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Auf zu einem anderen Anarchismus 1

Im Dokument Rosa-Luxemburg-Stiftung Texte 15 (Seite 72-82)

Ein Freund schrieb vor kurzem: »Niemand braucht noch einen anderen ›Is-mus‹ aus dem 19. Jahrhundert, noch ein Wort, das einsperrt und die Bedeu-tung festlegt; noch ein anderes Wort, das eine gewisse Zahl von Leuten ver-führt, sich selbst in die Klarheit und die Bequemlichkeit einer sektiererischen Schachtel zu flüchten, und andere vor das Exekutionskommando oder einen Schauprozess bringt. Etiketten führen so leicht zu Fundamentalismus, Prä-gungen brüten zwangsläufig Intoleranz aus, grenzen Doktrinen voneinander ab, definieren Dogmen und beschränken die Möglichkeit zur Veränderung.«

Es ist schwer, mit solchen Formulierungen nicht einverstanden zu sein.

Dennoch will ich hier einen »Ismus« diskutieren, der die vorherrschende Per-spektive der heutigen post-marxistischen globalen sozialen Bewegung ist: An-archismus. Ich beginne mit einer kurzen Geschichte des Anarchismus, um dann ein Modell des modernen Anarchismus und die strategischen Schluss-folgerungen vorschlagen zu können, die aus der Annahme eines solchen Mo-dells folgen.

1 Ich danke meinen Freunden David Graeber, Uri Gordon und Michael Albert. Jede der jetzt folgenden Ideen könnte auch von einem von ihnen erfunden sein.

Ich stelle fest, dass diese Idee des Anarchismus die Sensibilität der »Bewe-gung der Bewe»Bewe-gungen«, deren Teilnehmer wir sind, erhöht hat. Heute stellt das ethische Paradigma des Anarchismus die grundlegende Inspiration unse-rer Bewegung dar, der es weniger darum geht, die Staatsmacht zu ergreifen, als darum, die Mechanismen der Herrschaft bloßzustellen, zu delegitimieren und abzubauen und gleichzeitig immer größere Freiräume von ihr zu gewin-nen.

Ich neige dazu, mit denen übereinzustimmen, die den Anarchismus als eine Tendenz in der Geschichte des Denkens und der Praxis sehen, die nicht von einer allgemeinen Theorie der Ideologie umfasst werden kann, eine Tendenz, die – indem sie die Frage ihrer Legitimität stellt – zwanghafte und autoritäre hierarchische soziale Strukturen identifiziert. Wenn diese Strukturen dieser Herausforderung nicht begegnen können – und das ist normalerweise so –, dann wird Anarchismus zu dem Bestreben, ihre Macht einzugrenzen und den Raum der Freiheit auszudehnen.

Der Anarchismus ist ein soziales Phänomen, und sowohl sein Inhalt als auch seine Äußerungen in politischer Aktivität ändern sich mit der Zeit. An-ders als alle wichtigen Ideologien kann der Anarchismus nie eine stabile und andauernde Existenz auf einem Terrain haben, in dem er an Regierungen teil-hat oder Teil eines Parteisystems ist. Seine Geschichte und gegenwärtigen Charakteristika sind von einem anderen Faktor bestimmt – von den Zyklen des politischen Kampfes. Daher hat der Anarchismus »generationelle« Ten-denzen, in ziemlich diskreten historischen Phasen, je nach der Periode des Kampfes, in der sie geformt wurden und identifiziert werden konnten. Wie jeder Versuch zur Konzeptualisierung kann dies eine Vereinfachung sein. Aber ich hoffe, dass sie zum Verständnis dieses sozialen Phänomens beitragen kann.

