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Vom unpolitischen Protest zur Bewegungsgesellschaft

Im Dokument „Aber nicht so!“ (Seite 82-90)

Während die Planungswissenschaft trotz „collaborative turn“ die Grenzen zwischen unter-schiedlichen Akteuren in der Regel aufrecht erhält (vgl. 2.2.3), hat in der sozialwissenschaftli-chen Protest- bzw. Bewegungsforschung auch hier ein Paradigmenwechsel stattgefunden, der nicht zuletzt auch durch entsprechende Ansätze der Demokratietheorie beeinflusst wurde. Pro-test wird dort nunmehr in weiten Teilen als „Politik mit anderen Mitteln“ verstanden (Ober-schall 1973, Tilly 1978; vgl. Maney et al. 2012:xiv). Hieraus konnte letztlich auch die wesentli-che Folgerung entstehen, Protest als spezifiswesentli-che Strategie (3.4.1) innerhalb des demokrati-schen192 politischen Systems (3.4.2) und „normale“ Form politischer Partizipation193 (3.4.3) zu

191 McAdam et al. (2001:22) verweisen zudem darauf, dass dieser Wandel nicht nur für ihren Contentious-politics-Ansatz gilt, der sowohl hinsichtlich der rationalistischen als auch hinsichtlich vieler kultureller bzw. relationaler Ansätze integrie-rend wirkt:

„Something similar has happened to rational action analysts, who increasingly conceive of principal-agent prob-lems, relations to third parties, multiparty games, and similar relational phenomena as strongly affecting initiation, processes, and outcomes of contentious politics.“

Allerdings verweisen sie auch mit Bates (et al. 1998) darauf, dass weiterhin erhebliche Unterschiede zwischen den – bei Jasper (2004:1f.) ja ebenfalls als strukturalistische angesehenen – relationalen und den meisten rationalistischen Konzep-ten bestehen, so McAdam et al. (2001:23f.).

192 Dass Demokratie die Grundannahme für die theoretischen und empirischen Erkenntnisse dieser Arbeit ist, wird bereits in 1.4.1 ausgeführt.

193 So gehen Geißel/Thillman (2006:178) davon aus, dass die Bewegungsforschung erst „in den 1970er Jahren im Zuge der partizipatorischen Revolution [entstand] und [...] sich schnell zu einem wichtigen Zweig der Partizipationsforschung [ent-wickelte].“

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begreifen. Auch bestehen Tendenzen, diese Partizipationsform als Besonderheit einer das ge-genwärtige politische System auszeichnenden „Protestgesellschaft“ zu verstehen (Pross 1992, 3.4.4).

Sämtliche Ansätze, die Protest als Politik begreifen, bauen auf einer Vorstellung von Protest als kollektivem Handeln auf (3.2). In der Protestforschung wurde das Verhältnis von Politik und Protest selten spezifiziert, 194 bis der Protestzyklus der 1960er Jahre „an intimate relationship to politics“ offenbarte (Tarrow 2011:23).195 In der Bewegungsforschung wird nunmehr häufig durch den Zusammenschluss bzw. den Akt der Vereinigung bereits ein wesentliches Element des „Politischen“ gesehen (vgl. etwa Tarrow 2011:4, 7, Goodwin/Jasper 2003:3, Warren 2001, 3.1.1). Damit wird Protest zunächst mit anderen Formen kollektiven politischen Handelns ver-gleichbar und eine Beziehung zwischen diesen Formen begründbar.196

An dieser Stelle ist es hingegen wichtig, einem möglichen Missverständnis vorzubeugen: Für den politischen Pluralismus Mitte des 20. Jahrhunderts war es typisch, Protest als unerwünscht, ja schädlich zu begreifen.197 Diese Auffassung wurde von nachfolgenden Generationen von Wissenschaftler/innen – einschließlich der Vertreter/innen partizipativer Planung – jedoch stark kritisiert und durch das neue – letztlich normativ begründete198 – Paradigma politischen Pro-tests ersetzt. Damit wurde es überhaupt erst möglich, Protest als Politik anzusehen. Der Para-digmenwechsel macht es jedoch keineswegs erforderlich, sämtliche Proteste als Politik zu be-greifen, sondern ermöglicht vielmehr eine Unterscheidung zwischen politischem und unpoliti-schem Protest. Zur Vereinfachung soll hier allerdings für unpolitische Proteste der Begriff „Be-schwerde“ verwendet werden (vgl. Goodwin/Jasper 2003:3, 3.2).

