• Keine Ergebnisse gefunden

Aufruf der sozialen Bewegungen, Januar 2002

Im Dokument Rosa-Luxemburg-Stiftung Texte 15 (Seite 153-158)

1) Angesichts weiter fortschreitender Verschlechterung der Lebensbedingungen der Völker sind wir zu Zehntausenden beim Zweiten Weltsozialforum in Porto Alegre zu-sammengekommen. Wir sind hier trotz der Versuche, unsere Solidarität zu brechen.

Wir kommen wieder zusammen, um unsere Kämpfe gegen Neoliberalismus und Krieg fortzusetzen, die Übereinkünfte des letzten Forums zu bestätigen und wiederum fest-zuhalten, dass eine andere Welt möglich ist.

2) Wir sind verschieden – Frauen und Männer, Erwachsene und Junge, eingeborene Völker, Land- und StadtbewohnerInnen, Werktätige und Arbeitslose, Obdachlose, Äl-tere, Studenten, Berufstätige, Leute jeden Glaubens, jeder Farbe und sexuellen Orien-tierung. Der Ausdruck dieser Vielfalt ist unsere Stärke und die Grundlage unserer Ei-nigkeit. Wir sind eine globale Solidaritätsbewegung, einig in unserer Entschiedenheit, gegen die Konzentration des Reichtums, die Vermehrung von Armut und Ungleich-heiten und die Zerstörung unserer Erde zu kämpfen. Wir bauen alternative Systeme auf und benutzen kreative Wege, sie zu fördern. Auf der Grundlage unserer Kämpfe und unseres Widerstands gegen ein System, das auf Patriarchie, Rassismus und Gewalt beruht, das die Interessen des Kapitals zu Lasten der Bedürfnisse und Bestre-bungen der Völker privilegiert, bauen wir eine breite Allianz der Herausforderung auf.

3) Dieses System produziert ein tägliches Drama für Frauen, Kinder und Ältere, die wegen Hunger, Mangel an Gesundheitsfürsorge und wegen abwendbarer Krankheiten sterben. Familien müssen ihre Häuser verlassen wegen Krieg, wegen der Auswir-kungen der »großen Entwicklung«, wegen Landlosigkeit und Umweltkatastrophen, Arbeitslosigkeit, Angriffen auf öffentliche Dienstleistungen und der Zerstörung so-zialer Solidarität. Sowohl im Süden als auch im Norden gedeihen lebendige Kämpfe und Widerstand, um die Würde des Lebens aufrechtzuerhalten.

4) Der 11. September 2001 bedeutete einen gewaltigen Einschnitt. Nach den terroris-tischen Angriffen, die wir absolut verurteilen, wie auch alle anderen Angriffe auf Zi-vilisten und ZivilistInnen in anderen Teilen der Welt, haben die Regierung der Verei-nigten Staaten und ihre Bündnispartner eine massive Militäroperation in die Wege geleitet. Im Namen des »Krieges gegen den Terrorismus« werden zivile und politische Rechte in der ganzen Welt angegriffen. Der terroristische Krieg gegen Afghanistan wird nun auf andere Fronten ausgedehnt. Ein permanenter globaler Krieg beginnt, um die Vorherrschaft der US-Regierung und ihrer Alliierten zu zementieren. Dieser Krieg enthüllt ein anderes Gesicht des Neoliberalismus, ein brutales und inakzepta-bles. Der Islam wird dämonisiert, während Rassismus und Xenophobie bewusst

pro-pagiert werden. Die Massenmedien nehmen aktiv an dieser kriegslüsternen Kampagne teil, die die Welt in »Gut« und »Böse« aufteilt. Die Opposition gegen diesen Krieg ist im Herzen unserer Bewegung verankert.

5) Die Kriegssituation hat die Nahostregion weiter destabilisiert, einen Vorwand für die weitere Repression gegen das palästinensische Volk und seinen Kampf um Selbst-bestimmung gegen die brutale Unterdrückung durch den israelischen Staat geliefert.

