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Für nationalen und globalen Kampf

Im Dokument Rosa-Luxemburg-Stiftung Texte 15 (Seite 36-44)

Die Ursprünge des Weltsozialforums können bis Januar 2000 zurückverfolgt werden, als eine kleine Gruppe von ungefähr 50 AktivistInnen, die Gewerk-schaften, Intellektuelle, Bauernverbände und andere soziale Gruppen reprä-sentierten, sich in Davos versammelte. Samir Amin gehörte zu den Teilneh-mern dieses »Anti-Davos in Davos«. Mit Amin sprach im Januar 2003 V. Srid-har vom indischen Magazin Frontline beim Asiatischen Sozialforum (ASF) in Hyderabad. Hier einige Ausschnitte aus dem Interview:

Worin besteht die Bedeutung des WSF, des ASF und der Regionalforen, die in den letzten Jahren als Herausforderung der imperialistischen Globalisierung aufgekom-men sind?

Ich halte diese Foren für wichtig, obwohl sie mit Problemen behaftet sein könnten. Es gibt viele und wachsende Sozialbewegungen auf der Welt, ihrer Natur nach verschieden, die entweder an sozialen Fronten – für die Verteidi-gung der Arbeiterrechte und der Rechte des Volkes – oder an politischen Fron-ten für grundsätzliche politische Rechte streiFron-ten. Es gibt die feministischen Bewegungen, ökologischen Bewegungen und viele andere. Diese Bewegun-gen sind zersplittert, sind hauptsächlich auf nationaler, in vielen Fällen auch auf lokaler Ebene organisiert. Die meisten befassen sich mit einer einzigen Fra-ge oder mit einer einziFra-gen Dimension eines Problems, ohne dies in ein über-greifendes alternatives Projekt einzubinden.

Dies hat historische Gründe. Die sozialen Organisationen, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelten, hatten allmählich ihre Grenzen erreicht.

Ich beziehe mich nicht nur auf das sowjetische Muster der Alternative, son-dern auch auf die Ereignisse in China, die Erosion des sozialdemokratischen Musters im entwickelten kapitalistischen Westen und die Aufzehrung der »na-tional-populistischen« Alternativen im Süden.

Als Folge dieser Entwicklungen sind wir in eine Phase gekommen, die durch Fragmentierung gekennzeichnet ist. Es wird keine Alternative zum ge-genwärtigen mächtigen System der neoliberalen oder imperialistischen Glo-balisierung geben, wenn diese fragmentierten Bewegungen nicht zusammen kommen und ein umfassendes Gegenprojekt artikulieren. Man kann nicht nur an einer Front kämpfen! Selbst wenn man an dieser Front erfolgreich ist, wird der Erfolg beschränkt, fragil und verletzlich sein, da die Dinge miteinander verknüpft sind. Darum brauchen wir eine Gesamtalternative für alle Dimen-sionen. Die alternative Vision wird eine wirtschaftliche Dimension haben.

Aber die politischen, sozialen und kulturellen Dimensionen werden auch an-gesprochen werden müssen. Das WSF ist nicht eine Organisation mit einer ge-meinsamen politischen Plattform zur Ausarbeitung von Strategien. Es ist nicht ein für alle offenes Forum. Die teilnehmenden Organisationen müssen einer Charta beipflichten: müssen also sagen, dass sie gegen den Neoliberalismus – und nicht notwendigerweise gegen den Kapitalismus – sind; dass sie gegen die Militarisierung der Globalisierung eintreten, aber nicht notwendigerweise gegen den Imperialismus – was viel weitergehend wäre.

Sie haben gesagt, dass eine geeinte Bewegung der Völker des Südens eine Vorausset-zung für Veränderung in der gegenwärtigen Situation ist. Was ist dann die Rolle der Völker des Nordens?