Historisch wurde die erste Phase des Anarchismus durch die Klas-senkämpfe des späten 19. Jahrhunderts in Europa geformt, beispielhaft darge-stellt sowohl theoretisch als auch praktisch durch die Bakunin-Fraktion in der Ersten Internationale. Sie begann in der Vorbereitung von 1848, gipfelte mit der Pariser Kommune von 1871 und schwand während der 80er Jahre des 19. Jahrhunderts dahin. Es war eine embryonale Form des Anarchismus, der antistaatliche Tendenzen, Antikapitalismus und Atheismus mischte, während er gleichzeitig weiterhin stark vom gelernten städtischen Proletariat als Agen-ten abhing. Bakunin, der großartige Träumer, »kein Mensch, sondern Dyna-mit«, der im Jahre 1848 ausrief, »Beethovens Neunte sollte vor den kommen-den Feuern der Weltrevolution um kommen-den Preis des eigenen Lebens gerettet wer-den!«, hinterließ uns eine der schönsten und vielleicht stichhaltigsten Be-schreibungen der einzigen Leitidee innerhalb der anarchistischen Bewegung:

»Ich bin ein fanatischer Liebhaber der Freiheit und betrachte sie als die einzi-ge Umeinzi-gebung, in der Intellieinzi-genz, Würde und menschliches Glück sich

ent-wickeln und wachsen können; nicht die reine formale Freiheit, die durch den Staat gewährt, bemessen und reguliert wird, eine ewige Lüge, die in Realität nicht mehr ist als das Privileg einiger, auf der Sklaverei der vielen gegründet;

nicht die individualistische, egoistische, schäbige und fiktive Freiheit, die von der Schule von J. J. Rousseau und anderen Schulen des bourgeoisen Liberalis-mus hoch gelobt wird, die gewünschte Rechte aller Menschen betrachten, durch den Staat vertreten, der die Rechte jeder/s Einzelnen einschränkt – eine Idee, die unweigerlich zur Reduzierung der Rechte jedes Einzelnen auf Null führt. Nein, ich meine die einzige Art Freiheit, die diesen Namen verdient;

Freiheit, die aus der vollen Entwicklung aller materiellen, intellektuellen und moralischen Mächte besteht, die in jeder Person latent sind; Freiheit, die keine anderen Einschränkungen als die durch die Gesetze unserer eigenen indivi-duellen Natur anerkennt, die nicht wirklich als Einschränkungen angesehen werden können, da diese Gesetze nicht durch irgendeinen äußeren Gesetzge-ber neben oder üGesetzge-ber uns erlassen werden, sondern immanent und innerlich sind, die eigentliche Grundlage unseres materiellen, intellektuellen und mora-lischen Seins – sie beschränken uns nicht, sondern sind die realen und unmit-telbaren Bedingungen unserer Freiheit.«2

Die zweite Phase, von den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts bis zum russi-schen Bürgerkrieg sich erstreckend, war durch einen bedeutenden Ruck nach Osteuropa gekennzeichnet und hatte daher mehr eine agrarische Orientie-rung. Kropotkins Anarchokommunismus war, was die Theorie anging, das dominierendste Merkmal. Diese Phase gipfelt im Wirken der Machno-Armee während der Russischen Revolution und führt nach dem Sieg der Bolschewi-ki in eine osteuropäische Untergrundströmung.

Die dritte Phase von den 20er bis zu den späten 40er Jahren des 20. Jahr-hunderts war auf das industriell orientierte Zentral- und Westeuropa konzen-triert. Dies war der Gipfelpunkt anarchosyndikalistischer Theorie, für den die russischen Emigranten die meiste Arbeit leisteten. Zu diesem Augenblick ist die Unterscheidung zwischen zwei Grundtraditionen in der Geschichte des Anarchismus klar sichtbar geworden: anarchokommunistisch mit, sagen wir, Kropotkin als Repräsentanten; und andererseits Anarchosyndikalismus, der anarchistische Ideen einfach als den richtigen Organisationsmodus für hoch-komplexe, fortgeschrittene Industriegesellschaften betrachtete. Und diese Ten-denz des Anarchismus fließt zusammen mit – oder verhält sich zu – einer Viel-zahl linker marxistischer Strömungen: der Art, die man zum Beispiel bei den Rätekommunisten findet, die aus der Tradition von Rosa Luxemburg wuchsen und die später auf sehr aufregende Weise durch marxistische Theoretiker wie Anton Pannekoek vertreten wurden.

2 Bakunin 1970.

Nach dem Zweiten Weltkrieg erlitt der Anarchismus aufgrund des wirt-schaftlichen Wiederaufbaus einen tiefen Niedergang und kam nur am Rande in den antiimperialistischen Kämpfen im Süden hoch, die jedoch weitgehend von prosowjetischen Einflüssen dominiert wurden.

