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Vom kollektiven Verhalten zum kollektiven Handeln

Im Dokument „Aber nicht so!“ (Seite 72-77)

Ein wesentlicher Aspekt der frühen Protesttheorien ist es, Protest als Massenphänomen und da-mit sozialpsychologisch zu begreifen. Aus der Theorie des kollektiven Verhaltens bzw. Collec-tive Behaviour-Ansatzes folgt zugleich ein Erklärungsansatz, der Protest als Reaktion „auf ra-sche Veränderungen gewohnter sozialer Ordnungen und das Versagen von etablierten Nor-men“ begreift (Herkenrath 2011:32).158 Zwar wird dieser Ansatz in seiner ursprünglichen Form heute wohl nirgends weiterverfolgt, doch ist seine Darstellung hilfreich, um den umfassenden Paradigmenwechsel der Protestforschung herauszustellen. So wird auch in diesem Unterkapitel zunächst die mittlerweile überwiegend als veraltet angesehene Auffassung des kollektiven Ver-haltens beschrieben, die die Irrationalität und das „Krankhafte“ von Protest betont (vgl. Her-kenrath 2011:34, 3.2.1). Es folgt die Kritik an dieser Vorstellung des Behaviorismus, man könne das menschliche Tun allein durch beobachtbare Veränderungen erklären (3.2.2). Der neuere Ansatz des rationalen kollektiven Handelns, der als Gegenentwurf zur Verhaltenstheo-rie im Protest ein „zielgerichtetes, absichtsvolles, subjektiv sinnvolles, bewußt entschiedenes Tun“ erkennt, wird dann in Abschnitt 3.2.3 ausgeführt. Die mit der Irrationalität ebenfalls ver-bundenen Aspekte des Krisenhaften, des Unpolitischen und Reaktiven sollen hingegen erst nachfolgend in den Unterkapiteln 3.1 und 3.4 behandelt werden.

Auf einen trotz des umfassenden Paradigmenwechsels konstanten und für das weitere Ver-ständnis elementaren Aspekt der Protest- wie auch Bewegungsforschung sei an dieser Stelle bereits verwiesen: Wie in der Bezeichnung sowohl der Theorie kollektiven Verhaltens als auch der zum kollektiven Handeln deutlich wird, wird jeweils davon ausgegangen, dass das zugrun-deliegende Phänomen eine kollektive und somit keine individuelle Praxis ist. Dies ist auch in allen nachfolgenden Ansätzen erhalten geblieben und bis heute gültig. So verwendet etwa Tarrow den Begriff der „contentious politics“ für „what happens when collective actors join forces in confrontation with elites, authorities, and opponents“ (2011:4). Er sieht Protest neben Sozialen Bewegungen und weiteren Formen als eine mögliche Folge des ihnen zugrundelie-genden „irreducible act“ der „contentious collective action“ an (beide Tarrow 2011:7, 3.1.1).

In ähnlicher Weise unterscheiden Goodwin/Jasper Protest dadurch von der (unpolitischen) Be-schwerde, dass „[humans] band together with others to change things“ (2003:3).159

3.2.1 Affekt und Emotion: Protest als gruppendynamisches Verhalten

Basierend auf Grundannahmen des massenpsychologischen Werks von Gustave Le Bon ( 1982

158 Herkenrath (2011:32) subsumiert allerdings auch weitere frühe, strukturalistische Ansätze unter den Collective Behavior-Ansatz, nämlich alle „diejenigen Ansätze, die soziale Bewegungen als Ausdruck von relativer Deprivation und entspre-chender Frustration ansehen“.

„Den Collective Behavior-Ansatz im engeren Sinne vertreten die Interaktionisten der sogenannten Chicago School (Park 1967, Park und Burgess 1921, Blumer 1949 [1946], 1955, 1957, 1971), dann Turner und Killian (Killian 1984, Turner 1964, 1969, Turner und Killian 1987 [1957]) und schließlich auch Smelser (1967 [1962]), letzterer unter Rückgriff auf die anomietheoretischen Arbeiten von Merton (z. B. 1938).“

Für weitere Ausführungen interaktionistischer Ansätze siehe auch Pollack (2000:36ff.).

