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Das Weltsozialforum: Arena oder Akteur? 1

Im Dokument Rosa-Luxemburg-Stiftung Texte 15 (Seite 174-184)

Die Machtkonzentration in transnationalen und globalen Institutionen war ei-ner der wichtigsten sozialen Prozesse des 20. Jahrhunderts. Trotzdem ist die demokratische Theorie und Praxis sehr auf den Nationalstaat zentriert geblie-ben. Obwohl es durch das ganze Jahrhundert hindurch einige Beispiele kos-mopolitischen demokratischen Denkens und transnationaler demokratischer Praxis gab – wie etwa das Projekt der New International Economic Order (NIEO) in den siebziger Jahren –, wurden sie durch die meisten Analytiker und Poli-tiker einfach ignoriert.

Die Solidaritätsbewegungen, die sich auf die früheren Versuche, die globa-le Macht zu demokratisieren, wie sie im NIEO-Projekt zu finden sind, kon-zentrierten, betrachteten das Problem als eines der zwischenstaatlichen Bezie-hungen. Manche der heutigen Bewegungen nehmen die Welt in einer weniger staatszentrierten Weise wahr. Statt zu fordern, dass ein bestimmter Dritte-Welt-Staat mehr Entscheidungsrechte in globalen Angelegenheiten haben soll, fragen die heutigen AktivistInnen vielleicht nach mehr Macht für die Bürger-rechtsgruppen, die sowohl Regierungen als auch Konzerne herausfordern.

Dieser Trend ist vielversprechend. Um sich jedoch die institutionellen Merk-male einer alternativen Zukunft vorzustellen und daran zu bauen, könnten wir politische Strukturen brauchen, die die »Zivilgesellschaft«, wie sie allge-mein entworfen wird, wahrscheinlich nicht wird liefern können.

In den vergangenen Jahren und nach Seattle haben wir das Aufkommen ei-ner wachsenden Zahl von Arenen beobachten können, die zivilgesellschaftli-che Organisationen und Bürger dazu bringen, ihre Besorgnis über die kapita-listische Globalisierung auszudrücken. Die Arenen sind verschiedenartig – so-wohl was politische Orientierung als auch was organisatorische Gestaltung angeht. Die spektakulären Demonstrationen von Okinawa bis Göteborg und Genua haben eine ausführliche Medienberichterstattung ausgelöst und sind

1 Überarbeitete Fassung eines bei der Latin American Studies Association(Vereinigung für Lateinamerika-studien) am 28. März 2003 vorgetragenen Referats.

zu herausragenden Modellen kritischer Organisation der Zivilgesellschaft ge-worden. In den meisten von ihnen hat der Schwerpunkt auf den defensiven Maßnahmen gelegen, gegenetwas anzugehen. Viele der sichtbarsten zivilge-sellschaftlichen Zusammenkünfte haben sich ausdrücklich und oft antagoni-stisch auf die Gipfeltreffen der globalen Elite bezogen. Aber was viel wichtiger ist: Organisierte Proteste zu diesen Probleme haben – sei es auch mit viel we-niger Presseaufmerksamkeit – noch in den abgelegensten Teilen der Welt statt-gefunden.

Vom Anti-Davos nach Porto Alegre: Die lokalen Wurzeln eines globalen Ereignisses In Brasilien ist eine konkrete Initiative für ein weltweites zivilgesellschaftli-ches Ereignis mit Beziehung zu den ersten Anti-Davos-Initiativen schon zu Beginn des Jahres 2000 aufgekommen. Die erste Formulierung wird Oded Grajew zugeschrieben, dem Koordinator der brasilianischen Unternehmerver-einigung für Staatsbürgerschaft (CIVES).2Im Februar 2000 traf sich Bernard Cassen, Vorsitzender von ATTAC und Direktor von Le Monde diplomatique, mit Grajew und Francisco Whitaker von der brasilianischen Gerechtigkeits- und Friedenskommission (CBJP) in Paris, um die Möglichkeit der Organisation eines solchen Forums zu diskutieren. Ihre Beratung erbrachte drei Hauptideen für das Forum. Erstenssollte es im Süden abgehalten werden und, konkreter gesagt, in der brasilianischen Stadt Porto Alegre. Zweitens, der Name sollte Weltsozialforum sein, mit Veränderung nur eines Teilworts im Namen eines gemeinsamen Feindes, des Weltwirtschaftsforum (WEF). Drittens, es sollte zur gleichen Zeit wie das WEF ausgerichtet werden, auch, weil dieser Symbolis-mus für die Medien attraktiv wäre.3