Ich bin Internationalist, Marxist, Sozialist und Universalist. Ich bin kein Chau-vinist und sicherlich kein Drittweltler. Die Welt ist eins, aber sehr ungleich. Die kapitalistische Entwicklung, die die moderne Welt gestaltet hat, hat dies durch wachsende Ungleichheit zwischen den Nationen und auch in ihnen getan. In

den vergangenen fünf Jahrhunderten hat es Länder im Zentrum und solche in der Peripherie gegeben. Ein wichtiges Element des globalen Systems ist seine imperialistische Dimension. Imperialismus ist ein Synonym für die wachsen-de Polarisierung wachsen-der Nationen. Er ist auf die Rationalität wachsen-des kapitalistischen Gewinnstrebens gegründet. Das Bewusstsein der Kräfte der Völker im Süden, der an der Peripherie des globalen Systems liegt, ist eine grundsätzliche Vor-aussetzung für jede Veränderung.

Nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelte sich eine gigantische Bewegung der Völker Asiens und Afrikas für nationale Befreiung. Sie hatte ein Ziel – Un-abhängigkeit. Aber die Kräfte, die sich um diese Forderung scharten, reprä-sentierten verschiedene Klassen. In Ländern wie China, Vietnam und Kuba stand die radikale Linke an der Spitze. In Indien hatte während des Kampfes gegen den britischen Imperialismus die Mittelklasse die Führung inne. In Afri-ka und Asien führte eine Vielzahl von Kräften die Bewegung. Die Führung in diesen Ländern verstand, dass sie einander nicht nur unterstützen, sondern nach der Gewinnung der Unabhängigkeit auch auf der Grundlage ihrer ge-meinsamen Forderungen eine gemeinsame Front aufbauen mussten. So kam es 1955 zur Konferenz von Bandung und damit zur Geburt der Bewegung der Blockfreien.

Die Bildung der gemeinsamen Front trug Früchte. Sie gab den beteiligten Ländern die Möglichkeit, über mehrere Jahrzehnte hinweg relativ hohe Wachstumsraten zu erwirtschaften. Es gab Industrialisierung und große An-strengungen, was die Bildung und andere Bereiche anging. In politischer Hin-sicht befähigte sie diese Länder, ethnische, lokale und nationale Chauvinismen zu überwinden. Die Allianz dieser Nationen wurzelte fest in deer Politik: Sie war eng mit den Positionen gegen den Imperialismus verknüpft. In Ägypten war Nasser ein Alliierter Indiens und nicht Pakistans, weil Indien im Gegen-satz zu Pakistan eine anti-imperialistische Position einnahm. Aber dann ka-men diese Bewegungen – die russische, die chinesische und die radikaleren der nationalen Befreiung – an ihre Grenzen.

Verhandelten diese Länder nicht auch zwischen zwei Lagern – Imperialismus auf der einen und Sozialismus auf der anderen Seite?

Sicherlich, das ist wahr. Die Sowjetunion lieferte Ideen – in einigen Fällen gute, aber in vielen schlechte – und in manchen Fällen gute Waffen (er lacht) an diese Länder, die als Dämpfer gegen den Imperialismus wirkten. Die USA konnten damals nicht wie heutzutage wie ein Gangster agieren, wo sie im Ein-zelgang beschließen können, ein jedes Land zu bombardieren.

Aufgrund der Zerrüttung der Unterstützungsgrundlagen der Führungen gerieten diese Länder in ein Vakuum, das Rückschläge auf allen Fronten zur Folge hatte. Die afro-asiatische Solidarität wurde untergraben. Damit wurde

der Weg für andere Muster der Pseudo-Solidarität freigemacht – für Muster, die sehr reaktionär sind, weil sie sich auf ethnische und pseudo-ethnischen Chauvinismen oder religiöse Fundamentalismus gründen. Lassen Sie es mich polemisch sagen: Wenn die Mehrheit der indischen Völker Hindutva an-nimmt, wenn die Mehrheit der Völker in den moslemischen Ländern den Un-sinn des politischen Islams akzeptiert, wird es keine Veränderung auf der Welt geben. Es müssen solche Bestrebungen von einer anderen Vision der mensch-lichen Solidarität überwunden werden.