3.4.1 Protest als politische Strategie

Dass es auch jenseits normativer Überlegungen für eine wissenschaftliche Untersuchung von Protest sinnvoll ist, ihn – zumindest in bestimmten Fällen – als politisch zu begreifen, zeigt sich auch darin, dass der Paradigmenwechsel empirisch untermauert wurde. Dies bedeutet, dass die modellhafte Vorstellung von Protest als Politik zumindest bestimmten realen Phäno-menen besser entspricht. Auf Grundlage der in den frühen 1970er Jahren entstandenen Theo-rien rationalen Handelns und der Ressourcenmobilisierung wurden innerhalb Sozialer Bewe-gungen Prozesse der Netzwerkbildung sowie der individuellen und kollektiven Zielverfolgung

194 Auf die dadurch weitgehend abgelöste Konzeptualisierung von Protest als per se „unpolitischer“ Handlung soll hingegen nicht dezidiert eingegangen werden. Auch erscheint ein Verweis auf die Ausführung zu Protest als rationalem Handeln hier ausreichend (3.2.2, 3.2.3). Trotz der ökonomischen Basis dieser Ansätze erwächst gerade aus dieser Denkweise auch die Grundlage für ein Verständnis von Protest als Politik. Solange Protest als irrationales Verhalten verstanden wurde, war er gleichsam „unpolitisch“.

195 Obwohl die Verbindung von Protestzyklus und Wissenschaft zu diesem Paradigmenwechsel führte, wird nicht von einer parallelen Veränderung des Untersuchungsgegenstands ausgegangen. Vielmehr bemühen sich die Autor/inne/n dieser Zeit darum, die Bewegungstheorie historisch zu begründen. So sieht Tilly (2004:3) darin ein grundlegendes modernes Phäno-men:

„Although popular risings of one kind or another have occured across the world for thousands of years, [SM] ex-isted nowhere in the world three centuries ago. Then, during the later eighteenth century, people in Western Europe and North America began the fateful creation of a new political phenomenon. They began to create social move-ments.“

196 Gleichzeitig entsteht hieraus aber letztlich auch die Notwendigkeit, das Spezifische des Protests näher zu beschreiben.

Dies soll allerdings erst im Analyserahmen in 5.2.2 und konkreten Untersuchungsgegenstand in 5.4.1 erfolgen.

197 So gibt Dahl (1961:321), zit. in Gamson (1990 [1975]:11) das Argument wieder, dass

„[p]ublic involvement may seem undesirable [...] for alterations in the prevailing norms are often subtle matters, better obtained by negotiations than by the crudities and over-simplifications of public debate.”

198 Vgl. etwa Tillys (2004:6) Hinweise auf die Bedeutung der Nomenklatur:

„Names for political episodes gain weight when they carry widely recognized evaluations and when clear conse-quences follow from an episode's acquisition of - or failure to acquire - the name. To call an event a riot, a brawl. or a case of genocide stigmatizes its participants.“

beobachtet, die denen in politischen Parteien – also der bis dato zentralen Form politischer Ver-einigung – stark ähnelten (Tarrow 2011:23). Entsprechend wurde bereits hier von Protest als

„Politik mit anderen Mitteln“ gesprochen – ohne dass daraus bereits eine Integration in das po-litische System oder gar eine Gleichsetzung resultiert hätte (vgl. 3.4.3).199

Erst Gamsons Untersuchung zur „Strategy of social protest“ widerlegte erstmals und wiede-rum empirisch200 die zentralen pluralistischen Annahmen, dass nur gesellschaftlich anerkannte Ziele und Werte erfolgreich durchgesetzt werden können, wenn sie mit solchen Mitteln verfolgt werden, die institutionell vorgegeben werden (1990 [1975]).201 Die Durchsetzung von neuen, nicht akzeptierten Zielen durch Protest wäre damit generell erfolglos (vgl. Tarrow 2011:7, 3.7.1) – und letztlich irrational. Gamson zeigte hingegen, dass Protest sehr wohl eine geeignete Strategie202 zur Durchsetzung von politischen Zielen darstellen kann (1990 [1975]:141ff.).

Mehr noch: „Some of these unruly and scrappy challengers do eventually become members [of the political elite]“ (Gamson 1990 [1975]:143): Die zunächst als außerhalb der institutionali-sierten Politik angesehenen Protestierenden können zu einem Teil der politischen Elite werden, nachdem sie diese Strategie angewendet haben.