Bald darauf beschlossen acht brasilianische Organisationen, ein Organisati-onskomitee für das Ereignis zu bilden. Im März 2000 sicherten sie sich die Un-terstützung der Stadtverwaltung von Porto Alegre und der Regierung des Bundesstaates Rio Grande do Sul – zweier Organe, die zu dieser Zeit von der Arbeiterpartei (PT – Partido dos Trabalhadores) kontrolliert wurden.4Zuerst war es der Bürgermeister von Porto Alegre, Raul Pont, der die Idee mit großem Enthusiasmus aufnahm. Dann entschied sich auch die Regierung des Bundesstaates unter Gouverneur Olivio Dutra, dem WSF-Prozess Zeit und Anstrengung zu widmen.5Daher besitzt das WSF – anders als viele transna-tionale Ereignisse andernorts – eine starke lokale Verankerung. Während der Militärherrschaft in Brasilien war die Stadt ein Zentrum des Widerstands mit starken Nachbarschaftsvereinigungen gewesen.6Die im Jahre 1980

gegründe-2 CIVES wird zuweilen als ein Verein von Unternehmervertretern beschrieben, die die Arbeiterpartei (PT) unterstützen.

3 Persönliche Kommunikation mit Bernard Cassen am 16. April 2002; auch Cassen 2002.

4 Zu den Ursprüngen des WSF vgl. Whitaker, April 2002.

5 Wainwright 2003.

6 Persönliche Kommunikation mit Jefferson Miola am 20. April 2002.

te PT – mit einer ihrer Hauptbastionen in Porto Alegre – hat tiefe Wurzeln in diesen Vereinigungen, Gewerkschaften, katholischen Organisationen, Frauen-bewegungen und vielen anderen Sektoren der vibrierenden brasilianischen Zivilgesellschaft geschlagen.7

Es war eine kluge Wahl, das WSF in Porto Alegre auszurichten, da sowohl die Stadtverwaltung als auch die Regierung des Bundesstaates willens waren, dem Ereignis bedeutende materielle und menschliche Ressourcen zuzuerken-nen. In kommerzieller Hinsicht hielten die meisten lokalen Bürger das WSF für eine gute Sache, aber was die Ideologie anging, waren nicht alle einverstanden.

Wer »regiert«?

Naomi Klein charakterisierte die organisatorische Struktur des ersten WSF als

»so undurchsichtig, dass es fast unmöglich war, herauszufinden, wie Ent-scheidungen getroffen wurden«.8Andere haben sich zu den jährlichen Aufla-gen des WSF-Hauptereignisses ähnlich kritische geäußert.

Die formale Entscheidungsmacht des WSF-Prozesses lag hauptsächlich in den Händen des Organisationskomitees, das aus der Zentralen Gewerk-schaftskonföderation (CUT – Central Única dos Trabalhadores), der Bewegung der Landlosen LandarbeiterInnen (MST – Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra) und sechs kleineren brasilianischen zivilgesellschaftlichen Organisationen besteht.9Was die Bündnispartner angeht, besteht ein großer Unterschied zwischen den zwei großen und den anderen. Das Auseinander-klaffen der Ressourcen sollte jedoch nicht übertrieben werden. Obwohl sie viel kleiner sind, können einige der teilnehmenden NGOs vielleicht besseren Zu-gang zu finanziellen Mitteln haben als die MST. Die Rolle des IBASE, eines so-zial orientierten Forschungsinstituts mit Sitz in Rio, ist bei der Geldbeschaf-fung für das WSF besonders wichtig gewesen.

Das andere Hauptorgan des WSF, der Internationale Rat, wurde in São Pau-lo im Juni 2001 gegründet. Cândido Grzybowski, Direktor des IBASE, erzählt, dass die Idee, einen Internationalen Rat zu gründen, in Porto Alegre am letz-ten Tag des ersletz-ten WSF aufkam. Während der folgenden Monate erstellte das Organisationskomitee eine Liste von Organisationen, die dann zum Grün-dungstreffen in São Paulo eingeladen wurden. Im Februar 2003 bestand der Rat aus 113 Organisationen, obwohl praktisch viele von ihnen nicht am Pro-zess teilnahmen. Diese Zahl umfasst auch die acht Mitglieder des Organisati-onskomitees. Die meisten Mitglieder des Internationalen Rates kommen aus Nord- und Südamerika und Westeuropa, obwohl viele auch in anderen Teilen

7 Über die Ursprünge der PT in Rio Grande do Sul vgl. z. B. Prestes 1999.