Die Kämpfe der 60er und 70er Jahre brachten keinen bedeutenden Aufstieg des Anarchismus, der immer noch den Ballast seiner Geschichte trug und noch nicht in der Lage war, eine neue, nicht klassenorientierte politische Spra-che anzunehmen. Also waren anarchistisSpra-che Neigungen in vielen verschiede-nen Gruppen anzutreffen: von der Antikriegsbewegung über den Feminis-mus, den Situationismus bis zur Black Power-Bewegung, aber es gab nichts, das positiv als Anarchismus definiert werden konnte. Ausgesprochen »anar-chistische« Gruppen in dieser Periode waren mehr oder weniger eine Neu-auflage der vorigen zwei Stadien (kommunistisch und revolutionär syndika-listisch) und ziemlich sektiererisch. Statt sich mit diesen neuen Formen des politischen Ausdrucks zu befassen, verschlossen sie sich ihnen gegenüber und nahmen gewöhnlich sehr strenge Programme an, so die Anarchisten der

»plattformistischen« Machno-Tradition. Diese vierte Generation des Anarchis-mus war eine »Geister«generation.

Augenblicklich gibt es zwei koexistierende Generationen im Anarchismus:

Menschen, deren politische Prägung in den 60er und 70er Jahren stattfand (im Grunde eine Reinkarnation der zweiten und dritten Generation) und junge Leute, die unter anderem viel mehr durch lokales, feministisches, ökologi-sches und kulturkritiökologi-sches Denken beeinflusst sind. Erstere existieren in ver-schiedenen anarchistischen Föderationen: zum Beispiel in der der Industriear-beiterInnen der Welt, in der Internationalen Arbeiterassoziation, in der Nordost-Fö-deration der Anarchokommunisten. Letztere sind mehr in den Netzwerken der neuen sozialen Bewegungen engagiert. Von meiner Warte aus ist die Peoples’

Global Actionder Hauptausdruck der augenblicklichen fünften Generation des Anarchismus.

Ein manchmal verwirrendes Kennzeichen des augenblicklichen Anarchis-mus ist, dass seine individuellen Anhänger und Gruppen sich selbst üblicher-weise nicht »Anarchisten« nennen. Es gibt einige, die anarchistische Prinzipi-en des Anti-Sekteriertums und des offPrinzipi-enPrinzipi-en Endes für DiskussionPrinzipi-en so ernst nehmen, dass sie manchmal gerade aus diesem Grund davor zurück-schrecken, sich Anarchisten zu nennen. Aber die drei Wesensmerkmale, die sich durch alle Äußerungen der anarchistischen Ideologie ziehen, sind defini-tiv gegeben. Es sind dies: Anti-Etatismus, Antikapitalismus und präfiguradefini-tive Politik, oder, mit anderen Worten: Organisationsmodi, die bewusst die Welt vorwegnehmen, die geschaffen werden soll. Ein anarchistischer Historiker der Revolution in Spanien hat dies bezeichnet als »einen Versuch, sich nicht nur die Ideen, sondern auch die Fakten der Zukunft selbst auszudenken«. Das zeigt sich in allen Gruppierungen – von Jam-Kollektiven bis Indymedia –, die

alle darin anarchistisch genannt werden können, dass wir uns auf eine neue Form beziehen. Es besteht nur eine lose Verbindung zwischen den beiden ko-existierenden Generationen, und zwar hauptsächlich die, dass die eine dem folgt, was die andere tut – aber nicht viel mehr.

Das Hauptdilemma, das den gegenwärtigen Anarchismus durchdringt, ist das zwischen traditionellen und modernen Konzeptionen des Anarchis-mus. In beiden Fällen erleben wir einen »Ausbruch aus der Tradition«. Ich denke, dass die »traditionellen Anarchisten« die Tradition nicht voll verstan-den haben.