Bereits im Entstehen von Protest zeigt sich für Gamson die „Normalität“ des Protesthandelns (beide 1990 [1975]:14):203 „To be a member of a challenging group may involve no more than a psychological commitment as with ‘membership’ in [a political] party“204 Auch bedarf es für eine solche „challenging group“ebenfalls nicht mehr als „[being] capable of taking action, of holding meetings, planning, issuing statements, calling demonstrations, and raising

money“ und damit weit weniger, als für die Bildung anderer politischer Organisationen.205 Wichtiger ist aber, dass Gamson davon ausgeht, dass auch die Zielsetzungen von Protestnetz-werken denen anderer politischer Organisationen ähneln – und letztlich niemals monothema-tisch, rein anlassbezogen auf die Behebung eines Problems beschränkt oder auch nur an „sozia-lem Wandel“ interessiert sind (1990 [1975]:14).206 Vielmehr sieht er stets eine Verbindung von drei strategischen Zielsetzungen, mit denen zudem unterschiedliche Adressat/inn/en von Pro-test einhergehen: Erstens gibt es Personen, deren Handeln durch den ProPro-test verändert werden soll (Einfluss), zweitens Personen, die zu einer Protestteilnahme motiviert werden sollen (Mo-bilisierung), und drittens Personen, die durch die Durchsetzung der Protestforderung einen ma-teriellen Vorteil erhalten (Nutzen).

199 Gamson formuliert es etwas anders, wenn er schreibt: „In place of the old duality of extremist politics and pluralist poli-tics, there is simply politics.“ Dies führt allerdings einerseits bereits zu einer Überwindung der Grenzen institutionalisier-ter und nicht-institutionalisierinstitutionalisier-ter Politik hin, andererseits wird in dieser knappen Formel nicht hinreichend deutlich, dass die von Gamson „extremist politcs“ genannten Politikformen häufig für unpolitisch gehalten wurden.

200 Gamson (1990 [1975]:21) untersucht in einer historischen Längsschnittanalyse 53 Protestgruppen zwischen 1800 und 1940 in den USA, womit mögliche Veränderungen der Protestakteure durch die politischen Wandlungen nach 1968 nicht untersucht werden. In der zweiten Auflage diskutiert Gamson (1990 [1975]:ii-iv, 145-180) allerdings die Gültigkeit seiner Ergebnisse in einem ergänzenden Kapitel „Challengig Groups Since 1945“.

201 Die beiden zentralen politikwissenschaftlichen Annahmen des Pluralismus seien hier vollständig mit Gamson (1990 [1975]:12) wiedergegeben:

„1. Only those groups whose objectives leave intact pluralist social structure and values will be ‘successful’. Parti-cipation and success is denied to those who attack and try to change the pluralist order itself.

2. Only those groups which use institutionally provided means will be successful – in particular, the electoral system and the political pressure or lobbying system. Those who resort to the tactics of the street will be unsuccessful.“

202 Vgl. zur späteren Kritik am Fehlen einer dezidierten Untersuchung dieser Strategie 3.3.2.

203 Wie in 3.5 ausgeführt wird, war die Protestgenese zuvor häufig das zentrale Forschungsinteresse, weil entweder hierin ein irrationaler Akt gesehen wurde oder damit erhebliche Risiken verbunden werden. Im Zuge des Paradigmenwechsels sank hingegen das Interesse an der Protestentstehung bzw. -formation.

204 Dies muss allerdings laut Gamson (1990 [1975]:14) nicht für jede „challenging group“gelten: „With others it may involve a set of concrete acts including blood oaths and other rituals“.

205 Nachfolgende Arbeiten stellten allerdings eher die Schwierigkeit und Seltenheit der Protestformation heraus. Vgl. 3.5, 3.6.

206 Vgl. entsprechende Definitionsansätze zu Sozialen Bewegungen in 3.1.1.

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Indem Gamson diese „effects of strategic choice“ herausstellt (Jasper 2004:2), zeigt er erst-mals (Maney et al. 2012:xiv), dass Protest ein effektives politisches Handeln sein kann, wenn-gleich er den vollen strategischen Umfang und insbesondere die damit verbundenen Entschei-dungen noch nicht vollständig erfasst (Meyer/Staggenborg 2012:6, Jasper 2004:2; vgl. 3.3.2).

So lässt sich aus den Erkenntnissen Gamsons über Proteste in den Vereinigten Staaten des 19.

und frühen 20. Jahrhunderts ein weiter Bogen spannen zum aktuellen Befund einer „Bewe-gungsgesellschaft“,207 in der Protest als politische Strategie von unterschiedlichen Akteuren

„modular“ eingesetzt wird (Tarrow 1993; vgl. McPhail 2013):

„Protest ist nicht länger eine spezifische Waffe der Ausgegrenzten, er sickert in alle so-ziale Gruppen und Schichten ein. Selbst Zahnärzte greifen zum Mittel des kollektiven Protests, um ihre beruflichen Interessen zu wahren. Auch scheint sich die enge Bindung bestimmter Protestformen an bestimmte Protestinhalte aufzulösen. Protest wird, wie es Sidney Tarrow genannt hat, ‚modular‘.“ (Rucht 2.3.2002)

3.4.2 Protest als politische Partizipation

Die Neuinterpretation von Protest als Politik führte letztlich auch dazu, dass nicht nur in der Protest- und Bewegungsforschung, sondern verstärkt auch in der Demokratie- und Partizipa-tionsforschung über Protest nachgedacht wurde – hier nunmehr verstanden als ein spezifischer Typus politischer Partizipation (vgl. 3.1.1). Zwei Aspekte sollen aus diesem Diskurs, der an dieser Stelle nur begrenzt gewürdigt werden kann (vgl. insg. Hoecker 2006b, 2006c, Gei-ßel/Thillman 2006), angeführt werden: Erstens die Implikation des Demokratie- bzw. Politik-verständnisses für die Konzeptualisierung von Protest und zweitens die Einordnung des Pro-testrepertoires in eine allgemeine Formenlehre politischer Partizipation.

