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Die Geschichte der zwei Charten

Im Dokument Rosa-Luxemburg-Stiftung Texte 15 (Seite 120-125)

Wegen eines menschlichen Versagens existieren heute zwei Prinzipiencharten des Weltsozialforums.

Im April 2001 bereiteten die acht brasilianischen Organisationen, die das erste WSF in Porto Alegre im Januar 2001 zusammengerufen hatten, eine Prin-zipiencharta für ihre Initiative vor und publizierten sie.1Im frühen Juni 2001 riefen sie, um »das Forum auf die Weltebene zu bringen«, ein erstes Treffen des Beirats zusammen, der dann in »Internationaler Rat« umbenannt wurde.2 Am 10. Juni 2001 billigte und veröffentlichte die neue Körperschaft eine etwas revidierte Prinzipiencharta.3

Im frühen Januar 2002 rief Vijay Pratap von der zivilen Organisation Va-sudhaiva Kutumbakammit Sitz in New Delhi zu einer ersten nationalen Kon-sultation über das WSF in Indien auf. Dies folgte auf ein vorläufiges Treffen, das Mitte Dezember 2001 in Bangalore stattgefunden hatte. Zusammen mit seiner Einladung gab er eine Kopie der Prinzipiencharta des Forums in Um-lauf. Alles zusammen erging an mehrere Hundert Organisationen, Netzwerke und Individuen, hauptsächlich in Indien, aber auch anderen Ländern in Süd-asien – in Bangladesh, Nepal, Pakistan und Sri Lanka.

Das Dokument, das Pratap am 1. Januar 2002 in Umlauf gebracht hatte, wurde dann logischerweise die Basis ausführlicher Diskussionen zum Forum in Indien, da es der Rahmen war, den die Autoren der Initiative geliefert hat-ten. Über die nächsten sechs Monate hinweg wurde es in Indien in mehrere Sprachen übersetzt und von mehreren Organisationen im Laufe der

Diskus-1 ABONG, ATTAC, CBJP und andere, April 2001; siehe das Dokument im vorliegenden Band, S. 115.

2 Weltsozialforum, Brasilianisches Organisationskomitee, August 2002.

3 Weltsozialforum, Organisationskomitee, Juni 2001; siehe das Dokument im vorliegenden Band, S. 118.

sion und Mobilisierungsarbeit um das Forum herum veröffentlicht – als Teil dessen, was in Indien »WSF-Indien-Prozess« genannt wurde: eines Planes zur groß angelegten Mobilisierung und zur Bewusstseinserhöhung um und durch das WSF als Idee.4Indien ist ein großes Land, mit einer sehr großen Zahl sozi-al und politisch aktiver Organisationen und Individuen. Daher erreichte das Dokument – in verschiedenen Formen – wahrscheinlich Zehntausende von Menschen im Land.

Die Verantwortlichen für den WSF-Prozess in Indien kamen zu der Schlus-sfolgerung, dass die Prinzipiencharta, so wie sie vor ihnen lag, die sozialen und politischen Bedingungen im Land nicht voll berücksichtigte und dass das Englisch des Originals, das sie erhalten hatten, auch einige Probleme aufwies.

Sie beschlossen daher, die Charta zu überarbeiten, um sie an lokale Umstände und Sprachgebrauch anzupassen. Nach einigen Monaten der Diskussion ga-ben sie ein Papier mit dem Titel »Politische Erklärung des WSF Indien: Prinzi-piencharta – WSF Indien« heraus.5

Dieses modifizierte Dokument auf der Grundlage der Hauptcharta wurde in Indien im Laufe des Jahres 2002 gemeinsam mit der Hauptcharta weit ver-breitet und während der Mobilisierung für das Asiatische Sozialforum im Ja-nuar 2003 und mit Hinblick auf die Abhaltung des Welttreffens des Forums in Indien im Januar 2004 zur Debatte gestellt. Es wurde auch auf die Website des WSF Indien gebracht – gemeinsam mit der WSF-Prinzipiencharta, auf der es beruhte. Auf diese Weise erreichten die Charta des Forums und eine in Indien modifizierte Version noch eine unbekannte weitere Zahl von Leuten.

Auch Peter Waterman lud sich die Prinzipiencharta von der WSF-Website herunter und hängte sie als Appendix an eines seiner Referate auf dem Forum 2002 an.6Seine Kopie ist datiert »Brazil, domingo, 12 de agosto de 2001« (Bra-silien, Sonntag, den 12. August 2001). Seither hat er weiter ausführlich über das Forum geschrieben und es für selbstverständlich gehalten, dass das von ihm heruntergeladene Dokument auch tatsächlich die Prinzipiencharta war.

Es ist auch sehr wahrscheinlich, dass es viele andere auf der ganzen Welt wie Waterman und uns alle in Indien gibt, die sich seit seiner Gründung im Jahre 2001 für das Forum interessiert und seine Aktivitäten verfolgt oder so-gar daran teilgenommen haben und dieses Dokument auch als die Charta des Forums ansehen.