Wie sah das konkret aus: dass die Bewegungen in diesen Ländern an ihre Grenzen kamen?

Es gab einen gewissen Raum für Entwicklung, da der Kolonialismus in eini-gen Ländern nur zu einem sehr niedrieini-gen Niveau der Industrialisierung ge-führt hatte und in vielen anderen zu gar keinem. So gab es nach der nationa-len Befreiung Raum für Industrialisierung. Aber mit dem Erreichen eines ge-wissen Niveaus wurden die Investitionen und Technologien teurer. Diese Län-der hatten soziale Systeme mit niedrigem Bildungsniveau, womit ein enormer Raum für den sozialen Aufstieg von Menschen durch Bildung geschaffen war.

So lange die Kinder der unteren Klassen, der unteren Mittelschicht und der Bauernschaft sich durch Bildung nach oben bewegen konnte – wie etwa in Indien, Ägypten und anderen Ländern – genoss das System Legitimität. Selbst wenn es nicht demokratisch war, wurde ihm doch zugestanden, dass es etwas zu bieten hatte. Länder, die hohe Wachstumsraten hatten und nichtansteigen-de Raten nichtansteigen-der Ungleichheit und großen Teilen nichtansteigen-der Gesellschaft sozialen Auf-stieg lieferten, genossen Glaubwürdigkeit und Legitimität. Manche dieser Länder waren halb-demokratisch wie Indien. Andere, wie Nassers Ägypten, waren überhaupt nicht demokratisch. Aber sie waren legitim und glaubwür-dig, weil sie etwas boten. Sobald das System nicht in derselben Logik und auf der gleichen Grundlage weitermachen konnte, wurde das politische System korrupter und verlor seine Legitimität. Dies schuf ein Vakuum, das reaktionä-re Kräfte auszufüllen begannen.

Wie charakterisieren sie die augenblickliche Phase der Globalisierung im Vergleich zu früheren in der Geschichte?

Globalisierung und Imperialismus sind nichts Neues. Die Geschichte des Ka-pitalismus ist die Geschichte der imperialistischen Expansion und war immer global. Was war die Geschichte Indiens, wenn nicht Globalisierung? Der Auf-bau der beiden Amerikas seit dem 16. Jahrhundert war Globalisierung, ge-nauso der Sklavenhandel, der in der Entwicklung der Amerikas eine so wich-tige Rolle spielte. Und die Globalisierung war immer imperialistische

Globali-sierung, wurde nie durch friedliche und gleichberechtigte Verhandlungen zwischen Völkern erreicht. Das ist die Geschichte. Aber wir würden uns täu-schen, wenn wir annähmen, dass es immer dieselbe alte Geschichte ist. Eine wirksame Gegenstrategie kann entwickelt werden, wenn wir uns auf das kon-zentrieren, was neu ist.

Der heute dominierende Diskurs, der ein politisch rechter ist, behauptet:

»Veränderung ist immer zum Besseren und passiert spontan. Veränderung ist immer schmerzhaft, aber der Schmerz geht vorüber. Der Markt, das heißt, der Kapitalismus, wird schon selbst seine Probleme langfristig lösen (das heißt, wenn alle schon tot sind).« Das ist noch nicht einmal Ideologie. Es ist Propa-ganda. Aber das ist, was täglich von Politikern wiederholt wird, jeden Tag in der Zeitung geschrieben wird, jeden Tag im Fernsehen gezeigt wird und sogar als There Is No Alternative (TINA)auf eine eingängige Formel gebracht worden ist.