Die verschiedenen Ansätze der Demokratietheorie lassen sich mit Hoecker in ein „instrumen-telles“ oder „realistisches“ und ein „normatives“208 Demokratieverständnis unterteilen (2006c:3ff.). Grundlage des „instrumentellen“ Verständnisses ist einerseits der Wunsch nach einer funktionierenden Massendemokratie (Berelson et al. 1975:101), die durch zu umfangrei-che und eigenständige Partizipation ihrer Bürger/innen vor Kapazitätsproblemen stünde, und andererseits die „realistische“ Einschätzung, „den mündigen Bürger weitgehend für eine Fik-tion [zu halten]“ (Hoecker 2006c:5 mit Verweis auf Schumpeter 1942). Die Lösung besteht da-rin, Partizipation innerhalb einer repräsentativ-demokratischen „Elitenherrschaft“ (Wiesendahl 1981:64) zum einen nur auf einen rechtlich vorgegebenen Rahmen zu begrenzen (Verba et al.

1980:46) und ihr Ziel zum anderen darin zu sehen, „Einfluss auf politische Entscheidungen zu nehmen“ (Kaase 1992:339) und nicht etwa selber politisch zu handeln oder gar zu entscheiden.

Partizipation findet allein innerhalb der politischen Sphäre als „marktanalog[er] Wettbewerb zwischen konkurrierenden (Partei-)Eliten“ in formalisierter und generalisierter Form statt (vgl.

insg. Schultze 1995:402), da diese Verfahren die Übertragung von Handlungsvollmacht an die politischen Eliten legitimieren (Luhmann 1989).

Im Gegensatz zu dieser Vorstellung von „Demokratie als Methode“ geht der normative Ansatz davon aus (Hoecker 2006c:3; vgl. im Folgenden 6-9), dass Partizipation nicht weniger als „den Schlüssel zur Selbstverwirklichung des Menschen dar[stellt]“ (Schultze 1995:398). Sie wird definiert als „taking part in the process of formulation, passage and implementation of public policies“ (Parry et al. 1992:16) und quasi als Maßeinheit der Demokratie verstanden: „Wo nur

207 Vgl. hierzu auch Gamsons (1989) eigene Reflektionen über die zeitliche Kontextualisierung seiner Forschungsarbeit.

208 Der Begriff ist m. E. insofern unglücklich, als er impliziert, das „instrumentelle“ Verständnis beruhe nicht auf normativen Paradigmen.

wenige an Entscheidungen teilhaben, da ist wenig Demokratie, je mehr Partizipation in Ent-scheidungen gegeben ist, desto mehr ist Demokratie zugegen“ (Verba/Nie 1972:1, Überset-zung: Hoecker 2006c:6f.).

Aus dieser Darstellung wird rasch deutlich, dass sich Protest nur innerhalb des „normati-ven“ Demokratieveständnisses überhaupt als politische Partizipation fassen lässt. Insofern wer-den auch zumindest auf paradigmatischer Ebene Bezüge zwischen der neueren Bewegungsfor-schung und der „normativen“ Demokratietheorie deutlich. Gleichzeitig zeigt sich aber auch, dass die ausschließliche Verknüpfung mit „normativen“ Ansätzen dahingehend problematisch ist, als auch hier Proteste im Gegensatz zu Gamson nicht „instrumentell“ betrachtet werden (1990 [1975]; vgl. 3.4.1). Sie werden als Teil der Demokratie angesehen, ihre genaue Rolle und die Funktionsweise, wie sie mehr Demokratie bewirken, bleibt allerdings zunächst unklar.209 Entsprechend lässt sich daraus weder für Protestakteure noch für ihre unterschiedlichen Adres-saten die Effektivität einer Proteststrategie ablesen. Zwar lassen sich politische Systeme nach dem Grad ihrer Demokratisierung und Individuen nach dem Grad ihrer Teilhabe unterscheiden, weniger aber unterschiedliche Partizipationsformen beurteilen.