Der Begriff der »Tradition« kann in der Ideengeschichte auf zwei verschiede-ne Arten verstanden werden. Eiverschiede-ne Art – vielleicht die üblichere – besteht darin, dass eine gewisse Vergangenheit als vollständige Struktur angenommen wird, die nicht verändert werden kann oder sollte, sondern in ihrem festen Zustand aufbewahrt und unverändert in die Zukunft weitergegeben wird. Solch ein Ver-ständnis der Tradition hängt mit dem Teil der menschlichen Natur zusammen, der als konservativ bezeichnet wird und zu stereotypem Verhalten neigt – Freud würde sogar sagen: zum »Zwang zur Wiederholung«. Die andere Bedeutung der Tradition, für die ich hier argumentiere, hängt mit der neuen, kreativen Art zusammen, eine historische Erfahrung wieder zu beleben. Diese positive Art, Vergangenheit zu vermitteln, hat mit der anderen Seite der menschlichen Natur zu tun, die hier provisorisch einmal revolutionär genannt werden soll – revolutionär im Sinne eines Willens zur Veränderung bei einem gleichzeitig existierenden gesunden Bedürfnis, zu bleiben wie man ist.

Eine andere »Flucht vor der Tradition« sucht Zuflucht in verschiedenen

»postmodernen« Interpretationen des Anarchismus. Ich denke, dass – um Max Weber zu zitieren – die Zeit für eine gewisse »Ernüchterung« vom Anar-chismus gekommen ist, für ein Aufwachen vom Traum des postmodernen Ni-hilismus, des Antirationalismus, des Neo-Primitivismus, des kulturellen Ter-rorismus, der »Simulakra«. Es ist Zeit, den Anarchismus in den intellektuellen und politischen Zusammenhang des Aufklärungsprojekts zurückzustellen, das nichts anderes ist als das Verständnis, dass »objektives Wissen ein Werk-zeug ist, das genutzt werden sollte, so dass Individuen selbstständig aufgrund von Information Entscheidungen treffen können«. Die Vernunft – das ist die Aussage des berühmten Goya-Bildes – schafft Monster nicht, wenn sie träumt, sondern wenn sie schläft.

Heutzutage ist ein Dialog zwischen verschiedenen Generationen im mo-dernen Anarchismus notwendig, da er von ungezählten Widersprüchen durchtränkt ist. Es reicht nicht, uns der Gewohnheit der Mehrheit der zeit-genössischen anarchistischen Denker zu ergeben, die auf Dichotomien beste-hen. Es wäre gut, die Ausschließlichkeit des Entweder-Oder-Denkens aufzu-geben, sich in Diskussion zu engagieren und nach einer Synthese zu suchen.

Ist eine solche Synthese möglich? Ich denke, ja.

Ein neues Modell des modernen Anarchismus, das in den neuen sozialen Bewegungen ausgemacht werden kann, ist eines, das die Betonung auf die Ausweitung des antiautoritären Blickwinkels legt und auch auf die Aufgabe des Klassenreduktionismus. Ein solches Modell bemüht sich, die »Totalität der Herrschaft« zu erkennen: »Um nicht nur den Staat, sondern auch die Ge-schlechterbeziehungen zu unterstreichen, nicht nur die Wirtschaft, sondern auch kulturelle Beziehungen und Ökologie, Sexualität und Freiheit, in jeder Form, in der sie gesucht werden, und jede nicht nur durch das Einzelprisma herrschaftlicher Beziehungen, sondern auch aufgrund von Information über reichere und diversere Konzepte. Dieses Modell macht nicht nur die Techno-logie nicht schlecht, sondern beschäftigt sich mit verschiedenen Technolo-gietypen und nutzt sie in angemessener Weise. Es beklagt nicht nur Institutio-nen oder politische Formen per se, sondern versucht, neue InstitutioInstitutio-nen und neue politische Formen des Aktivismus für eine neue Gesellschaft, einschließ-lich neuer Arten des Zusammenkommens, neuer Formen der Entscheidungs-findung, neuer Wege der Koordinierung und so weiter, seit neuestem ein-schließlich revitalisierter Affinitätsgruppen und origineller Sprechstrukturen zu schaffen. Und es kritisiert Reformen nicht nur per se, sondern es kämpft um die Definition und den Gewinn nicht-reformistischer Reformen, die unmittel-bare Bedürfnisse der Menschen berücksichtigen und das Leben der Menschen jetzt verbessern und auch Bewegung in Richtung von zukünftigen Gewinnen und letztendlich Gewinnen an Umgestaltung in der Zukunft schaffen.«3

Der Anarchismus kann nur effektiv werden, wenn er drei wesentliche Kom-ponenten enthält: Arbeiterorganisationen, AktivistInnen und ForscherInnen.