8 Klein 2001.

9 Associação Brasileira de Organizações Não Governamentais (ABONG); Ação pela Tributação das Tran-sações Financeiras em Apoio aos Cidadãos (ATTAC); Comissão Brasileira Justiça e Paz (CBJP); Asso-ciação Brasileira de Empresários pela Cidadania (CIVES); Instituto Brasileiro de Análises Sociais e Econômicas (IBASE); und Rede Social de Justiça e Direitos Humanos.

der Welt aktiv sind. Organisationen mit Sitz in Asien und Afrika umfassen Asian Regional Exchange for New Alternatives (ARENA) (Asiatischer Regional-austausch für neue Alternativen), Environnement et Développement du Tiers-Monde (ENDA)(Umwelt und Entwicklung der Dritten Welt, ENDA) und das palästinenische NGO-Netzwerk. Neben den formalen Mitgliedern gibt es 15 Beobachterorganisationen, hauptsächlich VertreterInnen regionaler und the-matischer Sozialforen in verschiedenen Teilen der Welt.

Die Arbeitsteilung zwischen dem Internationalen Rat und dem brasiliani-schen Organisationskomitee ist von vornherein zwiespältig gewesen. Der In-ternationale Rat hat vor allem auf dem Papier und in geringerem Maße auch in der Praxis zusätzliche Bedeutung gewonnen. Es ist sehr angebracht, seine Rolle bei der internationalen Legitimierung der brasilianischen Organisatoren zu betonen,10obwohl das natürlich nicht seine einzige Rolle ist. Bis jetzt hat das System relativ gut funktioniert und Entscheidungen mittels einer Metho-de getroffen, die einige Metho-der brasilianischen Organisatoren construção nennen und die darin besteht, sie durch eine kritische Debatte und manchmal mühsa-me Konsensschaffung herbeizuführen. Der Internationale Rat soll nicht mit Möglichkeiten zur Anfechtung von Vertretungen und auch nicht zur Abstim-mung ausgestattet sein.11Das einzige Mal, dass es eine Abstimmung gab, war, als während des ersten Treffens entschieden werden musste, ob das nächste Treffen des Internationalen Rats irgendwo in Europa oder in Dakar stattfinden sollte. Die überwiegende Mehrheit stimmte für Dakar. Als beschlossen wor-den war, dass das WSF 2004 in Indien stattfinwor-den sollte, gestaltete sich das Ver-hältnis zwischen dem Internationalen Rat und den Organisatoren sowohl in Brasilien als auch Indien schwieriger.

Die Auswahl der Gründungsmitglieder des Internationalen Rates geschah hauptsächlich auf Einladung des Organisationskomitees und war relativ ein-fach, weil der allgemeine Prozess nur relativ wenigen Netzwerken bekannt war. In der Zukunft, wenn mehr Gruppen ein Interesse daran haben werden, dem Internationalen Rat beizutreten, werden klarere Auswahlprozeduren ge-schaffen werden müssen. Es gibt Anzeichen, dass der Prozess der fairen Ver-tretung im WSF-Prozess kontroverser werden wird. Zunächst einmal wurden bei dem Treffen des Internationalen Rates im Juni 2003 in Miami Prozeduren für die Auswahl neuer Mitglieder entworfen. Sie waren nicht besonders de-tailliert, aber manche der Punkte waren dennoch umstritten. Zum Beispiel wurde vorgeschlagen, dass nur die Organisationen, die in mehreren Ländern aktiv sind, Mitglieder des Internationalen Rats sein dürfen, aber dieser Vor-schlag wurde schließlich nicht akzeptiert.

In den Jahren 2002/2003 wurde das brasilianische Organisationskomitee umgenannt in »Sekretariat«. Die Zwiespältigkeit in den Beziehungen mit dem

10 Vgl. z. B. Waterman 2003b.

11 Weltsozialforum, Brasilianisches Organisationskomitee, August 2002 (April 2002).

Internationalen Rat ist jedoch nicht völlig überwunden worden. In einigen Dokumenten definiert die neu benannte Körperschaft sich selbst als »Sekreta-riat des Weltsozialforums«. In der Praxis sind die Begriffe »Organisationsko-mitee« und »Sekretariat« synonym benutzt worden.