Wir müssen das, was neu ist, anders betrachten. Wie können die Volksmas-sen sich reorganisieren, um den mit der globalen kapitalistischen Expansion verbundenen Schaden zu reduzieren? Was können sie tun, um ihre eigene Agenda kurzfristiger durchzusetzen, um die Bedingungen für eine Alternati-ve zu schaffen? Die AlternatiAlternati-ve – meiner Meinung nach – ist der Sozialismus.

Er hatte in der Vergangenheit diesen Namen und wird ihn auch in der Zukunft haben. Aber die Art und Weise, wie wir ihn uns vorstellen, wird eine andere sein als die unserer Väter.

Sie haben gesagt, dass die Natur des Imperialismus heute eine andere ist als in der Ver-gangenheit. Hat das etwas mit der anderen Art der Globalisierung zu tun?

Imperialismus war immer von Rivalität zwischen den Großmächten charakte-risiert. Die Spanier und die Portugiesen gegen die Niederländer im 17. Jahr-hundert; dann die Briten gegen die Franzosen; und die deutsch-japanische Achse gegen die anderen, noch später. Es war auf der Basis dieser Rivalität zwischen den imperialistischen Nationen, dass Lenin in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg dachte, dass das System zur Revolution führen muss, da es zum Krieg führen wird, wogegen das Proletariat, als Opfer des Krieges, revol-tieren wird. Die Geschichte bestätigte Lenin. Es gabeine Revolution. Was da-nach kam, ist eine andere Geschichte, aber: Es gabeine Revolution.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Vereinigten Staaten und Japan Verbündete, Japan in einer untergeordneten Position. Die USA und das west-liche kapitalistische Europa kamen durch den Marshall-Plan und die Grün-dung der North Atlantic Treaty Organisation (NATO) zusammen. In geogra-phischer Hinsicht umfasst das kapitalistische System die USA und seine äuße-re Provinz, Kanada, das kapitalistische Europa, damals durch den Eisernen Vorhang begrenzt, nun noch etwas weiter nach Osten gehend und Japan. Nach

dem Zweiten Weltkrieg setzten die imperialistischen Mächte ihrer Rivalität ein Ende, weil sie einen gemeinsamen Feind hatten, die Sowjetunion. Sie schenk-ten ihren gemeinsamen Interessen mehr Aufmerksamkeit als ihrer Rivalität untereinander.

Die Sowjetunion ist jetzt verschwunden, aber diese Länder sind nicht wie-der zu Rivalen geworden. Dies spiegelt sich in wie-der wirtschaftlichen Verwal-tung des globalen Systems wider – dem Funktionieren der G7, einer Gruppe der reichsten Länder, im Wirken der Weltbank, des Internationalen Währungs-fonds (IMF) und der Welthandelsorganisation (WTO). Dies sind keine globa-len Organisationen. Es sind Organisationen des globagloba-len Nordens – des kapita-listischen Zentrums. Es gibt keine wichtigen Unterschiede zwischen diesen Ländern innerhalb dieser Organisationen.

Wir sollten uns eine Reihe von Fragen stellen. Erstens, warum sind wir in dieser Si-tuation? Zweitens, bedeutet dies: dass es keine Widersprüche zwischen diesen Län-dern gibt? Drittens, wenn es Gegensätze gibt, in welcher Weise unterscheiden sie sich von Gegensätzen der früheren Periode, in der die imperialistischen Länder Rivalen waren? Viertens, wie verhalten sich die Widersprüche zu den Nord-Süd Beziehungen?

