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Krisentheorie und strukturalistische Protestforschung

Im Dokument „Aber nicht so!“ (Seite 77-80)

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Faktoren (exogene Ereignisse oder Verhaltensweisen von Akteuren) haben zur Verände-rung der Anreize geführt?“ (Opp 1996:237)

Obwohl die Theorie rationalen Handelns bis heute innerhalb der Protestforschung Bestand hat und weiterentwickelt wird, ist sie bereits in den 1980er Jahren mit Einsetzen des „cultural turn“ in die Kritik geraten. Parallel sind neue Ansätze entstanden, die weniger die politökono-mischen Aspekte des Protests untersuchen, als vielmehr eine kulturelle oder diskurstheoreti-sche Perspektive einnehmen (Tarrow 2011:25, 3.6). Diese Ansätze werden mittlerweile aller-dings als einander ergänzend angesehen, da davon ausgegangen wird, dass einzelne Modelle nicht in der Lage sind, das komplexe Phänomen des Protests allumfassend zu beschreiben (McAdam et al. 1996b). Gleichzeitig haben sie aber auch dazu geführt, diese Aspekte in die Theorie rationalen Handelns zu integrieren bzw. zu betonen, dass sie ohnehin Bestandteil des Modells sind. So weist Opp darauf hin, dass Nutzen und Kosten sowohl materieller als auch

„weicher“ Natur sein können und sich letztlich auch soziale oder gar emotionale Anreize in den Ansatz integrieren lassen (1996:236, 3.6.4).

3.3 Von der Ursache zum Anlass

aktion mit dem soziokulturellen Umfeld attestiert, die in Teilen zu einer Rückbesinnung zu äl-teren sozialpsychologischen Traditionen geführt hat (3.6, insbesondere 3.6.2, 3.6.4).179 In diesem Unterkapitel soll erstens vor allem der krisentheoretische Ausgangspunkt im Mittel-punkt stehen, um ihm zweitens den bisherigen EndMittel-punkt entgegenzusetzen. In Abschnitt 3.3.1 folgt zunächst eine kritische Darstellung der verschiedenen Varianten der Krisentheorie als der eindeutigsten Form struktureller Erklärungsansätze für Protest und Bewegung. In Abschnitt 3.3.2 werden aktuelle Tendenzen innerhalb der Bewegungsforschung beschrieben, die solche Vorstellungen gänzlich zugunsten eines handlungstheoretischen Modells aufgeben.180

Letzteres stellt einen Vorgriff dar, da der handlungstheoretische Ansatz nicht nur die Krisenthe-orien kritisiert, sondern in diese Kritik auch die in den folgenden Unterkapiteln beschriebenen neueren Ansätze einschließt und als strukturell betrachtet. Dies liegt auch daran, dass durch den verschobenen Forschungsschwerpunkt von Protest zur Bewegung die Protestursachen kaum mehr explizit formuliert werden. Statt des Warums wird das Wie des Protests beschrieben, wie in Unterkapitel 3.5 ausgeführt werden wird. Somit kann aber in Teilen davon ausgegangenen werden, dass strukturelle Ursachen weiterhin implizit als Antwort auf die – ungestellte – Wa-rum-Frage dienen.181 So führen weder die Kritik noch die darauf aufbauenden rationalistischen Ansätze dazu, dass die strukturalistische Grundlage der Protestforschung aufgegeben würde, die auch darüber hinaus weite Teile der Sozialwissenschaften dominieren. Erst in jüngster Ver-gangenheit werden Forderungen formuliert, nicht länger hauptsächlich gesellschaftliche Struk-turen innerhalb wie außerhalb des Protests und seiner Netzwerke zu untersuchen (3.4.1, 3.4.4), sondern innerhalb eines handlungstheoretischen Rahmens stärker auch die Entscheidungen der Protestierenden, ihrer Adressat/inn/en und Beobachter/innen sowie das weitere Akteurshandeln zu untersuchen.