Vor dem Forum im Januar 2004 konstituierten die indischen Organisationen ein neues Organisationskomitee. Damit ist weniger klar, wie die Zusammen-stellung und was die Rolle des Organisationskomitees und des Sekretariats in den nächsten zwei Jahren sein wird. Da das WSF kein einmaliges Ereignis ist, sondern ein Prozess mit vielen Ereignissen, könnte es Praxis werden, dass die-se verschiedenen Ereignisdie-se gesonderte Organisationskomitees haben und das WSF als Ganzes eine Art Koordinierungsorgan besitzt, das – abgesehen vom Internationalen Rat – auch das Sekretariat sein könnte. Sowohl der Internatio-nale Rat als auch das brasilianische Sekretariat sehen sich jedoch einiger Kri-tik ausgesetzt.

Die Entscheidung, das WSF 4 in Indien abzuhalten, wurde gleichzeitig mit der Entscheidung getroffen, das WSF 5 wiederum in Porto Alegre stattfinden zu lassen. Einige Mitglieder des Internationalen Rates haben wiederholt ihrer Befürchtung Ausdruck verliehen, dass, wenn das WSF Porto Alegre definitiv verlässt und die nächsten Tagungsorte den Erwartungen nicht gerecht wer-den, der ganze Prozess absterben könnte. Den Ort des Forums 2005 festzule-gen, wurde daher als Sicherung gegen die – allerdings unwahrscheinliche – Eventualität angesehen, dass der Forumsprozess in Indien in einer Katastro-phe enden würde.

Im WSF haben die Organisatoren gezögert, die Wege auszukundschaften, wie das Internet bei der Organisation formaler Entscheidungsstrukturen ge-nutzt werden kann. Peter Waterman hat einsichtsvoll und provokativ argu-mentiert, dass das WSF »die Medien, die Kultur und den Cyberraum zwar nutzt, aber über sich selbst nicht hauptsächlich in kulturellen/kommunikati-ven Begriffen nachdenktund auch nicht voll in diesem immer zentraleren und unendlich expandierenden Universum lebt«.12Seit dem Treffen des Internatio-nalen Rats in Miami im Juni 2003 gibt es allerdings eine etwas bewusstere Nut-zung des Internets in den verschiedenen Projekten der Organe des WSF.

Von den Treffen in Porto Alegre zu einem transnationalen Prozess

Für viele sind die steigenden Teilnehmerzahlen einer der wichtigsten Trümp-fe des WSF gewesen. Das Forum 2003 zählte über 20 000 offizielle Delegierte und knapp 100 000 TeilnehmerInnen. Manche haben jedoch den Eindruck, dass das zu einer Atomisierung des Dialogs geführt hat.13 Michael Albert schlägt (in seinem Beitrag im vorliegenden Band) vor, dass das zentrale

jährli-12 Waterman 2003.

13 Savio Januar 2003b.

che WSF-Treffen 5 000 bis 10 000 TeilnehmerInnen haben sollte – und zwar Delegierte von den wichtigsten Regionalforen der Welt.

Der Hauptmechanismus für die Globalisierung des Forums sind die regio-nalen und thematischen Foren gewesen, die in verschiedenen Teilen der Welt abgehalten worden sind. Die wichtigste unter ihnen waren das thematische Forum über den Neoliberalismus in Argentinien im August 2002, das Eu-ropäische Sozialforum in Florenz im November 2002 und in Paris im Novem-ber 2003, das Asiatische Sozialforum in Hyderabad in Indien im Januar 2003, das Mediterrane Sozialforum in Barcelona und auf Zypern im Frühjahr 2004 und das thematische Forum zu Drogen, Menschenrechten und Demokratie in Cartagena, Kolumbien, im Juni 2003. Diese Foren sind Teil des halboffiziellen Kalenders, der durch das Organisationskomitee/Sekretariat und den Interna-tionalen Rat geführt wird.

Manchmal hat es Spannungen zwischen den WSF-Leitungskörperschaften und den Organisatoren der anderen Foren gegeben. So widersprachen beim Treffen des Internationalen Rates 2002 in Bangkok die Brasilianer unter Beru-fung auf die Prinzipiencharta vehement den Plänen der italienischen Organi-satoren, politische Parteien zur formalen Teilnahme am WSF einzuladen. Die italienischen Delegierten reagierten, indem sie das brasilianische Organisa-tionskomitee angesichts der Sichtbarkeit der Arbeiterpartei bei allen Porto Alegre-Foren der Heuchelei bezichtigten. Eine andere Kontroverse gab es während der Organisation einer Veranstaltung des Sozialforums im Oktober 2002 in Quito in Ecuador, auf dem die Freihandelszone der Amerikas (FTAA) im Mittelpunkt stand. Das wurde von den Mitgliedern des Internationalen Ra-tes als thematisch und organisatorisch zu eng empfunden.