Wie kann man eine Basis für einen modernen Anarchismus auf intellektuel-lem, Gewerkschafts- und dem Niveau des Volkes schaffen? Es gibt verschie-dene Ideen zu einer Art des Anarchismus, der fähig wäre, die oben erwähnten Werte zu fördern.

Zunächst einmal muss der Anarchismus reflexiv werden, in dem Sinne, dass der intellektuelle Kampf seinen Platz im modernen Anarchismus wieder behaupten muss. Eine der Hauptschwächen der anarchistischen Bewegung heute im Vergleich zur Zeit von, sagen wir, Kropotkin oder Recluse oder Her-bert Read, ist genau die Vernachlässigung des Symbolischen und ein Verwei-sen der Effektivität von Theorie an den Spielfeldrand.

Anstatt dass die Anarchisten das berühmte postmoderne marxistische Mär-chen Empire kritisieren, sollten sie ein anarchistisches »Imperium« schreiben.

Der religiöse Marxismus hat sich für lange Zeit auf die Theorie bezogen und sich dadurch ein wissenschaftliches Erscheinungsbild und die Möglichkeit ge-geben, als Theorie zu agieren. Heute erfordert der Anarchismus die Überwin-dung beider Extreme, des Anti-Intellektualismus und des Intellektualismus.

3 Albert 2002.

Wie Noam Chomsky habe auch ich für beide weder Sympathie noch Geduld.

Ich denke, dass es keine Opposition zwischen Wissenschaft und Anarchismus geben sollte: »Innerhalb der anarchistischen Tradition hat es ein gewisses Ge-fühl gegeben, dass es mit der Wissenschaft selbst etwas Reglementiertes oder Unterdrückendes auf sich hat. Aber ich kenne kein Argument für Irrationa-lität, ich denke nicht, dass die wissenschaftlichen Methoden auf mehr heraus-laufen als einfach vernünftig zu sein, und ich sehe keinen Grund, warum An-archisten nicht vernünftig sein sollten.«4

Wie Chomsky habe ich noch weniger Geduld für eine fremde Tendenz, die sich, in verschiedenen Formen, im Anarchismus selbst ausbreitet: »Es frap-piert mich als bemerkenswert, dass die linken Intellektuellen heutzutage die unterdrückten Völker nicht nur der Freuden des Verständnisses und der Ein-sicht, sondern auch der Werkzeuge der Emanzipation berauben, sie informie-ren uns, dass das Projekt der Aufklärung tot ist, dass wir die Illusion von Wis-senschaft und Rationalität aufgeben sollen – eine Nachricht, die die Herzen der Mächtigen erfreuen wird.«5

Vor uns liegt die Aufgabe, uns den/die anarchistische(n) Forscher(in) vor-zustellen? Sie würde sicherlich keine Vorträge halten, wie es die alten linken Intellektuellen tun. Er sollte kein Lehrer sein, sondern jemand, der sich eine neue und sehr schwierige Rolle vorstellen kann: Er muss hören, herausfinden und entdecken. Ihre Rolle würde es sein, die hinter den angeblich objektiven Diskursen versteckten Interessen der dominierenden Eliten aufzudecken.

Sie soll AktivistInnen helfen und sie mit Fakten versehen. Es ist notwendig, eine neue Form der Kommunikation zwischen AktivistInnen und aktiven WissenschaftlerInnen zu erfinden. Es ist notwendig, ein kollektives Instru-ment zu schaffen, das libertäre WissenschaftlerInnen, ArbeiterInnen und Akti-vistInnen verbinden würde. Es ist notwendig, anarchistische Institute, Zeit-schriften, wissenschaftliche Gemeinschaften und Internationalen (so wie das Pan Netzwerk) zu gründen. Ich denke, dass das Sektierertum – unglücklicher-weise ein sehr weit verbreitetes Phänomen im modernen Anarchismus – auf diese Weise an Macht verlieren würde. Einer der organisierten Versuche, dem Sektierertum im modernen Anarchismus entgegenzuwirken, ist der folgende Entwurf für eine neue anarchistische Internationale:

Entwurf

Die Anarchistische Internationale ist eine Initiative, die dazu dient, den Anar-chistInnen in allen Teilen der Welt ein Forum zu bieten, wo sie ihre Solidarität miteinander aussprechen, Kommunikation und Koordinierung untereinander verbessern, aus ihren jeweiligen Bemühungen und Erfahrungen lernen und eine mächtigere anarchistische Stimme und Perspektive in der radikalen

Poli-4 Chomsky 1992.

