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Das Imperium konfrontieren

Im Dokument Rosa-Luxemburg-Stiftung Texte 15 (Seite 98-102)

Ich bin gebeten worden, über die Frage zu sprechen, wie wir das Imperium konfrontieren sollen. Das ist eine gewaltige Frage, und ich habe keine einfa-chen Antworten.

Wenn wir davon reden, das »Imperium« zu konfrontieren, müssen wir ge-nau bestimmen, was »Imperium« bedeutet. Meinen wir mit »Imperium« die US-Regierung (und ihre europäischen Satelliten), die Weltbank, den IWF, die WTO und die multinationalen Konzerne? Oder ist es mehr als das?

In vielen Ländern hat das Imperium Seitentriebe hervorgebracht, gefährli-che Nebenprodukte wie Nationalismus, religiöse Bigotterie, Faschismus und natürlich Terrorismus. All diese agieren nun Arm in Arm mit der korporati-ven, konzerngeführten Globalisierung.

Lassen Sie mich veranschaulichen, was ich meine. Indien – die größte Demo-kratie der Welt – gehört zur Zeit zur vordersten Front des korporativen Globa-lisierungsprojekts. Sein »Markt« von einer Milliarde Menschen wird von der WTO aufgebrochen. Die Regierung und die indische Elite heißen Korporatisie-rung und PrivatisieKorporatisie-rung willkommen. Es ist kein Zufall, dass der Premierminis-ter, der Innenminister und der Privatisierungsminister – also genau die Männer, die den Vertrag mit Enron in Indien unterzeichnet haben, die den multinationa-len Konzernen die Infrastruktur des Landes verkaufen, die Männer, die Elek-trizität, Wasser, Öl, Kohle, Stahl, Gesundheit, Bildung und Telekommunika-tion privatisieren wollen – allesamt Mitglieder oder Bewunderer des Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS) sind: einer rechtsgerichteten ultranationalistischen Hindugilde, die Hitler und dessen Methoden ganz offen bewundert.

Der Abbau der Demokratie geht mit der Schnelligkeit und Effizienz eines strukturellen Anpassungsprogramms voran. Das Projekt der korporativen Globalisierung zerstört das Leben der Menschen in Indien, durch massive Pri-vatisierung und Arbeitsmarkt»reformen« werden die Menschen von ihrem Land und von ihren Arbeitsplätzen vertrieben. Hunderte verarmter Bauern begehen Selbstmord durch Pestizidkonsum. Berichte über Tod durch Hun-gersnot erreichen uns aus allen Ecken des Landes.

Während die Elite zu ihrem imaginären Ziel irgendwo nahe am Gipfel der Welt unterwegs ist, sinken die Entgüterten wie auf einer Spirale hinunter in Verbrechen und Chaos. Dieses Klima der Frustration und nationalen Desillusionierung, so lehrt uns die Geschichte, ist der perfekte Nährboden für den Faschismus.

Die beiden Arme der indischen Regierung haben sich in einem perfekten Zangengriff verschränkt. Während der eine Arm beschäftigt ist, Indien Stück für Stück zu verscherbeln, orchestriert der andere – um vom Tun des ersteren abzulenken – einen heulenden, bellenden Chorus von Hindu-Nationalismus

und religiösem Faschismus. Er führt Nukleartests durch, schreibt Geschichts-bücher um, brennt Kirchen ab und demoliert Moscheen. Zensur, Überwa-chung, die Aussetzung ziviler Freiheiten und der Menschenrechte, die Defini-tion, wer ein indischer Staatsbürger ist und wer nicht – was insbesondere mit Hinsicht auf religiöse Minderheiten von Bedeutung ist –: All das ist im Begriff, gängige Praxis zu werden.

Im März 2002 wurden im indischen Staat Gujarat 2000 Moslems in einem staatlich organisierten Pogrom hingeschlachtet. Moslemische Frauen wurden besonders furchtbar gefoltert. Sie wurden nackt ausgezogen, mehrfach ver-gewaltigt und dann lebendig verbrannt. Gebrandschatzt wurden Geschäfte, Wohnhäuser, Textilspinnereien und Moscheen.

Mehr als 150 000 Moslems wurden aus ihren Häusern vertrieben. Die wirt-schaftlichen Grundlagen der Moslemgemeinde wurden zerstört.

Während Gujarat brannte, erschien der indische Premierminister im MTV-Kanal und machte Reklame für seine neuen Gedichte. Im Januar 2003 wurde die Regierung, die das Morden organisiert hatte, mit einer komfortablen Mehrheit im Amt bestätigt. Niemand wurde für den Genozid bestraft. Naren-dra Modi, Architekt des Pogroms, stolzes Mitglied des RSS, hat seine zweite Amtszeit als Gouverneur von Gujarat begonnen. Wenn er Saddam Hussein gewesen wäre, dann wäre selbstverständlich jede seiner Grausamkeiten von CNN gezeigt worden. Aber da er’s nicht ist – und da der indische »Markt« für globale Investoren offen steht –, war das Massaker aus solchem Blickwinkel noch nicht einmal das, was man als peinliche Unannehmlichkeit bezeichnen könnte. Es gibt mehr als 100 Millionen Moslems in Indien. Eine Zeitbombe tickt in unserem uralten Land.

