriegen in Afghanistan (2002) und Irak (2003) verwandelte sich jedoch eine oft hauptsächlich als gegen die Konzerne gerichtet gesehene Bewegung in den größten internationalen Antikriegsprotest in der Geschichte. Ein New York Ti-mes-Kolumnist schrieb am 18. Februar 2003, »dass es auf unserem Planeten im-mer noch zwei Supermächte zu geben scheint: die Vereinigten Staaten und die Weltöffentlichkeit.« Eine 300 Menschen umfassende Antikriegsdemonstration fand sogar in Lima in Peru statt. Dies ist ein Land, das durch Jahrzehnte des Neoliberalismus, der Gegenaufstände und der autoritären Herrschaft tief traumatisiert und isoliert ist und in dem es – anders als in den Nachbarlän-dern Brasilien, Ecuador und Bolivien – bis dahin nur ein marginales Bewusst-sein von der neuen internationalistischen Welle gegeben hatte.10

Die Sprache der neuen radikal-demokratischen Protestbewegungen infi-ziert zusehends einige der 50 bis 100 Jahre alten Gewerkschaftsorganisationen, so wie die kürzlich umbenannten Global Unions-Föderationen. Und die Ge-werkschaften, die weltweit 150 bis 200 Millionen Mitglieder haben, werden mehr und mehr durch das WSF angezogen.11

8 Alvarez, Dagnino und Escobar 1998; Cohen 1985; Melucci 1989; Omvedt 1993a.

9 Alvarez et al 2002.

10 Ashman 2003; Boyd 2003; Callinicos 2003; Starr 2000.

11 Aguiton 2003; Buckley 2003; International Transportworkers’ Federation 2002.

Das WSF wurde in Porto Alegre, Brasilien, 2001, 2002 und 2003, und in Mumbai, Indien, 2004 abgehalten. Während die zuvor erwähnten Protester-eignisse häufig mehr von Opposition als Proposition gekennzeichnet waren, sind die Foren nicht nur Gegenvorschlägen über ein sehr weites Spektrum sozialer Fragen gewidmet gewesen (mit einer sehr weiten Spanne wichtiger kollektiver Akteure).

Sie haben auch demonstriert, dass diese Entwicklung viel mehr bedeutet als einen nördlichen oder sogar westhemisphärischen Internationalismus. Darü-ber hinaus hat der Forumprozess sich jetzt vertieft und erweitert: Auf der ganzen Welt finden nationale, regionale und thematische Foren statt. Manche dieser Foren sind möglicherweise vom WSF unabhängig. Das WSF selbst ist sowohl zum Subjekt als auch zum Gegenstand intensiven Nachdenkens über seine eigene Bedeutung, Natur und Zukunft geworden.12

Namen und Definitionen

Die Bewegung hat, wie schon erwähnt, viele Namen, die manchmal entge-gensetzte, manchmal sich überschneidende Ansätze, Theorien, Strategien und Bestrebungen widerspiegeln. Das wird von der traditionellen Linken so ver-standen und auch von der nicht-traditionellen und der innovativen, und man-che sagen sogar, dass es sich nicht um eine Bewegung, sondern um ein »Feld«

handele. Es sind Versuche gemacht worden, dieses Phänomen unter der Ru-brik »globale Zivilgesellschaft« zu fassen. Die Art und Weise, in der sympa-thisierende Theoretiker und Strategen versuchen, Gruppen oder Tendenzen innerhalb der Bewegung zu identifizieren, sagt eine Menge über das Neue des vor uns stehenden Phänomens.13

Alex Callinicos aus dem Vereinigten Königreich räumt zwar ein, dass die Mehrheit der AktivistInnen der Bewegung nichtantikapitalistisch ist, bezieht sich aber auf ihr »sich entwickelndes Bewusstsein« als Rechtfertigung, die Bewegung dennoch so zu nennen. Dann skizziert er eine Typologie des Anti-kapitalismus, die eine »reaktionäre«, eine »bourgeoise«, eine »lokale«, eine

»reformistische«, eine »autonome« und eine »sozialistische« Strömung um-fasst. Er selbst identifiziert sich mit einem Untertyp der letzteren, dem »revo-lutionären«.14

Christoph Aguiton aus Frankreich, ein Trotzkist anderer Couleur – und eine führende Persönlichkeit im WSF –, macht ansatzweise drei »Pole« innerhalb der globalen Gerechtigkeitsbewegung aus: »radikal internationalistisch«, »na-tionalistisch« und »neo-reformistisch«. Der erste blickt sowohl über den

Kapi-12 Fisher und Ponniah 2003; Transnational Alternatives (www.tni.org) 2002; Sen 2003; Santos 2003;

Whitaker 2002.

13 Aguiton 2001; Callinicos 2003; Crossley 2002; Glasius, Kaldor und Anheier 2002; Pianta 2001;

Starr 2000; Santos 2003.