159 Allerdings beschreiben Goodwin/Jasper (2003:3) noch auf der gleichen Seite, dass Protest die Handlung „by some indivi-dual or group“ sein kann. Vgl. 5.2.1.

Vom Irrationalen zum Rationalen 73

[1895]; vgl. Herkenrath 2011:33; vgl. insg. 33-35), wurden Proteste und Soziale Bewegungen zumindest bis Ende der 1960er Jahre160 als Phänomene wahrgenommen, die weitgehend spon-tan entstehen, einen unkonventionellen Charakter besitzen und in ihrem Verlauf „geradezu hyp-notisch [..]“ gruppendynamischen Mustern folgen (Herkenrath 2011:33). Daraus folgt eine Un-tersuchung aus vor allem sozialpsychologischer Perspektive, die in der Regel auf Ähnlichkei-ten mit anderen Massenphänomenen abzielt:

„Collective behavior theory posited that movements were little more than the most well-organized and most self-conscious part of an archipelago of ‘emergent’ phenomena, ranging from fads and rumors, to collective enthusiasms, riots, movements, and revolu-tions." (Tarrow 2011:22)

„Die Massen“ verhalten sich nach der Verhaltenstheorie auch bei der Teilnahme an Protest und Bewegung höchst „irrational“ (vgl. Geißel/Thillman 2006:171), „emotional“ (vgl. Gamson 1990 [1975]:130, 3.6.4), „erratisch“ (vgl. Neidhardt/Rucht 1991:424) und „affektiv, zuweilen sogar ‚barbarisch‘“ (Herkenrath 2011:33).161 Dieses Verhalten wird demnach auch mit dem ei-ner Massenpanik oder -hysterie gleichgesetzt.162 Entsprechend werden zur Erklärung von Pro-test in der Regel vor allem gesellschaftliche Krisen und andere strukturelle Ursachen herange-zogen (3.3.1, 3.3.2).

Zumindest der frühe sozialpsychologische Ansatz ermöglicht dabei eine Verbindung zwischen den letztlich aus dem Modernisierungsprozess folgenden gesellschaftlichen Dysfunktionen und der Protestteilnahme (Kornhauser 1959, auch Fromm 1983 [1941]), der die Motivation der Teilnehmer/innen integriert, ohne den „irrationalen“ Charakter des Protests aufzugeben (Smel-ser 1967 [1962], Turner/Killian 1987 [1957]; vgl. Tarrow 2011:22): Die Entfremdung und das Herauslösen der Individuen aus traditionellen identitätsstiftenden Zusammenhängen führt dem-nach zu Überforderung und Frustration. Der Protest bietet einerseits die individuelle „Möglich-keit, aus dem Alltag hinauszutreten und das bewusste, sozialisierte Selbst hinter sich zurück zu lassen“ (Herkenrath 2011:33) und in den potentiell gewaltsamen „Pöbelexzesse[n]“ Frustratio-nen auszuleben (vgl. Rucht 2006:205), „Bedürfnisse [...] nach Sinnhaftigkeit und Selbstwert zu stillen“ (Herkenrath 2011:33f. mit Verweis auf Cantril (2002 [1941]) und quasi eine „Ersatzi-dentität“ zu erlangen (vgl. Gamson 1990 [1975]:130). Andererseits werden Bewegungen und kollektiver Protest als Vergemeinschaftungsform begriffen, die Gruppenerlebnis und Identifika-tion – etwa mit idealisierten Führerpersönlichkeiten – ermöglicht. So nutzen die Individuen die Anonymität der „Masse“ für Exzess und Gewalt. Gleichzeitig finden sie in der Protestgemein-schaft aber einen Ersatz für das fehlende traditionelle GemeinProtestgemein-schaftserleben der Massengesell-schaft (Durkheim 1951 [1867]; vgl. Tarrow 2011:22).

160 Zur Bedeutung der 1968er für die Protestforschung vgl. Fehler: Referenz nicht gefunden. Tarrow (2011:22f.) weist aber auch auf die Bedeutung des Collective-Behavior-Ansatzes nach dieser Zäsur hin.