Die Prinzipiencharta, die von den indischen Organisationen am 1. Januar 2002 empfangen wurde und die Waterman und andere im Laufe der Jahre 2001/02 erhielten, ist daher eine Grundlage für das Verständnis der Idee des Weltsozialforums für Tausende und Abertausende von Menschen gewesen – sicherlich nicht nur in Indien und Südasien, sondern wegen der Kraft der

4 WSF Indien, Juni 2002.

5 WSF Indien, Juli 2002; siehe im vorliegenden Band Teil 4.

6 Waterman 2002b.

7 Während der Vorbereitung dieses Buches.

8 Für mehr Einzelheiten vgl. den Artikel, auf dem diese Anmerkung beruht: Sen Dezember 2003d.

9 Ebenda.

Netzwerke und der Information und der Kommunikationstechnologie heute noch viel weiter gestreut.

Zwei Charten

Aber das Problem ist, dass dieseVersion – die in Umlauf gebrachte und so weit verbreitete – sich als die frühere, überholte und originaleVersion der Charta he-rausgestellt hat. Diese Diskrepanz wurde erst im Oktober 2003 herausgefun-den.7

Es ist noch nicht ganz klar, wie es dazu kam, aber meine Untersuchungen legen nahe, dass es das Resultat eines oder mehrerer einfacher Fehler gewesen ist, entweder in Brasilien oder in Indien, oder – sehr wahrscheinlich – in bei-den Ländern, weil die Titel der beibei-den Dokumente und die Präambel ibei-dentisch sind. Und in mancher Hinsicht ist es auch nicht wirklich wichtig, wie es dazu kam.8Tatsache ist, dass Anfang Januar 2002, sechs Monate, nachdem die Char-ta überarbeitet worden war, PraChar-tap eine schon »veraltete« Version der CharChar-ta herumschickte und dass Waterman und möglicherweise auch andere die glei-che Version während ungefähr derselben Zeit herunterluden und sie verbrei-teten. Und diese Version ist dann sicher wiederum weiter verbreitet, übersetzt und über die ganze Welt hinweg gelesen worden.

In den großen Begriffen und auch im allgemeinen Geist sind die beiden Ver-sionen einander ähnlich. Aber es bestehen auch bedeutende Unterschiede der Formulierung und in der Betonung.9Einerseits scheint die Situation nur ein Resultat einfacher Fehler entlang des Weges gewesen zu sein. Andererseits – aufgrund der Tatsache, dass bedeutende Veränderungen in den Bestimmun-gen der Charta vorBestimmun-genommen wurden, aber dass es die ältere war, die so weit zirkuliert wurde – ist dies aber nicht nur eine bloße bürokratische Frage. Sie hat bedeutende Auswirkungen.

Erstens, und dies ist der zentrale Punkt: Es ist eine Tatsache, dass dieser Feh-ler in dem Land und der Region verbreitet wurde, wo das nächste Welttreffen des Forums stattfinden sollte – einem großen und volkreichen Land und einer Region, in der eine große Zahl von Organisationen in Verbindung mit dem Forum aktiv ist. Angesichts der reinen Größe Indiens und der Region könnte es zahlenmäßig sogar bedeuten, dass die Hälfte der Leute in der Welt, die heu-te über das Forum wissen, die originale Charta vom April 2001 als die Charta der Initiative ansehen.

Zweitenshat es viele Veränderungen von der älteren zur überarbeiteten Ver-sion gegeben, und so ist es sehr wahrscheinlich, dass verschiedene Menschen mit verschiedenen Interessen verschiedene Veränderungen für wichtig halten werden. Die Veränderungen reichen von einem wichtigen Ruck in der

ökolo-gischen Vision (Artikel 1) zur Artikulierung einer Komplizenschaft der natio-nalen Regierungen in der durch die Wirtschaftsglobalisierung verursachten Zerstörung (Artikel 4).10

Drittensscheint ein zentraler Punkt (Artikel 11) in der ursprünglichen Version verändert worden zu sein. Genauer gesagt, der Teil des Satzes »Die Treffen des Weltsozialforums sind offen für alle, die an ihnen teilnehmen wollen, mit Ausnah-me von Organisationen, die als Methode politischer Aktion Menschen das Leben zu neh-men bereit sind« ist durch den Ausdruck »Weder ParteivertreterInnen noch mi-litärischen Organisationenist die Teilnahme am Forum erlaubt« (in der überarbei-teten Fassung Artikel 9) ersetzt worden.11