Diese analytische Kritik lässt sich zudem mit der Beobachtung verbinden, dass im Zuge der

„partizipatorischen Revolution“ politische Partizipation heute vielfältiger ist (Kaase 1981) und die unterschiedlichen „modularen“ Strategien von den Bürger/inne/n ganz selbstverständlich genutzt werden (Geißel/Thillman 2006:163; vgl. Tarrow 1993, Rucht 2.3.2002, 3.4.1). Dieser Gedanke wird in der Diskussion der empirischen Befunde dieser Arbeit im Schlusskapitel aus-führlicher aufgegriffen (16.1).

In der Partizipationsforschung bleibt die Unterscheidung weiterhin bedeutsam,210 auch wenn sich daraus möglicherweise ein Bruch mit der demokratietheoretischen Basis ergibt, der letzt-lich Kritik zumindest an der verwendeten Nomenklatur evozieren muss (s. u.). Die in der Regel zunächst dualistischen Systematisierungen unterscheiden etwa zwischen „repräsentativ-demo-kratisch“ und „direkt-demo„repräsentativ-demo-kratisch“ (vgl. auch insg. Hoecker 2006c:9; vgl. Schultze

1998:470f.), „verfasst“ und „unverfasst“ (bzw. „institutionalisiert“ und „nicht-institutionali-siert“, Kaase 2003:496), „legal“ und „illegal“ (Kaase/Neidhardt 1990:7ff.) oder auch „konven-tionell“ und unkonven„konven-tionell“ (Barnes/Kaase 1979, Übersetzung: Hoecker 2006c:11). Auf-grund der begrifflichen Vielfalt hat Uehlinger einen Vorschlag zur Vereinheitlichung unterbrei-tet, der zunächst zwischen „konventionell/verfasst“ und „unkonventionell/unverfasst“ unter-scheidet, um dann die „unkonventionellen“ bzw. „unverfassten“ Partizipationsformen abge-schichtet als „legal“ oder „illegal“ und schließlich die „illegalen“ hinsichtlich ihrer Gewaltför-migkeit zu unterscheiden (1988:67ff.; vgl. Hoecker 2006c:10f., Abbildung 3.1).

Eine solche Einordnung der heterogenen Partizipationsformen führt mittlerweile wohl zwangs-läufig zu Widerspruch. Die Bezeichnungen bedeuten nicht nur eine Abgrenzung211 und Stigma-tisierung des „direkt-demokratischen“ Engagements, das in der „normativen“ Theorie ja gerade für seine Demokratisierungswirkung hervorgehoben wird (Tilly 2004:6). Dem wäre bereits durch eine andere Benennung beizukommen.212 Vielmehr bestehen erhebliche Bedenken, ob mit der Weiterentwicklung des Partizipationsrepertoires und von Institutionalisierungsformen

209 Vgl. für die Perspektive der Bewegungsforschung auf Demokratisierung 3.4.4.

210 Geändert hat sich allerdings, dass nunmehr vor allem die Partizipationsformen unterschieden werden und weniger die In-dividuen, die etwa von Milbrath (1965) in „Inaktive", „Zuschauer“ und „Gladiatoren“ aufgeteilt wurden. Hoecker (2006c:9) bezeichnet dies allerdings als „[e]indimensional[..]“.

211 Man beachte, dass sie in der Regel nicht eigenständig beschrieben werden, sondern lediglich per Vorsilbe von den im klas-sischen Partizipationsverständnis einzigen Formen abgegrenzt werden.

212 Inglebart (1997:313) etwa schlägt ähnlich dem Contentious-Politics-Ansatz „die Eliten herausfordernde Aktivitäten“ vor.

Vgl. Hoecker (2006c:10).

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eine stringente Einteilung überhaupt noch möglich ist (Deth 2003:175). Vormals möglicher-weise „unkonventionelle“ Partizipationsformen sind „zu einem festen Bestandteil im Partizipa-tionsrepertoire der Bürger und Bürgerinnen geworden“ (Hoecker 2006c:11), die hier selbst gar keine Unterscheidung mehr treffen „sondern [...] sich auf verschiedene Weisen für ihre Interes-sen und Werte [einsetzen]“ (Geißel/Thillman 2006:163). Schließlich lässt sich auch eine Kopp-lung von Partizipationsform und Institutionalisierung nur noch bedingt feststellen: Protestnetz-werke und Soziale Bewegungen haben eigene Organisationen geformt, um ihr „unkonventio-nelles“ Repertoire effektiver zu nutzen213 und „verfasste“ politische Vereinigungen wie Par-teien sind an der Veranstaltung „unkonventioneller“ Partizipationsformen wie etwa Demonstra-tionen oder PetiDemonstra-tionen im weiteren Sinne beteiligt oder initiieren diese sogar eigenständig (Messinger 2015).