3.3.1 Systemfehler und Deprivation: Krisentheorien in der Protestforschung

Aufgrund der langen Tradition der Krisentheorie lassen sich verschiedene Ansätze voneinander unterscheiden. Gemeinsam ist den Ansätzen, dass sie

„die Entstehung von sozialen Protestbewegungen auf gesellschaftliche Spannungsver-hältnisse, Konflikte, Krisen, auf gesellschaftliche Brüche und Phasen plötzlichen gesell-schaftlichen Wandels zurück[führen,] aus denen Unzufriedenheiten, Verlusterfahrungen und Verunsicherungen resultieren.“ (Pollack 2000:41)

Protest ist hiernach „Ergebnis gesellschaftlicher Krisenerscheinung“ (Opp 1996:223). Unter-scheidungen sind einerseits hinsichtlich der daraus resultierenden Bewertung von Protest und der gesellschaftlichen Reaktion auf Protest festzustellen. Dort wo Protest, wie bereits in 3.2 er-läutert, selbst als das „Krankhafte“ der Gesellschaft angesehen wird (vgl. Herkenrath 2011:34), werden sich die „Therapieansätze“ gegen den Protest richten. Zeigt Protest hingegen Fehler in

179 Letztlich wird auch darauf verwiesen, dass Krisentheorien trotz der radikalen Kritik teilweise bis heute – wenngleich zu-meist in beträchtlich gewandelter Form – vertreten werden.

180 Da darauf basierende konkrete Ansätze allerdings bislang ausgeblieben sind, können sie auch in den Analyserahmen die-ser Arbeit nur bedingt einfließen (5.3.3).

181 Dies gilt in dieser Lesart, obwohl früher und stärker als in anderen wissenschaftlichen Disziplinen nicht länger allein ob-jektiv messbare Ursachen, sondern deren subob-jektive Wahrnehmung durch die Protestakteure als Erklärung angeführt wer-den (3.6).

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der Gesellschaftsordnung auf und ist somit ein „Symptom“, so kann dem Protest ggf. eine „hei-lende“ oder zumindest hilfreiche, weil signalisierende Wirkung zugeschrieben werden.182 Allerdings hat sich die Vorstellung der Wirkung, die Krisen für die Protestentstehung besitzen, geändert. Frühe Deprivationstheorien gehen von einem direkten Zusammenhang aus, der Pro-test quasi als Reflex gesellschaftlicher Krisen begreift (vgl. insg. Pollack 2000:41ff.). Solchen Vorstellungen standen allerdings bereits früh empirische Erkenntnisse entgegen, die zeigten,

„dass gerade die am stärksten Entrechteten und Geknechteten nicht protestieren": So stellte be-reits Tocqueville 1854 für die Französische Revolution fest, dass die Franzosen erst in dem Moment revoltierten, in dem es ihnen bereits besser ging (Tocqueville 1955 [im Original 1854]). Wesentlicher Ausgangspunkt moderner Ansätze der relativen Deprivation war aller-dings erst die daraus abgeleitete Vorstellung der „rising expectations“ von Davies (1962). Dies führte unter anderem zu einer Korrektur im Sinne „relativer Deprivation“ (Runciman 1966, Gurr 1970; vgl. Gurney/Tierney 1982, Rucht 1994), bei denen „das Individuum [...] seine Situ-ation im Verhältnis zur Lage anderer Bezugsgruppen als ungerecht empfindet“ (Geißel/Thill-man 2006:171f.).

Die hiermit einhergehende Wahrnehmung von Ungerechtigkeit – oder allgemeiner: einer ge-sellschaftlichen Krisenerscheinung – und die Bedeutung, die auch theoretische Ansätze dieser individuellen Wahrnehmung beimessen,183 stellt wohl insgesamt die wesentliche Weiterent-wicklung der Krisentheorie dar: Die Beziehung von Krise und Protest wird nun nur noch indi-rekt formuliert. Wesentliche Voraussetzung dafür, dass aus der Krise ein Protest resultiert, ist demnach die Krisenwahrnehmung. Innerhalb einer so verstandenen Krisentheorie funktioniert die Kausalbeziehung zwischen Krise und Protest bzw. Sozialer Bewegung wie folgt: Aus der Verstärkung einer Krise entsteht demnach ein Krisenbewusstsein. Mit dem Ansteigen des Kri-senbewusstseins nimmt die Neigung von Personen zu, sich zu engagieren. Dieses zunächst in-dividuelle Engagement begünstigt dann auch kollektive Formen politischen Engagements, als das Protest auch in diesem Ansatz verstanden wird (vgl. insg. Opp 1996:224f., 3.1).184 Für eine solchermaßen abgeschwächte und vor allem vom „Reflexhaften“, Deterministischen entledigte Relativierung der Deprivationstheorie kann bis heute zumindest implizit eine breite Unterstützung angenommen werden (vgl. 3.1): Die indirekte Kausalbeziehung von Krise und Protest ermöglicht etwa ein Verständnis von Krisen als Teil der Möglichkeitsstruktur (vgl.