Diese Veränderung wird vielen Menschen in Indien besonders wichtig sein und vielleicht in anderen Ländern auch, da sie die Grundlage dafür bildete, dass in Indien mitgeteilt wurde, dass das Forum die Teilnahme von »bewaff-neten Gruppen« oder »militanten Gruppen« oder auch von Leuten, die mit solchen Gruppen zu tun haben, verweigere und dass mehrere Gruppen, die sonst an der Teilnahme interessiert gewesen wären, wegblieben. Die Bestim-mung war das Thema hitziger Debatten in Indien, und man kann durchaus sa-gen, dass sie zu einer Reihe von Spaltungen im WSF-Prozess im Land beige-tragen hat. Mit anderen Worten: Die Klausel in der ersten, im Land – und sei es auch nur durch einen Fehler – in Umlauf gebrachten und verwendeten Ver-sion und ihre Ablösung durch eine neue Formulierung – dies alles hat mögli-cherweise dazu beigetragen, eine Situation heraufzubeschwören, die in man-cher Hinsicht das letzte ist, was das Forum tun sollte, und die gegen seinen Geist selbst verstößt, indem sie nämlich Raum einen Raum schließt und nicht öffnet. Dies wäre vielleicht nicht geschehen, wenn von vornherein die revi-dierte Fassung verwendet worden wäre.

Es gibt Grund anzunehmen, dass diese Situation auf ihre eigene Art und Weise auch zur Formung einer Kultur des Positionskampfes um das Forum in Indien beigetragen hat und zum Zustandekommen einer wichtigen Oppositi-onsveranstaltung zum Mumbai-Forum, die gleichzeitig mit dem Forum statt-fand: die »Mumbai-Résistance«.12

Die umstrittene Bestimmung zum Militärischen soll außerdem die Grund-lage dafür gewesen sein, den Zapatistas den Zugang zum Forum in Porto Ale-gre zu verweigern bzw. dafür, dass sie sich selbst entschieden, dem Treffen fernzubleiben, und beim Welttreffen 2002 wurde die Registrierung, die einigen baskischen Organisationen erteilt worden war, angeblich im Nachhinein auch wieder entzogen, als herauskam, dass sie Basken waren und daher Anhänger

10 Ebenda.

11 Ebenda, Hervorhebungen von mir – J. S.

12 International League for People‘s Struggle (Internationale Liga der Kämpfe des Volkes) (ILPS), World People‘s Resistance Movement (Widerstandsbewegung des Weltvolkes) (WPRM), Südasien, Antiim-perialistisches Lager (Österreich) und andere, September 2003. Zur Diskussion über sektiererische Po-litik im WSF Indien vgl. Sen, Januar 2003c.

13 Teivo Teivainen im Juni 2003 in persönlicher Kommunikation.

14 Peter Waterman am 20. November 2003 in persönlicher Kommunikation.

15 Vergleiche Sen, Dezember 2003c für einen Vergleich, der graphisch die Veränderungen von der origi-nalen zur revidierten Form zeigt.

16 Der Text im vorliegenden Band basiert direkt auf einem längeren Artikel mit ähnlichem Titel: Sen Dezember 2003d.

bewaffneten Kampfes sein und eventuell im Widerspruch zur Prinzipienchar-ta des WSF handeln könnten.13Angesichts der Tatsache, dass die Zapatista-wegung weithin als Inspiration für die Herausbildung der globalen zivilen Be-wegung gilt, die wir um uns herum Gestalt annehmen sehen und deren Teil das WSF ist, scheint dies ein bisschen ironisch.

Drüber hinaus hat Waterman die Frage aufgeworfen, ob die Prinzipien der Charta durch das WSF nicht »stärker gegen die Ultralinke als gegen die parla-mentarische Linke und das Zentrum« in Anschlag gebracht werden, obwohl die Letzteren doch »oft mit dem Neoliberalismus unter einer Decke stecken.«14 In einem sehr realen Sinne existieren also heute zwei Prinzipiencharten – in Indien und in der ganzen Welt –, selbst wenn eine die »offizielle« ist. Und in mancher Hinsicht – da es schwer zu sagen ist, wie weit das Wort durch das tatsächlich existierende Forum gestreut wurde – ist es nun sehr schwer zu sagen, welche die »echte« und welche die »virtuelle« ist. Oder sind sie beide echt?

Um zu einem kritischen und vollständigeren Verständnis des WSF, wie es tatsächlich existiert, beizutragen, haben die Herausgeber dieses Buches be-schlossen, beideVersionen der Charta in dieses Buch aufzunehmen und auch die Politische Erklärung des WSF Indien, die auf der »alten« Charta beruht.15 Als Mitglied dieser Gruppe lade ich zu kritischer Aufmerksamkeit auf diese Geschichte und diese Realitäten ein.

Ich lade auch die »offiziellen« Körperschaften des Forums auf nationaler und internationaler Ebene zur Aufmerksamkeit für dieses Problem ein. Offen-sichtlich sind wir heute als Folge eines menschlichen Versagens irgendwo auf dem Weg mit einer Situation konfrontiert, in der tatsächlich zwei Versionen der Charta existieren. Was ist zu tun in dieser Situation? Sollte die »offizielle«

Version einfach zur echten erklärt werden?16

Teil 2

Im Dokument Rosa-Luxemburg-Stiftung Texte 15 (Seite 120-125)