161 So zumindest die kritische Darstellung bei Geißel/Thillman (2006:171)), Gamson (1990 [1975]:130), Neidhardt/Rucht (1991:424)) und Herkenrath (2011:33).

162 Das verwandte, verhältnismäßig neue Konzept der „moral panics“ etwa bei Cohen (2002 [1972]) soll erklären, wie aus einer zunächst unendlichen Zahl möglicher Bedrohungen plötzlich eine besondere öffentliche Aufmerksamkeit erhält, ob-wohl diese weder neu sein noch sich kürzlich verstärkt haben muss. Protestgruppen, aber auch Medien, Politker/innen, religiöse Anführer/innen und andere Akteure dienen dabei als so genannte „moral entrepreneurs“, die die öffentliche Wahrnehmung auf ein Problem oder eine „feindliche“ Gruppe („folk devils“) lenken. Ziel können neue oder veränderte Politiken sein, aber auch gesellschaftliche Symbole und die Problemsensibilisierung – die letztlich auch als „Rohmate-rial“ für neue „moralische Paniken“ dienen kann. Die Verantwortlichen für die „moralischen Paniken“ werden in der Re-gel außerhalb der Mehrheitsgesellschaft gesehen. Entsprechend können sie uch bewusst von interessenRe-geleiteten Eliten erzeugt werden. Vgl. Goodwin/Jasper (2003:259).

3.2.2 Kritik sozialpsychologischer Ansätze

„The classical perspective is one in which organized groups seek goals, mobilize re-sources, and employ strategies, but social movements merely express reactions by the victims of social pathology. Their cries and emotional expressions are viewed as signals of the stresses and strains of society. They react, frequently violently, sensing, without really understanding, the larger social forces which buffet them.

Social movements, in this view, are one product of social disorganization, other prod-ucts include suicide, criminal behavior, and additional symptoms of a social system in trouble. The participants in social movements are the uprooted.“

Wie in dem Zitat von Gamson zum Ausdruck kommt, hinterfragt ein wesentlicher Strang der Kritik an der Theorie kollektiven Verhaltens, dass Protest nicht lediglich als gesellschaftliche Reaktion zu begreifen sei (1990 [1975]:130).163 Hier hat innerhalb der Forschung vor allem eine Neubewertung der Phänomene und ihrer Bedeutung stattgefunden (3.3.2), die maßgeblich durch die Protestereignisse Ende der 1960er Jahre ausgelöst wurden.164

Insbesondere die Vertreter/innen nachfolgender Theorien wie dem Ressourcenmobilisierungs-ansatz betonten die Rationalität des Protesthandelns (Killian 1984:779, 3.5), das zwar häufig einen spontanen Charakter aufweise, dennoch aber nicht (ausschließlich) als impulsiv, chao-tisch und emotional dargestellt werden dürfe.165 „People do not risk their own skin or sacrifice their time to engage in contentious politics unless they have good reason to do so“ (Tarrow 2011:10f.).166

Spätestens durch diese Kritik wird deutlich, wie stark die Theorie kollektiven Verhaltens durch gesellschaftliche Paradigmen geleitet war. Aus diesen Paradigmen heraus erwächst aber auch eine begrenzte Reichweite des Erklärungsansatzes. So zeigt sich, dass der sozialpsychologische Ansatz – wenn überhaupt – vor allem Erklärungen für das Entstehen von Protesten und Sozia-ler Bewegungen bietet. Diese zeichnen sich zwar durch eine Organisation und Selbstbewusst-sein aus, werden ansonsten aber anderen emergenten167 Phänomenen wie Moden, Gerüchten oder Revolutionen gleichgestellt. Unterschiede zwischen diesen Phänomenen werden kaum er-klärt, da sie innerhalb der zugrundeliegenden „functional view of society“ sämtlich als Ergeb-nis gesellschaftlicher Fehlfunktionen angesehen werden (vgl. insg. Tarrow 2011:22; vgl.