Alles dies muss hier gesagt werden, weil es zeigt, dass es ein Mythos ist, dass der freie Markt nationale Barrieren zerschlägt. Der freie Markt bedroht nicht die nationale Souveränität. Er untergräbt die Demokratie.

Während der Abstand zwischen Arm und Reich immer größer wird, ver-stärkt sich der Kampf um die Ressourcen. Um ihre »Liebeshändel« durchzu-bringen, also: Um die Saaten, die wir pflanzen, das Wasser, das wir trinken, die Luft, die wir atmen, und die Träume, die wir träumen, an sich zu reißen, ist die korporative Globalisierung auf eine internationale Konföderation loya-ler, korrupter, autoritärer Regierungen in den ärmeren Ländern angewiesen, die unpopuläre Reformen durchsetzen und Revolten ersticken.

Die korporative Globalisierung – oder sollen wir sie beim Namen nennen:

der Imperialismus – braucht eine Presse, die vorgibt, frei zu sein. Sie braucht Gerichte, die so tun, als sprächen sie Recht.

Während dessen verbarrikadieren die Länder des Nordens ihre Grenzen und häufen Massenvernichtungswaffen auf. Schließlich müssen sie sicherge-hen, dass es nur Geld, Waren, Patente und Dienstleistungen sind, die globali-siert werden – und nicht etwa das freie Sich-bewegen-Dürfen der Menschen.

Nicht etwa der Respekt für Menschenrechte. Nicht etwa internationale Verträ-ge Verträ-geVerträ-gen Rassendiskriminierung oder chemische und nukleare Waffen oder gegen Treibhausgasemissionen und Veränderungen des Klimas. Dies – all die-ses – ist »Imperium«: diese loyale Konföderation, diese obszöne Anhäufung der Macht, diese so gewaltig vergrößerte Distanz zwischen denen, die Ent-scheidungen treffen, und denen, die diese EntEnt-scheidungen ausbaden müssen.

Unser Kampf, unser Ziel, unsere Vision einer anderen Welt muss es sein, diese Distanz zu beseitigen.

Wie widerstehen wir dem »Imperium«?

Die gute Nachricht ist, dass wir gar nicht so schlecht agieren. Wir haben große Siege erfochten. Hier in Lateinamerika gab es viele – in Cochabamba in Boli-vien, zum Beispiel. In Peru gab es den Aufstand in Arequipa. In Venezuela hält sich Präsident Hugo Chavéz, trotz aller Anstrengungen der US-Regierung. Und der Blick der Welt ruht auf dem argentinischen Volk, das versucht, sein Land aus der Asche der vom IWF verursachten Zerstörung wieder aufzubauen.

In Indien gewinnt die Bewegung gegen die korporative Globalisierung an Dynamik und ist bereit, die einzige wirkliche politische Kraft der Opposition gegen den religiösen Faschismus zu werden. Was die glitzernden Botschafter der korporativen Globalisierung betrifft – Enron, Bechtel, WorldCom, Arthur Anderson –: Wo waren die im vergangenen Jahr, und wo stehen sie heute?

Und natürlich sollten wir hier für Brasilien fragen: Wer war der Präsident im vergangen Jahr, und wer ist es heute?

Natürlich: Immer noch erleiden viele von uns dunkle Augenblicke der Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung. Wir wissen, dass unter dem schützen-den Schirm des Kriegs gegen schützen-den Terrorismus die Männer in Anzügen hart am Arbeiten sind.

Während Bomben auf uns herunterfallen und Marschflugkörper über den Himmel schießen, wissen wir, dass Verträge unterzeichnet und Patente regis-triert werden, Ölpipelines verlegt und Rohstoffe geplündert werden, dass das Wasser privatisiert wird und Bush gegen den Irak in den Krieg ziehen will.

Wenn wir uns diesen Konflikt als ein direktes Duell zwischen dem »Impe-rium« und denen unter uns, die ihm widerstehen, ansehen, mag es scheinen, dass wir ihn verlieren. Aber es gibt eine andere Sichtweise. Wir alle, die wir hier versammelt sind, haben, jeder auf seine Weise, das »Imperium« belagert.

Wir haben es vielleicht nicht auf seinen Gleisen zum Stillstand gebracht, aber wir haben es entblößt. Wir haben es dazu gebracht, seine Maske fallen zu lassen. Wir haben es ins Freie gezwungen. Es steht nun vor uns auf der Welt-bühne in all seiner brutalen, nackten Niederträchtigkeit.