14 Callinicos 2003, S. 14-16.

talismus als auch den Nationalstaat hinaus, der zweite ist eine hauptsächlich südliche Antwort, und der dritte ist die »globale Gouvernanz«-Tendenz, die auch im WSF stark vertreten ist.15

Starr und Adams aus den Vereinigten Staaten, die in der Callinicos-Typolo-gie »Lokalisten« wären, charakterisieren die Bewegung als »Antiglobalisie-rung« und unterscheiden als bedeutende »Modi« oder »Archetypen« darin:

»radikale Reform«, die staatsfreundlich ist; »Globalisierung der Völker«, die mit dem WSF verbunden wird; und »Autonomie«, die durch Ökologiefreund-lichkeit und die demokratischen Qualitäten frei kooperierender Gemeinschaf-ten (ihrer eigenen) gekennzeichnet ist.

Der portugiesische Wissenschaftler Boaventura de Sousa Santos, der sich auf das WSF konzentriert, sieht radikale Konsequenzen in Richtung auf eine Überwindung traditioneller Soziologien, linker Strategien und sogar der west-lichen Erkenntnistheorie auf uns zukommen. Er argumentiert, dass keine be-deutende neue emanzipatorische Bewegung mit den schon existierenden Be-griffen verstanden werden könne und dass es in unserer Epoche notwendig sei, eine »Soziologie der Abwesenheit« und eine »Soziologie des Aufkom-mens« zu entwickeln. Dies diene der Überwindung der Soziologie des Beste-henden und Offensichtlichen und gebe dem Ignorierten und Unterdrückten eine Stimme. Diese neue Soziologie sei auch zur Überwindung »konservativer Utopien« nötig – kämen sie nun von rechts oder von links.

Der Italiener Mario Pianta, der die Bewegung aus »globaler, zivilgesell-schaftlicher« Sicht betrachtet, teilt die Reaktionen auf die neoliberale Globali-sierung ein in »Unterstützer der augenblicklichen Zustände«, »Reformer«,

»radikale Kritiker, die eine andere Globalisierung befürworten«, »Alternativen außerhalb des Mainstreams« und »nationale Refuzniks« ein.

Auffällig ist, dass bis auf Callinicos keiner der oben Erwähnten die Termi-nologie von Links, Rechts oder Mitte verwendet und dass im Prinzip jedes dieser Schemata über die Linke, wie wir sie kennen – die Linke also eines na-tionalen, industriellen, antikolonialen Kapitalismus –, hinweggeht. Während viele AktivistInnen und einige international einflussreiche linke Bewegungen sich ausschließlichauf diese Tradition berufen, wird auch die Frage aufgewor-fen, ob die GGSB den traditionellen linken Internationalismus nicht potentiell überholt. »Emanzipation« könnte, wenn heutzutage die Umgestaltung der Ge-sellschaft, Natur, Kultur, Arbeit und Psychologie sowie des immer wichtiger werdenden, aber raumlosen Raums Cyberspace diskutiert wird, ein besserer Begriff als »Linke« sein.16

15 Global Civil Society Yearbook (Website des Jahrbuchs der Globalen Zivilgesellschaft); Rikkilä und Patomäki 2001.

16 Boyd 2003; Cardon und Granjon 2003; Escobar 2003; Löwy 2003; Ngwane 2003; Waterman 2001a, b.

Bildung der Bewegung – lokal, national, regional und global

Während einige Autoren das Nationale und das Globale, das Lokale und das Globale einander gegenüberstellen, wäre es wohl sinnvoller, sie in kreativer Spannung miteinander existieren zu sehen, wobei jedes dieser Niveaus, In-stanzen oder Räume durch das jeweils andere informiert wird. Oder zumin-dest informiert werden sollte.17

Wenn wir die letzte Hauptwelle der weltweiten Proteste, die durch das Jahr 1968 symbolisiert wird, mit der heutigen vergleichen, müssen wir feststellen, dass die Bewegungen der damaligen Periode parallel und nicht verknüpft waren. Trotz aller Ähnlichkeiten scheint wenig Kontakt zwischen Paris und Prag, zwischen den europäischen Protesten und Aufständen und denen in Dakar, Tokio und Mexiko City bestanden zu haben. Weder die Erzählungen der TeilnehmerInnen noch Augenzeugenberichte behaupten etwas anderes.18

»1968« wurde zweifellos von der kubanischen Revolution (1959), der chine-sischen Kulturrevolution (1965), dem vietnamechine-sischen Widerstand gegen die USA (60er Jahre) und dem dramatischen Wachstum der amerikanischen Bür-gerrechtsbewegung (60er Jahre), durch die Gründung der kubanisch geförder-ten Drei-Kontinente-Solidaritätsbewegung und der Organisation der Latein-amerikanischen Solidarität (1966/67) inspiriert. »1968« wurde von all diesen Er-eignissen im buchstäblichen Sinne durch die Berichte der Massenmedien auch

»1968« wurde zweifellos von der kubanischen Revolution (1959), der chine-sischen Kulturrevolution (1965), dem vietnamechine-sischen Widerstand gegen die USA (60er Jahre) und dem dramatischen Wachstum der amerikanischen Bür-gerrechtsbewegung (60er Jahre), durch die Gründung der kubanisch geförder-ten Drei-Kontinente-Solidaritätsbewegung und der Organisation der Latein-amerikanischen Solidarität (1966/67) inspiriert. »1968« wurde von all diesen Er-eignissen im buchstäblichen Sinne durch die Berichte der Massenmedien auch

Im Dokument Rosa-Luxemburg-Stiftung Texte 15 (Seite 102-115)