Der Frieden ist lebenswichtig für kollektive Sicherheit aller Völker in der Region.

6) Weitere Ereignisse bestätigen ebenfalls die Dringlichkeit unserer Kämpfe. In Ar-gentinien hat die durch das Versagen der IWF-Strukturpolitik und die wachsenden Schulden verursachte Finanzkrise eine soziale und politische Krise herbeigeführt. Die-se KriDie-se löste spontane Proteste der mittleren und arbeitenden KlasDie-sen aus, Repres-sion, durch die Menschen ums Leben kamen, Veränderungen in der Regierung und neue Allianzen zwischen verschiedenen sozialen Gruppen. Mit der Kraft von cacero-lazos (TopftrommlerInnen) haben diese Leute erreicht, dass ihren Forderungen ent-sprochen wurde.1

7) Der Zusammenbruch des multinationalen Konzerns Enron bedeutet den Bankrott der Casinowirtschaft und Korruption der Geschäftsleute und Politiker. Die Werktäti-gen sind ohne Arbeit und Rente geblieben. In den Entwicklungsländern haben die multinaltionalen Konzerne betrügerische Aktivitäten unternommen, und ihre Projek-te haben Menschen von ihrem Land vertrieben und zu scharfen Erhöhungen der Prei-se für WasPrei-ser und Elektrizität geführt.

8) In ihren Bemühungen, die Interessen der großen Konzerne zu schützen, verließ die US-Regierung arrogant die Verhandlungstische über die globale Erwärmung, den Vertrag über antiballistische Raketen, die Konvention zur Biovielfalt, die Konferenz über Rassismus und Intoleranz und die Gespräche zur Reduzierung des Kleinwaffen-handels, wodurch sie nochmals bewies, dass der US-Unilateralismus Versuche unter-gräbt, multilaterale Lösungen für globale Probleme zu finden.

9) In Genua scheiterten die G8 gänzlich an ihrer selbsterklärten Aufgabe, globale Re-gierung zu sein. Angesichts massiver Mobilisierung und Widerstand antworteten sie mit Gewalt und Repression und denunzierten diejenigen, die zu demonstrieren wag-ten, als Kriminelle. Aber sie haben es nicht geschafft, unsere Bewegung einzuschüch-tern.

1 Cacerolazosbedeutet buchstäblich »Töpfe und Pfannen schlagen«. Dies wurde eine übliche Praktik des Protests in einigen lateinamerikanischen Ländern, besonders in den 90er Jahren, gegen verschie-dene Typen von Regimes. Leute gehen in Massen auf die Straße und schlagen buchstäblich Töpfe und Pfannen aller Art gegeneinander und schaffen so tatsächlich ein Inferno. (Anm. der Hrsg.)

10) All dies geschah im Kontext globaler Rezession. Das neoliberale Wirtschaftsmodell zerstört die Rechte, die Lebensbedingungen und Lebensgrundlagen der Menschen. Die multinationalen Konzerne nutzen jedes Mittel, um ihren Share value (Aktienwert) zu schützen, sie entlassen ArbeiterInnen, kürzen die Löhne und schließen Fabriken, sie quetschen den letzten Dollars aus ihren ArbeiterInnen. Die mit dieser Wirtschaftskrise konfrontierten Regierungen antworten mit Privatisierung, Kürzungen der Sozialausga-ben und ständiger Reduzierung der Rechte der Werktätigen. Diese Rezession macht unübersehbar, dass das Versprechen von Wachstum und Wohlstand eine Lüge ist.

11) Die globale Bewegung für Soziale Gerechtigkeit und Solidarität ist mit enormen Herausforderungen konfrontiert. Ihr Kampf für Frieden und kollektive Sicherheit um-fasst den Kampf gegen Armut, Diskriminierungen, Vorherrschaft und für die Schaf-fung einer alternativen nachhaltigen Gesellschaft.