Ich schlage vor – wie ich es bei anderen Treffen des WSF getan habe –, zu sa-gen, dass der Kapitalismus in eine neue Phase eingetreten ist, die durch einen höheren Zentralisationsgrad des Kapitals charakterisiert ist. Dies hat den Grundstein für die Solidarität der kapitalistischen Interessen auf der globalen Ebene gelegt. Zu Lenins Zeiten, vor dem Ersten Weltkrieg, und darüber hin-aus bis vor ungefähr 30 bis 40 Jahren, brauchte das Monopolkapital einen großen Markt, der einem Imperium zugänglich war. Ein kapitalistisches Zen-trum – eine Metropole – mit einigen Kolonien oder Interessengebieten war die Norm. Das war die Basis, auf deren Grundlage die Rivalität zwischen impe-rialistischen Mächten existierte – eine Rivalität beim Aufteilen oder Neuge-stalten der Kolonien und bei der Kontrolle über das globale System. Heute sa-gen die Chefs der Großindustrie, dass, um effizient zu sein, transnationale Konzerne Zugang zu den Märkten auf globaler Ebene haben müssen. Der Glo-bus ist daher das Terrain, auf dem der Wettbewerb zwischen ihnen aus-gekämpft wird.

Aber diese Monopole brauchen auch ein globales Terrain, um operieren zu können. Die Veränderung in der Natur des Imperialismus negiert nicht die Wichtigkeit von Veränderungen in den Arbeitsprozessen und anderer Dimen-sionen, die berücksichtigt werden müssen, so dass die Volksmassen effiziente Formen der Organisationen neu erfinden können. Aber es ist eine Grundtat-sache, dass – um auf globaler politischer Ebene und in Nord-Süd Beziehungen effizient sein zu können – der Imperialismus nun kollektiv wie eine Triade auf-tritt, bestehend aus den USA, der EU und Japan.

Es bestehen Widersprüche unter diesen Mächten, aber die Natur der Widersprüche ist eine andere. Sie haben keinen gemeinsamen Staat, und der Kapitalismus kann ohne Staat nicht funktionieren. Der Anspruch, dass Märk-te ohne Staat den Kapitalismus regieren, ist kompletMärk-ter Unsinn. Es gibt den Norden nicht als einen einzigen Staat, noch nicht einmal als einen konföde-rierten. Sogar Europa mit seiner Union ist auf Nationalstaaten erbaut, die in vielen Fällen tiefe historische Wurzeln haben. Daher: Wie soll die politische Dimension des kollektiven Imperialismus verwaltet werden? Das ist eine un-gelöste Frage.

Sie haben gesagt, dass es eine Tendenz gibt, dass die Gravitationszentren der Länder außerhalb der Domäne der Nationalstaaten fallen. Was bedeutet dies für die Völker dieser Nationen, die nach einer Alternative suchen? Und wie operiert ein solches Sy-stem und was sind die Widersprüche darin?

Das Gravitationszentrum hat sich von innerhalb der Nationen anderswohin bewegt, und das ist allen Nationen so ergangen. Diese Veränderung hat mit der Größe des dominierenden Kapitals zu tun, das in seinem Maßstab global ist. Da dies wichtige Entscheidungsträger sind, können sie keiner nationalen Logik unterworfen werden. Beim Europäischen Sozialforum in Florenz mein-ten viele Leute, dass ein neues Europa gebaut werden sollte. Sie sagmein-ten, dass ein politisches Europa gebraucht würde, nicht notwendigerweise mit einem einheitlichen Staat, da es aus historischen Gründen Nationen mit einer langen Geschichte, einer gemeinsamen Sprache und Kultur gibt. Manche regten eine Art Konföderation an. Aber so ein Europa braucht auch eine gemeinsame po-litische Realität. Ein anderes Europa, wie auch ein anderes Asien, ist nötig.

Dieses neue Europa sollte – da wir uns das Ende des Kapitals nicht sofort vorstellen können – auf einem sozialen Kompromiss zwischen dem Kapital einerseits und der Arbeiterklasse und den anderen arbeitenden Schichten des Volkes andererseits beruhen. Aber dieses Europa kann nicht entstehen, ohne dass es sein Verhältnis zum Süden ändert. Europa darf nicht Partner im kol-lektiven imperialistischen System bleiben.