Diese Kontroversen sind Beispiele für die organisatorischen Probleme, die das WSF in seinem Prozess der geographischen und thematischen Expansion gewärtigen muss. Während es genügend Gründe gibt, die Kohärenz des Pro-zesses und einige seiner grundsätzlichen Regeln zu bewahren, damit sich das WSF nicht einfach in Luft auflöst, muss doch zugleich gesehen werden, dass zu viel Kontrolle durch den Internationalen Rat und das Sekretariat die Kreati-vität der Verantwortlichen für die regionalen Ereignisse einschränken könnte.

Abgesehen von den auf der halboffiziellen Liste der regionalen und thema-tischen Foren erfassten Veranstaltungen haben Tausende von lokalen Ereig-nissen unter dem WSF-Banner stattgefunden, obwohl sie keinerlei offizielle Anerkennung fanden. Ihre Vermehrung ist eines der lebendigsten Zeichen, dass der WSF-Prozess tatsächlich expandiert, obwohl sie die Versuche ver-kompliziert, das WSF als eine Bewegung der Bewegungen mit einer mehr oder weniger klar definierten politischen Strategie zu sehen.

Wie politisch sein und doch nicht politisch

Das WSF bietet einen Platz für Akteure, Projekte in lokalen und globalen

Zusammenhängen aufzubauen. Die Organisatoren, die diese Rolle betonen, glauben, dass das WSF es vermeiden sollte, Unterstützungserklärungen für irgendeinen bestimmten politischen Prozess abzugeben. Wie von Cândido Grzybowski bemerkt, ist »politische Aktion die Verantwortung jedes Indivi-duums und der Koalitionen, die sie bilden, und nicht ein Attribut des Fo-rums«.14Chico Whitaker argumentiert im vorliegenden Band für eine klarere Unterscheidung zwischen dem Forum als Raum und dem Forum als gung und kritisiert in diesem Zusammenhang »selbsternannte soziale Bewe-gungen«, die »versuchen, das Forum in ihre eigene Mobilisierungsdynamik einzubauen, um ihren eigenen Zielen zu dienen«.

Für manche sind die verschiedenen Identitäten des WSF nicht unvereinbar:

Es ist möglich, gleichzeitig Arena und Akteur zu sein. Auf der Grundlage der Diskussionen im Internationalen Rat und auf den Forumseiten habe ich persönlich das Gefühl, dass es wachsenden Druck gibt, den augenblicklichen Widerstand gegen die Verabschiedung politischer Verlautbarungen zu über-winden.

Manche in den regierenden Organen des WSF neigen jedoch zu der Auf-fassung, dass das WSF gerade nicht ins Auge fassen sollte, ein politischer Ak-teur zu werden, da es keine internen Prozeduren für eine demokratische kol-lektive Willensbildung hat. Andere meinen, dass der bessere Weg darin be-stünde, Mechanismen für demokratische Teilhabe innerhalb der politischen Architektur des Forums zu schaffen. Sobald vernünftig transparente und de-mokratische Mechanismen etabliert worden seien, könne das WSF sich auf le-gitimere Weise als kollektive Bewegung ausdrücken.

Tatsächlich wird der Unwille, politische Stellungnahmen zu formulieren, immer wieder unter denjenigen Organisatoren und anderen Akteuren hinter-fragt, die es gerne sähen, dass das WSF zu Themen wie etwa den Krisen in Ar-gentinien, Palästina und Venezuela einen Standpunkt bezieht. Beim Treffen des Internationalen Rates in Bangkok im August 2002 argumentierten Walden Bello und andere, dass der Rat eine öffentliche Erklärung verabschieden solle, mit der die Bewegungen auf der ganzen Welt ermutigt werden würden, an den für das WTO-Treffen in Cancún im September 2003 geplanten Protesten teilzunehmen. Auf dem Ratstreffen im Januar 2003 sprachen sich verschiede-ne Delegierte everschiede-nergisch dafür aus, eiverschiede-ne öffentliche Erklärung gegen den be-vorstehenden Krieg im Irak abzugeben. In beiden Fällen lautete die anschei-nend im Konsens getroffene Entscheidung des Rates, keine derartige Er-klärung abzugeben. Es ist jedoch klar, dass es dazu in der nahen Zukunft in-tensivere Debatten geben wird.