Die sozialen Bewegungen verurteilen Gewalt und Militarismus als ein Mittel der Konfliktlösung, die Unterstützung von Konflikten niedriger Intensität und militä-rischen Operationen im Zuge des Columbia-Plans als Teil der Regionalinitiative An-den, den Pueblo Panama-Plan, den Waffenhandel und die höheren Militärhaushalte, die Wirtschaftsblockaden gegen Menschen und Nationen, insbesondere Kuba und Irak, und die wachsende Unterdrückung von GewerkschaftlerInnen und AktivistInnen.

Wir unterstützen die Gewerkschaften und die Arbeiterkämpfe im informellen Sek-tor als ein wesentliches Instrument, um Arbeits- und Lebensumstände, das wirkliche Recht zur gewerkschaftlichen Organisation, zum Streik, zur Aushandlung von Tarif-verträgen auf verschiedenen Ebenen und zur Schaffung von gleichen Löhnen und Ar-beitsbedingungen zwischen Männern und Frauen aufrechtzuerhalten. Wir verurtei-len Sklaverei und die Ausbeutung von Kindern. Wir unterstützen Arbeitskämpfe und die gewerkschaftlichen Kämpfe gegen ungesicherte Arbeitsverträge, Leiharbeit und Kündigungen und fordern neue internationale Rechte für die Angestellten internatio-naler Konzerne und ihrer Partner, insbesondere das Recht auf gewerkschaftliche Or-ganisation und die Freiheit für Tarifverhandlungen.

12) Die neoliberale Politik schafft weiteres Elend und Unsicherheit. Sie hat den Sex-handel und die sexuelle Ausbeutung von Frauen und Kindern, die wir strikt ablehnen, dramatisch verstärkt. Armut und Unsicherheit führen auch zu Migration, und Mil-lionen von Menschen werden ihre Würde, ihre Freiheit und ihre Rechte versagt. Wir verlangen daher das Recht auf Bewegungsfreiheit, das Recht auf physische Integrität und legalen Status aller MigrantInnen. Wir unterstützen die Rechte der eingeborenen Völker und die Erfüllung des ILO-Artikels 169 in den nationalen legalen Rahmen-richtlinien.2

13) Die externen Schulden der Länder des Südens sind schon mehrfach zurückgezahlt worden. Sie sind illegitim, ungerecht und betrügerisch, funktionieren als ein Instru-ment der Herrschaftsausübung und bringen die Leute um ihre grundlegenden

Menschenrechte mit dem einzigen Ziel, den internationalen Wucher hochzutreiben.

Wir fordern die unbedingte Annullierung der Schulden und die Reparation histori-scher, sozialer und ökologischer Schuld. Die Länder, die Zurückzahlung der Schulden fordern, haben sich in der Ausbeutung der natürlichen Ressourcen und Wissenssyste-me des Südens vergangen.

14) Wasser, Land, Nahrungsmittel, Wälder, Saatgut, Kultur und Identitäten der Menschen sind gemeinsamer Bestand der Menschheit für gegenwärtige und zukünf-tige Generationen. Sie sind wesentlich zur Bewahrung der Biovielfalt. Menschen haben das Recht auf frisches und haltbares Essen frei von genetisch modifizierten Or-ganismen. Nahrungsmittelsouveränität auf der nationalen, regionalen und lokalen Ebene ist ein menschliches Grundrecht; in dieser Hinsicht sind demokratische Land-reformen und Zugang der Bauern zu Land grundsätzliche Erfordernisse.

15) Das Treffen in Doha bestätigte die Illegitimität der WTO. Die angeblich ange-nommene »Entwicklungsagenda« verteidigt nur die Interessen der Konzerne. In dem sie eine neue Runde lanciert, nähert sich die WTO ihrem Ziel, alles in eine Ware zu verwandeln. Für uns stehen Nahrungsmittel, öffentliche Dienstleistungen, Landwirt-schaft, Gesundheit, Bildung und Gene nicht zum Verkauf. Darüber hinaus lehnen wir die Patentierung aller biologischen Lebensformen ab.