5 Ebenda.

tik überall fördern können – dies aber in einer Form, die alle Spuren von Sek-tierertum, Avantgardismus und revolutionärem Elitismus zurückweist.

Wir sehen den Anarchismus nicht als eine im Europa des 19. Jahrhunderts erfundene Philosophie, sondern vielmehr als die wahre Theorie und Praxis der Freiheit – der wirklichen Freiheit, die nicht auf den Rücken von anderen aufgebaut wird: einem Ideal, das unendlich oft wieder entdeckt, erträumt und für das auf allen Kontinenten und in jeder Periode der Geschichte gekämpft worden ist. Der Anarchismus wird immer tausend Stränge haben, da Vielfalt immer ein Teil der Substanz der Freiheit sein wird, aber solidarische Netz-werke zu gründen, kann sie alle mächtiger machen.

Unsere Kennzeichen sind:

1) Wir sind AnarchistInnen, weil wir glauben, dass menschliche Freiheit und Glück am besten von einer Gesellschaft garantiert sein würden, die auf Prinzipien der Selbstorganisation, des freiwilligen Zusammenschlusses und der gegenseitigen Hilfe beruht, und weil wir alle Formen der gesellschaftli-chen Beziehungen ablehnen, die auf systemimmanenter Gewalt beruhen, wie den Staat oder den Kapitalismus.

2) Wir sind jedoch fundamental anti-sektiererisch, worunter wir zwei Din-ge verstehen:

a) Wir versuchen nicht, eine bestimmte Form des Anarchismus der anderen aufzuzwingen: plattformistisch, syndikalistisch, primitivistisch, revolutionär oder irgendeine andere. Auch wollen wir niemanden auf dieser Basis aus-schließen – wir schätzen die Vielfalt als ein Prinzip an sich, nur begrenzt von unserer gemeinsamen Ablehnung von Herrschaftsstrukturen wie Rassismus, Sexismus, Fundamentalismus etc.

b) Da wir den Anarchismus nicht so sehr als Doktrin, sondern vielmehr als einen Prozess der Bewegung in Richtung auf eine freie, gerechte und nachhal-tige Gesellschaft sehen, denken wir, dass Anarchisten sich nicht darauf be-schränken sollten, mit denen zusammenzuarbeiten, die sich selbst als Anar-chisten sehen, sondern aktiv versuchen sollten, mit allen zu kooperieren, die daran arbeiten, eine Welt zu schaffen, die auf denselben breit gefassten Befrei-ungsprinzipien beruhen würde, und wirklich voneinander zu lernen. Einer der Zwecke der Internationale ist, dies zu erleichtern: sowohl, um es einfacher für uns zu machen, einige dieser Millionen auf der ganzen Welt, die im Grun-de Anarchisten sind, ohne es zu wissen, in Berührung mit Grun-den Gedanken an-derer zu bringen, die in dieselbe Richtung hin gearbeitet haben, und

b) Da wir den Anarchismus nicht so sehr als Doktrin, sondern vielmehr als einen Prozess der Bewegung in Richtung auf eine freie, gerechte und nachhal-tige Gesellschaft sehen, denken wir, dass Anarchisten sich nicht darauf be-schränken sollten, mit denen zusammenzuarbeiten, die sich selbst als Anar-chisten sehen, sondern aktiv versuchen sollten, mit allen zu kooperieren, die daran arbeiten, eine Welt zu schaffen, die auf denselben breit gefassten Befrei-ungsprinzipien beruhen würde, und wirklich voneinander zu lernen. Einer der Zwecke der Internationale ist, dies zu erleichtern: sowohl, um es einfacher für uns zu machen, einige dieser Millionen auf der ganzen Welt, die im Grun-de Anarchisten sind, ohne es zu wissen, in Berührung mit Grun-den Gedanken an-derer zu bringen, die in dieselbe Richtung hin gearbeitet haben, und

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