Dimension politischer Partizipation Formen politischer Partizipation Konkreter Akt politischer Partizipation Konventionell/verfasst Staatsbürgerrolle

Parteiorientierte Partizipation

Sich an Wahlen beteiligen

In eine Partei eintreten, aktiv mitarbeiten

Unkonventi- onell/unver-fasst

Legal Problemorientierte Partizipation Mitarbeit in einer Bürgerinitiative Teilnahme an genehmigter Demonstration Unterschriften sammeln

Sich in Versammlungen an öffentlichen Dis-kussionen beteiligen

Illegal Gewaltlos Ziviler Ungehorsam Teilnahme an verbotener Demonstration Beteiligung an wilden Streiks Hausbesetzungen/Blockaden Gewaltsam Politische Gewalt Gewalt gegen Personen und Sachen Abbildung 3.1: Taxonomie politischer Partizipation (Hoecker 2006c:11 nach Uehlinger 1988)

3.4.3 Protest als Teil des politischen Systems

Eben solche Schwierigkeiten der Zuordnung haben innerhalb der Protest- und Bewegungsfor-schung dazu geführt, nicht nur „the old duality of extremist politics and pluralist politics” auf-zugeben (Gamson 1990 [1975]:136ff.), sondern letztlich auch die Dichotomie zwischen „mem-bers“ und „challengers“ in Frage zu stellen (beide Gamson 1990 [1975]:3):

„[…] we challenge the boundary between institutionalized and noninstitutionalized pol-itics. […] we insist that the study of politics has too long reified the boundary between official, prescribed politics and politics by other means. As an unfortunate consequence, analysts have neglected or misunderstood both the parallels and the interactions be-tween the two.“ (McAdam et al. 2001:6)

Wenngleich es heute in weiten Teilen der Gesellschaftswissenschaften eine Selbstverständlich-keit ist, Bewegungen und Protest in diesem Sinne nicht als außerhalb des politischen Systems zu begreifen (Mayer 2006:205), bedeutet dies allerdings nicht, dass keinerlei Unterscheidungen zwischen unterschiedlichen politischen Akteuren innerhalb des Systems möglich wären oder diese nicht vollzogen würden. Die „wechselseitigen Beziehung zwischen Bewegungen und den Strukturen des institutionellen Umfelds“ sind vielmehr wesentliche Elemente zeitgenössischer Theorien wie dem Ressourcenmobilisierungsansatz und dem Ansatz der politischen Möglich-keitsstrukturen (Herkenrath 2011:33, 3.5.1, 3.5.2). 214

213 Vgl. zur Institutionalisierung von Protestorganisationen ausführlich etwa Eder (1994) oder Rucht et al. (1997), aber auch die Ausführungen in Unterkapitel 3.5.

214 Für bundesdeutsche Bürgerinitiativen führen etwa Knirsch/Nickolmann (1976:14) aus:

„Aus diesem »Kampf« heraus ergibt sich, und darauf soll hier besonders hingewiesen werden, auch immer wieder

Selbst innerhalb des Contentious Politics-Ansatzes (3.1.2), aus dem auch die zuvor zitierte For-derung stammt und an dessen Beispiel im Folgenden die Integration der – wenn man so will –

„Protestpolitik“ in das politische System erläutert werden soll, wird weiterhin davon ausgegan-gen, dass innerhalb des politischen Systems eine Unterscheidung zwischen „Insidern“ und

„Outsidern“ der politischen Elite sinnvoll ist, um das Machtgefüge zwischen den Protestieren-den und ihren „better-equipped opponents“ zu verdeutlichen (Tarrow 2011:8; vgl.3.7.3). Zu-dem besteht etwa Tarrow darauf, dass das Selbstverständnis der Protestierenden, die „usually conceive of themselves as outside of and opposite to institutions“ keineswegs ausreicht, eine entsprechende Trennung vorzunehmen (beide 2011:34): „acting collectively inserts them into complex political networks, and thus within the reach of the state.“

Statt einer starren Grenzziehung zwischen unterschiedlichen politischen Akteuren wird nun-mehr auf das jeweilige situative Gefüge hingewiesen. Grenzen werden als gesellschaftlich defi-niert verstanden. Dies beginnt letztlich bei den politisch handelnden Individuen, die unter-schiedliche Rollen spielen und unterunter-schiedlichen kollektiven politischen Akteuren angehören können. 215 Diese grundsätzliche Dynamisierung ermöglicht für die jeweilige Situation den-noch die Anwendung eines vereinfachten und statischen Modells des politischen Systems, dem Simple Polity Model nach Tilly (1978, McAdam et al. 2001:10; vgl. i. F. 10-13).