Die WTO-Agenda findet ihre Fortsetzung auf kontinentaler Ebene in regionalen Freihandels- und Investitionsabkommen. Durch Organisierung von Protesten sowie Riesendemonstrationen und Plebisziten gegen das FTAA haben die Menschen diese Vereinbarungen als Rekolonisierung und Zerstörung fundamentaler sozialer, wirt-schaftlicher, kultureller und ökologischer Rechte und Werte abgelehnt.

16) Wir werden unsere Bewegung durch gemeinsame Aktionen und Mobilisierungen für soziale Gerechtigkeit, für den Respekt von Rechten und Freiheiten, für Lebensqua-lität, Gleichheit, Würde und Frieden stärken.

Wir kämpfen:

• für Demokratie. Die Menschen haben das Recht über die Entscheidungen ihrer eigenen Regierungen, ganz besonders was ihre Verhandlungen mit internationalen In-stitutionen angeht, Bescheid zu wissen und sie kritisieren zu dürfen. Die Regierungen sind letztendlich ihren Völkern Rechenschaft schuldig. Während wir die Einrichtung der repräsentativen Demokratie in der Welt unterstützen, betonen wir die Notwen-digkeit der Demokratisierung der Staaten und Gesellschaften und des Kampfes gegen die Diktatur;

• für die Erlassung der externen Schulden und für Reparationen;

• gegen spekulative Aktivitäten. Wir verlangen die Schaffung spezifischer Steuern wie die Tobin-Steuer und die Abschaffung von Steuerparadiesen;

2 Eingeborenen- und Stammeskonvention, 1989.

• für das Recht auf Information;

• für Frauenrechte, Freiheit von Gewalt, Armut und Ausbeutung;

• gegen Krieg und Militarisierung, gegen ausländische Militärbasen und Inter-ventionen und die systematische Eskalierung der Gewalt. Wir entscheiden uns für ein Privileg für Verhandlungen und für gewaltlose Konfliktlösung;

• für eine demokratische, soziale EU, die auf den Bedürfnissen der europäischen Werktätigen und der Völker gegründet ist, auf der Notwendigkeit für Solidarität und Zusammenarbeit der östlichen und südlichen Völker;

• für die Rechte der Jugend, ihren Zugang zu freier öffentlicher Erziehung und so-zialer Autonomie und die Abschaffung des Zwangsmilitärdienstes.

In den kommenden Jahren werden wir kollektive Mobilisierungen organisieren, so zum Beispiel:

im Jahr 2002:

zum 8. März: Internationaler Frauentag

zum 17. April: Internationaler Tag des Bauernkampfes zum 1. Mai: Tag der Arbeit

zum 12. Oktober: Schrei der Ausgeschlossenen zum 16. Oktober: Welternährungstag.

Auch andere globale Mobilisierungen werden 2002 stattfinden:

15.-16. März: Barcelona (Spanien), Gipfel der EU

18.-22. März: Monterrey (Mexiko), Konferenz der Vereinten Nationen zur Finan-zierung der Entwicklung

17.-18. Mai: Madrid (Spanien), Lateinamerika-, Karibik- und Europa-Gipfel 31. Mai: Internationaler Aktionstag gegen Militarismus und für den Frieden 22.-23. Juni: Rom (Italien); Welternährungsgipfel; Sevilla EU-Gipfel Juli: Toronto und Calgary, Kanada, G8-Gipfel

22. Juli: USA-Kampagne gegen CocaCola September: Johannesburg (Südafrika), Rio + 10

Oktober: Quito (Ecuador). Kontinentales Sozialforum »Eine neue Integration ist möglich«

November: Kuba, 2. hemisphärisches Treffen gegen die FTAA Im Jahr 2003:

April: Buenos Aires (Argentinien), Gipfel der FTAA Juni: Thessaloniki EU-Gipfel

September: WTO-Treffen in Cancún (Mexiko) Im Jahr 2005:

Beijing »+10«: UN- Weltfrauenkonferenz Und wir werden da sein!

Und viele andere Ereignisse, die hier nicht aufgezählt sind.

Teil 3

Im Dokument Rosa-Luxemburg-Stiftung Texte 15 (Seite 153-158)