Regionalisierung wird die Kapazitäten der Länder des Südens stärken. Eine solche Regionalisierung kann zum Beispiel auf Geschichte und Kultur ge-gründet sein, wie in den Ländern Südamerikas, die zwei eng miteinander wandte Sprachen, Spanisch und Portugiesisch, haben, die sie miteinander ver-binden. Ein andere gemeinsame Faktor ist, dass es seit mehr als zwei Jahr-hunderten einen gemeinsamen Feind gibt – die USA. Dass der Islam die Grundlage für so eine Regionalisierung darstellen kann, glaube ich nicht. Aber die gemeinsame Sprache in den arabischen Ländern könnte die Basis für Ein-heit sein. Es hat freilich noch nie eine Situation gegeben, in der diese Länder durch einen einzigen Staat geeint worden wären – es sei denn in der

Phanta-sie von Nationalisten. Eine Allianz der Länder muss auf Politik gegründet sein, nicht nur auf einen gemeinsamen Markt.

Einige Länder stellen schon allein durch ihre Größe eine Bedrohung für den Imperialismus dar. Die Amerikaner mögen keine großen Länder. China und Indien sind zu groß. Es gibt Verschiedenheiten innerhalb der Länder. Lassen Sie mich ganz offen den Fall Indiens ansprechen. Hier gibt es verschiedene Nationalitäten, Sprachen und Gruppen, es gibt Hindus und Moslems. Die Art und Weise, wie das Machtsystem diese Vielfalt angeht, schafft Probleme – wie zum Beispiel das Aufkommen des religiösen Fundamentalismus. Was soll Kommunalismus sein, der da aufkommt?

Was ist die Position des Nationalstaats in der Suche nach Alternativen?

Die Notwendigkeit einer gemeinsamen Front negiert nicht die ausschlagge-bende Wichtigkeit des Nationalstaats. Für eine lange Zeit werden wir den Na-tionalstaat in der Zukunft noch brauchen. Märkte müssen auf regionalem und globalem Niveau reguliert werden, aber zuallererst einmal auf der nationalen Ebene. Die Veränderung muss von innerhalb der Länder beginnen. Darum ist der Nationalstaat so wichtig.

Zusammenfassend kann man fragen, welche Prinzipien eine andere Art globales System regieren könnten? Das erste Prinzip ist die Logik des Über-gangs zum Sozialismus. Diese wird das Kriterium des Kapitalismus, wonach die Effizienz durch den Gewinn gemessen wird, und das Kriterium der sozia-len Gerechtigkeit kombinieren. Obwohl der Begriff »soziale Gerechtigkeit«

sehr elastisch ist, können bestimmte Elemente konkret definiert werden. So-ziale Gerechtigkeit würde Arbeitsplätze, angemessene und anständige Löhne, Schulen für die Kinder und umfassende Gesundheitsfürsorge bedeuten. Das ist soziale Gerechtigkeit, kein Sozialismus. Sie wird nicht durch den Markt produziert werden, sondern wird dem Markt durch eine Sozialpolitik des Staates auferlegt werden. Das erfordert jedoch die Verknüpfung kapitalisti-scher Kriterien mit sozialen Kriterien, die miteinander im Konflikt sein wden. Aber das System erkennt dies und verwaltet sie, ohne dem Markt zu er-lauben, die Gesellschaft auf eigene Faust zu dominieren. Es erkennt auch, dass das freie Spiel der Märkte Probleme für die Gesellschaft schafft. Daher wird die Gesellschaft dieses Problem durch die Ausübung politischer Macht lösen.

Wenn wir ein solches System in mehreren Ländern erreichen, dann können wir die Bedingungen für regionale Arrangements zwischen ihnen und für Veränderungen im globalen System schaffen.

Die zweite Bedingung, die für substantielle Veränderung gebraucht wird, ist echte Demokratie. Soziale Veränderungen in der Vergangenheit – seien sie sowjetischen oder maoistischen Typs oder national-populistische Varianten in der Dritten Welt – waren kaum oder gar nicht demokratisch. Sie wurden auf

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