Dieses regimetheoretische Modell beschreibt ein politisches System als ein von einer Regie-rung ausgehendes Regime und der BevölkeRegie-rung, die sich in ihren „claimed jurisdictions“ be-findet (Finer 1997; vgl. auch insg. McAdam et al. 2001:10ff.). Innerhalb des Systems wird eine Reihe politischer Akteure unterschieden, wobei nur die verfassten und kollektiven Akteure216 betrachtet werden. Im Kern stehen „agents of government“ und „polity members“, die über enge Verbindungen und einen regelmäßigen Zugang zur Regierung verfügen. Ebenfalls inner-halb des Systems befinden sich „challengers“ (verfasste Organisationen ohne regelmäßigen Zugang) und weitere „subjects“, also Individuen und Gruppen, die in dieser Situation nicht als verfasste politische Akteure organisiert sind.

Trotz ähnlicher Bezeichnungen unterscheidet sich das Modell von Gamsons Ansatz dadurch, dass sich die „challengers“ bereits durch ihr kollektives Handeln innerhalb des Systems befin-den und von Beginn ihres Protests an verfasste politische Akteure darstellen (1990 [1975]; vgl.

3.4.1). McAdam et al. (2001:13) gehen sogar davon aus, dass Protest in der Regel von bereits bekannten Akteuren ausgeht („constituted contention“) und führen daher zusätzlich den Be-griff der „transgressive contention“ für Protest ein, der entweder von neuen, „self-identi-fied“ politischen Akteuren ausgeht oder innovative Handlungsformen anwendet.217 Im Rahmen

ein Wechsel zwischen Mit- und Gegeneinander, teilweise auch in Sich-gegenseitig-Ausspielen von Bürgerinitiativen und Institutionen im Repräsentativsystem unseres Staates.“

215 So formulieren McAdam et al. (2001:10ff.):

„Our second simplification concerns political actors. We will soon discover that movements, identities, govern-ments, revolutions, classes, and similar collective nouns do not represent hard, fixed, sharply bounded objects, but observers' abstractions from continuously negotiated interactions among persons and sets of persons. Since every person only displays a small portion of her wide-ranging physiological states, cognitive conditions, behaviors, and social connections in any particular situation, even persons are mucb less fixed and bounded than ordinary lan-guage suggests. Moreover, any particular person often plays parts within more than one political actor, sometimes participating as a worker, sometimes as member of a religious congregation, and so on. To get our analysis started, nevertheless, we assume that political actors consist of sets of persons and relations among persons whose internal organization and connections with other political actors maintain substantial continuity in time and space. Later we relax that confining assumption, examining ways that boundaries blur, organization changes, and political position shifts.“

216 Der Institutionalisierungsgrad ist dabei relativ niedrig gewählt. Als verfasst gelten für McAdam et al. (2001:10) „those that have names, internal organization, and repeated interactions with each other in the realm of public politics“.

217 Ausführlich bei McAdam et al. (2001:7f.):

„Contained contention refers to those cases of contention in which all parties are previously established actors employing well established means of claim making. It consists of episodic, public, collective interaction among ma-kers of claims and their objects when (a) at least one government is a claimant, an object of claims, or a party to the claims, (b) the claims would, if realized, affect the interests of at least one of the claimants, and Cc) all parties to the

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der Dynamisierung218 dieses Modells unterscheiden sie des Weiteren zwischen kontinuierli-chem und episodiskontinuierli-chem Protest (McAdam et al. 2001:9).

Trotz der zentralen Rolle, die Protest innerhalb des politischen Systems erhält, bleibt eine Un-terscheidung zu anderen Arten politischen Handelns wie „ceremony, consultation, bureaucratic process, collection of information, registration of events, and the like“ möglich. Gleichzeitig ist nicht „all of politics contentious“ (beide McAdam et al. 2001:5; vgl. 3.7.1).

3.4.4 Protestgesellschaft, Bewegungsgesellschaft

Die veränderte Sichtweise auf Protest als Politik begründete sich maßgeblich durch empirische Befunde, die zeigten, dass erhebliche Interaktionen zwischen Protest und anderen Politikfor-men stattfinden (3.4.1). Zudem besteht nunmehr weitgehende Einigkeit darüber, dass das Aus-maß politischen Protests nicht nur Phasen konjunktureller Verstärkung (Traugott 1995, Tarrow 2012:113ff.) und zeitweiser Abschwächung (Melucci 1984) durchläuft, sondern über einen län-geren Zeitraum betrachtet stetig zugenommen hat (Rucht 2006:184) und dass das Entstehen Sozialer Bewegungen ein Merkmal moderner Gesellschaften ist.219 Protest kann so als Folge gesellschaftlicher Modernisierungsprozesse verstanden werden (3.3.1), gleichzeitig werden er-hebliche Auswirkungen von Protest auf die Gesellschaft festgestellt (Tarrow 2011:8). Bereits für Blumer waren soziale Bewegungen daher „one of the chief ways through which modern so-cieties are remade“ (1957:147; vgl. Herkenrath 2011:34).