Smelser 1967 [1962]). Damit wird aber auch der spezifische Charakter des Protests nicht ge-würdigt. So fehlt es einerseits an einer Erklärung dafür, dass Protest ausbleibt, weil dies als Normalfall angesehen wird, der keiner Erklärung bedarf (Gamson 1990 [1975]:139, Tilly 1970). Andererseits werden selbst die unterschiedlichen Extreme der Abweichung von der

163 Eine Vorstellung, die sie mit der Krisentheorie und weiteren strukturalistischen Ansätzen teilt. Vgl. 3.1.

164 Einerseits stellten veränderte Akteurskonstellationen, Protestformen und -inhalte sowie politische Reaktionen bestehende Theorien in Frage, andererseits beschäftigte sich eine neue Generation von Forscher/innen mit Protestphänomenen, die nicht selten selber aktiv an den Studierendenprotesten teilgenommen haben und damit eine veränderte Perspektive in ihre Forschung einbrachten. Vgl. etwaTarrow (2011:23).

165 Vgl. Killian (1984), Turner (1964, 1969), Turner/Killian (1987 [1957]).

166 In diesem Zitat zeigt sich letztlich auch, wie stark auch das neue Paradigma von normativen Prämissen geleitet ist.

Schließlich könnte man umgekehrt auch die Irrationalität von Protest damit begründen, dass Protestierende solche Risiken auf sich nehmen.

167 Fainstein/Fainstein (1974:239f.) führen hierzu aus:

„Social movements are emergent phenomena, never assuming a permanent form. Throughout their lifespan move-ments are likely to change in size and structure, alter their strategies, and develop their ideology in response to changes in situation and internal support. Movements are explicitly goal directed and are constantly either succeed-ing or failsucceed-ing to meet their objectives. Each success or failure will affect aspects of the movement's structure and behavior. […] Because they are always in process of becoming, it is difficult to pinpoint their beginnings. Do three people meeting to discuss ways of overthrowing the government constitute a movement? […] If an organization be-gun by the three people […] turns into the Communist Party […], we would most likely describe the original meet-ing […] as start of a movement. But if the group or speaker never attracts public notice, we might withhold the la-bel.“

Vom Irrationalen zum Rationalen 75

Norm – Revolution und Führergehorsam – durch die Massenpsychologie nicht erklärt.

Weiter gefasst richtet sich dieser zweite Kritikstrang gegen die Einschränkungen, die aus der Theorie kollektiven Verhaltens für die Protest- und Bewegungsforschung erwachsen. Gamson versteht die Theorie als „Zwangsjacke“(1990 [1975]:130; eigene Übersetzung), die zu einer Ig-noranz der Bedeutung strategischen Handelns in Bewegungen durch die Forschung geführt habe. Stattdessen sei vor allem die Teilnahmemotivation der beteiligten Individuen und Grup-pendynamiken untersucht worden, während das makrosoziologische Umfeld ausgeblendet blieb.168

Die Kritik führte jedoch auch zu einer Weiterentwicklung innerhalb des Ansatzes, der bis heute nicht vollständig aufgegeben wurde (vgl. auch 3.7). So wurde unter anderem anerkannt, dass Protest trotz seiner Irrationalität Auswirkungen auf die dysfunktionalen gesellschaftlichen Un-gleichgewichte haben können, die weiterhin als Ursache für ihr Entstehen gesehen werden. Als Anzeiger gesellschaftlicher Probleme kann er nach dieser Auffassung in letzter Konsequenz so-gar dazu dienen, die soziale Ordnung wiederherzustellen (Smelser 1967 [1962]; vgl. Herken-rath 2011:36f.).

3.2.3 Kosten und Nutzen: Protest als rationales Handeln

Aus der Kritik an den Paradigmen der Theorie des kollektiven Verhaltens entstand eine Reihe neuer theoretischer Ansätze, denen ein Paradigmenwechsel weg von der Irrationalität und hin zu einem rationalen Verständnis von Protest zu Grunde liegt. Eine solche Vorstellung ist letzt-lich eine zentrale Grundlage für eine Reihe von Theorien, die in späteren Abschnitten erläutert werden:

• politische Strategie (3.4),

• Ressourcenmobilisierung (3.5.1),

• Möglichkeitsstrukturen (3.5.2),

• Protestzyklenmodell (3.5.3,

framing (3.6.1) sowie

• kollektive Identität (3.6.3) und neue Emotionalität (3.6.4)169

Aus der Rationalität des Protests folgt zudem, dass sich Protestierende nicht lediglich affektiv, reaktiv oder gar fremdgesteuert verhalten, sondern bewusst und eigenständig handeln. Einen gemeinsamen Kern der genannten Theorien bilden damit verschiedene Ansätze des rationalen Handelns und Entscheidens – wenngleich sie auch aufgrund der paradigmatischen Natur nicht immer so benannt werden.170 Obwohl diese weiterhin von Protest als einer kollektiven

168 Vgl. Aveni (1977), Jenkins (1983), Marx/Wood (1975:365), Herkenrath (2011:32f.).

169 Zur Diskussion um die Zuordnung zu den theoretischen Ansätzen des rationalen Handelns vgl. 3.6.1 und 3.6.4.

170 Die wohl wichtigsten wurden von Olson (1965), Oberschall (1973) und Gamson (1975) formuliert.

lung ausgehen, werden sie aufgrund der nun zumeist ökonomischen Erklärung für den kol-lektiven Zusammenschluss171 auch als individualistische Ansätze bezeichnet (vgl. insg. Wil-lems 1997:28ff.).172 Allerdings werden die protestierenden Individuen auch hier strukturalis-tisch stets als Teil einer Gemeinschaft betrachtet, die Makro- bleibt wichtiger als die Mikro-ebene (vgl. 3.3.2).173 Der Blick auf die Makroebene allerdings ändert sich grundlegend: Das Wie des Entstehens von Protest wird nun wesentlich bedeutender als das Warum (Melucci 1988, Tarrow 2011:24,3.1, 3.5).

Die wesentliche (neue) Grundannahme, die den verschiedenen Ansätzen der Theorie kol-lektiven Handelns zugrunde liegt, ist, dass alle „Akteure nach Nutzen- und Kostenerwägungen handeln“ (Opp 1996:223; vgl. insg. 236-239)174 – zunächst einmal unabhängig davon, ob sie zum Beispiel Protestierende, Parteipolitiker/innen oder auch Nicht-Engagierte sind.175 Doch auch darüber hinaus kann der gemeinsame Nenner176 der Ansätze über eine Reihe von Prämis-sen dargestellt werden: Das Protesthandeln findet einerseits innerhalb eines Interaktionsprozes-ses verschiedener Akteure statt und ist andererseits durch die aus der jeweiligen Akteursper-spektive gegebenen Handlungsmöglichkeiten und -beschränkungen geleitet (vgl. 3.4.3). Inso-fern geht es für die Akteure darum, die eigenen Ziele bestmöglich und mit möglichst geringem Aufwand zu erreichen. Kosten und Nutzen sind von der Situation, aber auch von den Fähigkei-ten und KapazitäFähigkei-ten der einzelnen Akteure abhängig.

Damit ermöglicht der rationale Ansatz nicht nur Aussagen darüber, wie Protest entsteht, son-dern es wird auch möglich, Verlauf und Veränderung kollektiven Handelns zu erklären, die letztlich von der Verteilung von Nutzen und Kosten bei den beteiligten Akteuren und von exo-genen Ereignissen abhängen, die diese Verteilung bzw. die Einschätzungen der Akteure über die Verteilung ändern.177

„Will man dieses Modell anwenden, um die Entwicklung von Protesten erklären, dann sind folgende Fragen zu beantworten: (1) Welches sind die individuellen Anreize für Proteste? (2) Wie haben sich diese Anreize im Laufe der Zeit verändert? (3) Welche

171 Damit folgte auch die Protestforschung dem (damaligen) Trend in den Sozialwissenschaften, die Ökonomie als Grundla-gendisziplin zu begreifen, wie Tarrow (2011:23) ausführt. Da nicht nur Protestnetzwerke oder Soziale Bewegungen als Ganzes rational handeln, sondern letztlich auf rationale Entscheidungen ihrer Mitglieder zurückgehen, bedürfen die Theo-rien einer Erklärung dafür, warum es für das einzelne Individuum rational ist, sich einem Kollektiv anzuschließen, das in der Regel für Ziele einsteht, die im Bereich der so genannten Kollektivgüter angesiedelt sind, anstatt diese Güter als

„Trittbrettfahrer“ zu nutzen, so Willems (1997:28f.). Ironischerweise haben damit ausgerechnet die den – zumeist linken – Sozialen Bewegungen nahestehenden Forscher/innen die Durchsetzung des Modells vom homo oeconimcus in der Protest-forschung forciert.