Das »Imperium« kann zwar in den Krieg ziehen, aber es ist nun im Freien – und es ist zu hässlich, sich sein eigenes Spiegelbild ansehen zu können. Zu hässlich sogar, seine eigenen Leute an sich zu binden. Binnen kurzem wird die

Mehrheit des amerikanischen Volkes zu unseren Verbündeten zählen. Erst vor einigen Tagen sind in Washington eine Viertel Million Menschen gegen den Irakkrieg auf die Straße gegangen. Mit jedem Monat gewinnt der Protest an Stärke.

Vor dem 11. 9. hatte Amerika eine geheime Geschichte. Verborgen vor allem vor dem eigenen Volk. Aber nun sind Amerikas Geheimnisse Geschichte, und seine Geschichte ist öffentlich bekannt. Sie ist Straßengespräch.

Heute wissen wir, dass jedes zur Eskalierung des Irakkriegs verwendete Argument eine Lüge ist. Das lächerlichste von diesen Argumenten war das vermeintlich tiefe Bestreben der Vereinigten Staaten, dem Irak die Demokratie zu bringen.

Menschen zu morden, um sie vor Diktatur oder ideologischer Korruption zu bewahren, ist natürlich ein alter Sport der US-Regierung. Hier in Lateina-merika wisst Ihr das besser als die meisten anderen.

Niemand bezweifelt, dass Saddam Hussein ein skrupelloser Diktator ist, ein Mörder – aber einer, dessen schlimmste Exzesse von den Regierungen der Vereinigten Staaten und Großbritannien unterstützt wurden. Es besteht kein Zweifel, dass das irakische Volk ohne ihn besser dran wäre.

Aber wenn man es so sieht, wäre die ganze Welt ohne einen bestimmten Mr. Bush besser dran. Tatsächlich ist der viel gefährlicher als Saddam Hussein.

Soll das heißen, dass wir Bush aus dem Weißen Haus bomben sollten?

Es ist ganz klar, dass Bush entschlossen ist, seinen Krieg gegen den Irak durchzuziehen – ohne Würdigung der Tatsachen und ohne Rücksicht auf die internationale öffentliche Meinung. In ihrem Bemühen, Alliierte zu rekrutie-ren, sind die Vereinigten Staaten bereit, Tatsachen einfach zu erfinden. Die Scharade mit den Waffeninspektoren ist eine beleidigende Konzession der US-Regierung an eine seltsam verdrehte Form der internationalen Etikette. Es ist, als ließe man ein »Katzentürchen« offen, durch das einige »Alliierte der letz-ten Stunde« oder vielleicht die Vereinletz-ten Nationen noch durchschlüpfen könnten.

Aber wie auch immer man es sieht: Der neue Krieg gegen den Irak hat be-gonnen.

Was können wir tun?

Wir können unser Gedächtnis schärfen, wir können aus der Geschichte lernen.

Wir können fortfahren, die öffentliche Meinung aufzubauen, bis sie zu einem ohrenbetäubenden Aufschrei wird.

Wir können den Krieg gegen den Irak zu einem gläsernen Aquarium der Exzesse der US-Regierung erklären.

Wir können George Bush und Tony Blair – und ihre Alliierten – als genau diejenigen feigen Babymörder, Wasservergifter und hinterhältigen Bomben-werfer herausstellen, die sie sind.

Wir können den zivilen Ungehorsam auf millionenfach verschiedene Weise wieder erfinden. Mit anderen Worten: Wir können auf millionenfach verschie-dene Weise zu einer Art kollektivem Dauerschmerz werden.

Wenn George Bush sagt: »Ihr seid entweder mit uns, oder ihr seid mit den Terroristen!«, dann sagen wir: »Nein, danke.« Wir können ihn wissen lassen, dass die Völker der Welt nicht nur die Wahl zwischen einer bösartigen Mickey Mouse auf der einen und verrückten Mullahs auf der anderen Seite haben.

Unsere Strategie sollte sein, das Imperium nicht nur zu konfrontieren, son-dern es auch zu belagern; es um den Sauerstoff zu bringen; es zu erniedrigen;

uns über es lustig zu machen. Wir tun dies mit unserer Kunst, unserer Musik, unserer Literatur, unserer Beständigkeit, unserer Freude, unserer Intelligenz, unserer schlichten Unermüdbarkeit und unserer Fähigkeit, unsere eigenen schichten zu erzählen. Geschichten, die andere sind als die, an die wir mit Ge-hirnwäsche zu glauben gewöhnt werden.

Die korporative, konzerngeführte Revolution wird zusammenbrechen, wenn wir uns weigern, zu kaufen, was sie verkaufen – ihre Ideen, ihre Versionen der Geschichte, ihre Kriege, ihre Waffen, ihren Begriff von der Unvermeidlichkeit.

Erinnern wir uns: Wir sind viele, und sie sind wenige. Sie brauchen uns mehr als wir sie.

Eine andere Welt ist nicht nur möglich; sie ist auf dem Weg. An einem stillen Tag kann ich sie atmen hören.

PETER WATERMAN

Die Bewegung für globale Gerechtigkeit und

Im Dokument Rosa-Luxemburg-Stiftung Texte 15 (Seite 98-102)