3.5.2). Der Übergang von objektiven Krisen zu deren Vermittlung durch subjektive Wahrneh-mung kann durchaus mit kulturellen Erklärungsansätzen verbunden werden (3.6).

Dennoch wird die Krisentheorie auch grundsätzlich kritisiert. Opp etwa hält ihr entgegen, „daß die Krisentheorie eine widerlegte Mikrotheorie anwendet und keine Verbindung von Mikro- und Makroebene leistet“ und zudem „[a]ndere erklärende Faktoren [...] ad hoc

[ein-führe]“ (beide 1996:223; vgl. 223-226). Die Makroebene des kollektiven Protests

ver-schwimme mit der Mikroebene der subjektiven Protestwahrnehmung. Die dem Protest zugrun-deliegende Krise bzw. gesellschaftlichen Funktionsprobleme würden zwar in der Regel von den Vertreter/inne/n aus der eigenen Problemwahrnehmung heraus beschrieben und erschienen somit als beliebig. Dennoch und trotz der Bedeutung subjektiver Krisenwahrnehmung würden diese Krisen allerdings als „objektiv“ bestehend dargestellt. „Die ‚objektiv‘ bestehende Krise

182 So fasst etwa Rucht (1994:139) die positive Rolle zusammen, die Sozialen Bewegungen als gesellschaftlichen Probleman-zeigern zukommen: „Die allgemeine These lautet, daß die Wurzeln einer neu aufsteigenden Bewegung in ungelösten Problemen der System- und/oder Sozialintegration liegen – Problemen, die im Falle der neuen sozialen Bewegungen mit einem spezifischen Modernisierungsschub verbunden sind.“

183 Vgl. zur Bedeutung der Wahrnehmung insgesamt auch die kulturellen Ansätze der Bewegungsforschung in 3.6. Die strate-gische Verwendung im Rahmen des so genannten framing wird in 0 erläutert.

184 Diese Vorstellung begründet sich mittlerweile im Wesentlichen daraus, dass Sozialen Bewegungen – häufig per Definition – das Ziel sozialen Wandels zugeschrieben wird (3.1.1, 3.7.2). Dies legt nahe, dass es die soziale Gegenwart ist, die den Entstehungsgrund bildet.

ist dabei das, was die Vertreter der Krisentheorie als Krise diagnostizieren [...].“ (Opp 1996:225)

Diese Kritik führt in der Regel allerdings nicht dazu, den protestexternen Erklärungsansatz ge-sellschaftlicher Krisen vollständig zu verwerfen und allein protestinterne Ursachen zu untersu-chen.185 Entweder wird er um zusätzliche Erklärungsansätze ergänzt oder es wird weiterhin vo-rausgesetzt, dass gesellschaftliche Krise und relative Deprivation für die Entstehung von Pro-test notwendig sind, da „ProPro-testbewegungen [...] nicht an bloß erfundene Probleme anknüpfen [können ...]. Sie setzen die Erfahrung von Ungerechtigkeiten, Krisen, Repressionen, Spannun-gen voraus“ (Pollack 2000:42f. mit Verweis auf Neidhardt 1985 und Rucht 1994:340). Nur sel-ten findet die Bündelung verschiedener Erklärungen explizit statt186, sondern geschieht, wie von Opp kritisiert, weiterhin „ad hoc“ (1996:223):

„Es scheint, daß die ‚Krise‘ eine Kernvariable ist [...]. D.h. je größer (oder kleiner) die Werte der betreffenden Variablen sind, desto stärker ist auch der Protest, und zwar unab-hängig davon, welche Werte andere Variablen haben. Dabei werden jedoch diese ande-ren Variablen nicht in genereller Weise beschrieben.“ (Opp 1996:225–226, Hervorhe-bung im Original)

3.3.2 Strukturen oder bewusste Entscheidung: Die

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