Eine Art, politisches Stillschweigen zu vermeiden, ohne die Prinzipien der Charta zu vergewaltigen, ist es, Prozesse zu vereinfachen, mittels derer am

14 Grzybowski Januar 2003.

WSF teilnehmende Organisationen politische Erklärungen abgeben. Idealer-weise würden die meisten teilnehmenden Organisationen solche Erklärungen unterzeichnen, die einen mächtigen politischen Einfluss haben könnten. Bis jetzt sind die Erklärungen der sozialen Bewegungen, die während des WSF produziert wurden, nicht weit verteilt worden, und daher ist ihr Einfluss relativ gering geblieben. Dennoch haben sie Kontroversen zwischen den WSF-Organisatoren ausgelöst. Selbst wenn diese Erklärungen nicht vorgeben, das WSF als Ganzes zu repräsentieren, fürchtet Chico Whitaker, dass die Medien sie als semi-offizielle Beschlüsse behandeln könnten. Das kann dann natürlich zum politischen Streit darüber führen, wessen Belange in den Erklärungen berücksichtigt werden.

Aufnahmen und Ausschlüsse

Die interne Politik des WSF hat ihren Ausdruck auch darin gefunden, welchen verschiedenen Gruppen während des WSF welche Plätze gegeben worden sind. Rassistische Spannungen schufen besonders während des ersten Forums einige interne Kontroversen.15Die »Weißheit« des Forums hat einen latenten Rassismus zur Folge – wobei daran erinnert werden muss, dass Rio Grande do Sul einer der wenigen Teile von Lateinamerika ist, wo die meisten Einwohner hellhäutige Leute europäischen Ursprungs sind. Auch Spannungen zwischen den Geschlechtern konnten beobachtet werden. Obwohl es keinen großen Un-terschied zwischen den Geschlechtern gibt, was die TeilnehmerInnenzahlen angeht, besteht das brasilianische Organisationskomitee hauptsächlich aus Männern mittleren Alters. Im Internationalen Rat haben RepräsentantInnen feministischer Organisationen eine sichtbarere Rolle gespielt, und die Ge-schlechterthematiken sind – wenn auch etwas am Rande – in das Programm aufgenommen worden. Es hat auch andere Kontroversen über Hierarchien und Ausschlüsse im WSF gegeben – zum Beispiel, was den Berühmtheitsgrad einzelner TeilnehmerInnen oder den Status bewaffneter Gruppen anging.

Selbst wenn nicht abzusehen ist, ob das WSF eine aktivere politische Einheit mit entwickelten inneren Willensbildungsmechanismen werden wird, scheint klar zu sein, dass bis jetzt der wichtigste Einfluss des Forums auf demokrati-sche Projekte aus den Begegnungen zwidemokrati-schen verschiedenen Gruppen und AktivistInnen in seinem Rahmen erwachsen ist. In puncto Geographie sind die meisten TeilnehmerInnen aus Lateinamerika und aus Südeuropa gekom-men, aber es sind zielgerichtete Anstrengungen unternommen worden, die Teilnahme von Menschen aus Asien, Afrika und anderen Teilen Lateinameri-kas zu erleichtern. Der Prozess hat in Indien, wo das WSF 2004 stattgefunden

Selbst wenn nicht abzusehen ist, ob das WSF eine aktivere politische Einheit mit entwickelten inneren Willensbildungsmechanismen werden wird, scheint klar zu sein, dass bis jetzt der wichtigste Einfluss des Forums auf demokrati-sche Projekte aus den Begegnungen zwidemokrati-schen verschiedenen Gruppen und AktivistInnen in seinem Rahmen erwachsen ist. In puncto Geographie sind die meisten TeilnehmerInnen aus Lateinamerika und aus Südeuropa gekom-men, aber es sind zielgerichtete Anstrengungen unternommen worden, die Teilnahme von Menschen aus Asien, Afrika und anderen Teilen Lateinameri-kas zu erleichtern. Der Prozess hat in Indien, wo das WSF 2004 stattgefunden

Im Dokument Rosa-Luxemburg-Stiftung Texte 15 (Seite 174-184)