Dies führt dazu, dass von einigen Autor/inn/en Protest als spezifische Eigenschaft zeitgenössi-scher Gesellschaften angesehen wurde und Bezeichnungen wie „Demonstration

De-mocracy“220 und „Bewegungsgesellschaft“ entstanden (Neidhardt/Rucht 1993) – oder eben auch „Protestgesellschaft“ (Pross 1992)221. Mit solcherlei Zuschreibungen ist etwa eine

conflict were previously established as constituted political actors.

Transgressive contention consists of episodic, public, collective interaction among makers of claims and their ob-jects when (a) at least one government is a claimant, an object of claims, or a party to the claims, (b) the claims would, if realized, affect the interests of at least one of the claimants, (c) at least some parties to the conflict are newly self-identified political actors, and/or (d) at least some parties employ innovative collective action. (Action qualifies as innovative if it incorporates claims, selects objects of claims, includes collective self-representations, and/or adopts means that are either unprecedented or forbidden within the regime in question.)”

218 McAdam et al. (2001:12) begründen die Dynamisierung wie folgt:

„To make such a model represent dynamic political processes effectively, we must put each of the actors into mo-tion, allow for multiple governments and segments of government show coalitions as subject to growth, decline, and incessant renegotiation, and represent construction, destruction, or transformation of political actors explicitly.“

219 Am deutlichsten formuliert dies Tilly (2004:3) in seinem historischen Überblick Sozialer Bewegungen:

„Although popular risings of one kind or another have occurred across the world for thousands of years, [social movements] existed nowhere in the world three centuries ago. Then, during the later eighteenth century, people in Western Europe and North America began the fateful creation of a new political phenomenon. They began to create social movements.“

Vgl. auch Tarrow (2011:6).

220 Die Diskrepanz unterschiedlicher Protestauffassungen zeigt sich in dieser Formulierung von Etzioni (1970:Einband) be-sonders deutlich: Das weitreichende Postulat einer durch Demonstrationen geprägten Demokratie entstand als „policy-paper prepared for the Task Force on Demonstrations, Protests, and Group Violence of the [US-]President's National Commission on the Causes and Prevention of Violence“

221 Pross (1992) sei hier allerdings eher der Vollständigkeit halber und wegen seines direkten Rekurs auf Protest genannt. In-haltlich stellt sein Werk eher eine Gegenthese zu den zitierten Auffassungen dar. Einerseits zieht er die Wirksamkeit des Protests in Zweifel, wie Kraushaar 1992 ausführt:

„Der Protest enttäuscht in aller Regel die Protestierenden. Nur in den seltensten Fällen wird durch ihn das erreicht, was ursprünglich intendiert war. […] Pross zeigt, daß unter Protest, wie manche vielleicht immer noch hoffen, nicht mehr der Auftakt zu einer grundlegenden Veränderung der Gesellschaft verstanden werden sollte.“

Andererseits versucht er ebenfalls laut Kraushaaar zu zeigen, „daß es bereits im Mittelalter oder gar in der Antike jene Phänomene des artikulierten Unbehagens gab, die wir als modern zu bezeichnen geneigt sind“.

schaft gemeint „in which the line between institutional and unruly politics is increasingly era-sed“ (Tarrow 2011:34), „demonstrations are becoming part of the daily routine of our democ-racy and its most distinctive mark“ (Etzioni 1970:1) oder eine starke Verallgemeinerung von Protesthandeln stattgefunden hat:

„In der Vielzahl und Heterogenität von Bewegungen sowie ihrer Allgegenwart in na-hezu allen Politikfeldern und auf allen Ebenen (vom lokalen bis zum globalen Maßstab) liegt die Pointe des Begriffs der Bewegungsgesellschaft. Gleichzeitig findet das Instru-mentarium des zunächst vor allem Bewegungen vorbehaltenen Protests als einem Mittel rationaler und legitimer Interessenverfolgung zunehmend breitere Anerkennung und Anwendung.“ (Rucht 2.3.2002)

Allerdings bleiben solch weitreichende Vorstellungen, die insbesondere in Phasen besonders starker Protestaktivitäten entstanden, zumeist thesenhaft.222 Wenngleich diese Begriffe also nicht überstrapaziert werden sollten, zeigen sie doch, dass Protest nicht länger nur als „Normal-fall“ angesehen wird (Herkenrath 2011:34), sondern darüber hinaus eine besondere Bedeutung für die zeitgenössische Auffassung von Politik und Gesellschaft besitzt.

3.5 Vom spontanen Ausbruch zur Protestorganisation

Ressourcen, Möglichkeiten und Zyklen als Erklärung

Im Dokument „Aber nicht so!“ (Seite 82-90)

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