172 Hierin wird in besonderem Maße deutlich, dass mit dem Paradigmen- auch ein Perspektivwechsel weg von der Staatzent-rierung hin zu den Protestierenden einherging. Vgl. Tarrow (2011:23).

173 Eine Ausnahme mag hier die Mikroökonomie des Rational Choice-Ansatzes von Olson (1965) darstellen, den Tarrow (2011:24) dafür kritisiert, dass er, obwohl er sein Werk mit „The Logic of collecitve action“ überschrieb, wenig über die Handlungen von Gruppen als vielmehr eine Ansammlung von Individuen aussagte. Letztlich sei es für ihn das geschickte Marketing ihrer Anführer, das zum Entstehen von Sozialen Bewegungen führe Tarrow (2011:23). Damit allerdings ist es auch eine begrenzte Zahl von führenden Individuen, die innerhalb der Rational Choice-Theorie die rationalen Entschei-dungen treffen. Vgl. Jasper (2004:4).

Opp (1996:236) betont hingegen, dass der Rational Choice-Ansatz nicht von isolierten Individuen ausgehe, sondern kol-lektive Handlungen untersuche, die stets „ein Ergebnis des Interaktionsprozesses verschiedener Akteure“ darstellten.

174 Trotz dieses zunächst ökonomischen Ansatzes wird das Handeln innerhalb dieser Theorie auch als politisch begriffen.

Dieser Aspekt soll in dieser Arbeit allerdings erst in 3.4 beschrieben werden.

175 Letztlich lässt sich auch die Entscheidung, ob und in welchem Rahmen – ob Protestnetzwerk oder Partei – eine Person handelt, durch Kosten-Nutzen-Erwägungen erklären. Opp (1996:236) stellt dies wie folgt dar:

„[D]ie Art politischen Handeins [hängt] von der Art der Anreize [ab]. Wenn man z. B. glaubt, vor allem durch lega-les politisches Engagement seine Ziele erreichen zu können, dann ist dies ein Anreiz für die Entscheidung, sich in legaler Weise zu engagieren.“

176 Für eine explizite Betonung der Unterschiede vgl. etwa Willems (1997:28ff.).

177 Entsprechend haben auch spieltheoretische Ansätze Einzug in die Protestforschung gefunden. Vgl. Maney et al. (2012:xv), Jasper (2004:3).

Von der Ursache zum Anlass 77

Faktoren (exogene Ereignisse oder Verhaltensweisen von Akteuren) haben zur Verände-rung der Anreize geführt?“ (Opp 1996:237)

Obwohl die Theorie rationalen Handelns bis heute innerhalb der Protestforschung Bestand hat und weiterentwickelt wird, ist sie bereits in den 1980er Jahren mit Einsetzen des „cultural turn“ in die Kritik geraten. Parallel sind neue Ansätze entstanden, die weniger die politökono-mischen Aspekte des Protests untersuchen, als vielmehr eine kulturelle oder diskurstheoreti-sche Perspektive einnehmen (Tarrow 2011:25, 3.6). Diese Ansätze werden mittlerweile aller-dings als einander ergänzend angesehen, da davon ausgegangen wird, dass einzelne Modelle nicht in der Lage sind, das komplexe Phänomen des Protests allumfassend zu beschreiben (McAdam et al. 1996b). Gleichzeitig haben sie aber auch dazu geführt, diese Aspekte in die Theorie rationalen Handelns zu integrieren bzw. zu betonen, dass sie ohnehin Bestandteil des Modells sind. So weist Opp darauf hin, dass Nutzen und Kosten sowohl materieller als auch

„weicher“ Natur sein können und sich letztlich auch soziale oder gar emotionale Anreize in den Ansatz integrieren lassen (1996:236, 3.6.4).

3.3 Von der Ursache zum Anlass

Im Dokument „Aber nicht so!“ (Seite 72-77)

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