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Protestbegriff

Im Dokument „Aber nicht so!“ (Seite 150-153)

Auf der Basis der sozialwissenschaftlichen Protest- und Bewegungstheorie und ausgehend von der planungswissenschaftlichen Kritik daran soll im Folgenden ein Ansatz für einen planungs-theoretischen Begriff von politischem Planungsprotest entwickelt werden. Hierfür werden drei Aspekte des so gefassten emergenten Phänomens erläutert, indem das Protesthandeln als stadt-politische Partizipationsstrategie, die Entstehungszusammenhänge von Planungsprotesten so-wie ihre Ziele, Anliegen und Wirkabsichten beschrieben werden (5.2.1, 5.2.2, 5.2.3). Im nächs-ten Unterkapitel 5.3 wird der so abgegrenzte Begriff dann in ein analytisches Modell integriert, das den politischen Prozess als Kontext der Prozessformation, -konstruktion und -entwicklung auffasst. Damit wird auf prozesshafte und dynamische Aspekte des Protests an dieser Stelle be-wusst verzichtet. Die Begriffsdefinition endet mit einigen methodologischen Hinweisen zur

442 Wie in Bertram (2013) ausgeführt, begrenzt sich die Verwendbarkeit nicht auf die Planungswissenschaft. Gerade für eine kritische Beforschung bieten sich etwa Ansätze der geographischen und raumwissenschaftlichen Stadtforschung an: Wel-che Besonderheiten besitzen städtisWel-che gegenüber anderen lokalen Bewegungen, etwa solWel-chen im suburbanen oder ländli-chen Raum? Welche Urbanisierungsvor- und ggf. auch -nachteile bieten sich nicht nur für Harvey (2012) „urban revolu-tion“, die von Städten ausgehend global wirkt, sondern auch für die lokalpolitische Auseinandersetzung? Haben darüber hinaus die verschiedenen Unterscheidungsmerkmale von Städten – so wie es z. B. die Beschreibung von „wirtschaftlich florierenden und darbenden Städten“ durch Mayer (2013:160) andeutet – oder auch die Eigenheiten oder Eigenlogiken spezifischer Städte eine Bedeutung? Welche Rolle spielen die in den verschiedenen politischen Systemen dieser Welt, ja schon in Europa, sehr unterschiedlichen Stellungen, Macht- und Aufgabenzuteilungen der lokalen Ebene, aber auch die verschiedenen politischen Kulturen für städtische Kämpfe? Oder ganz konkret: Wieso erlangt die Idee des „Rechts auf Stadt“, die 1968 laut Schmid (2011a:25) auf „einen spezifischen historischen Moment der Urbanisierung“ und sicher auch auf die besondere Pariser Situation zurückgeht, gerade heute und in so unterschiedlichen städtischen Situationen so viel Aufmerksamkeit?

Politischer Planungsprotest – Vorschlag für einen planungswissenschaftlichen Protestbegriff 151

Wertfreiheit des analytischen Protestbegriffs (5.2.4).

5.2.1 Protesthandeln als rationale politische Partizipationsstrategie

Die Fragen, ob Protest Handeln oder Verhalten ist, ob rationale Erwägungen oder affektive Re-aktionen auf gesellschaftliche Ursachen zum Protest führen, wurden in der sozialwissenschaft-lichen Forschung empirisch in historischen Studien und damit abstrahiert vom aktuellen gesell-schaftlichen Kontext untersucht. Aktuell dominiert der Handlungsansatz (Bertram/Altrock 2018). Für die Planungswissenschaften bietet sich eine stärkere gesellschaftliche und planungs-theoretische Kontextualisierung an, die auf die Bedingungen des aktuellen Planungshandelns innerhalb einer demokratisch-verfassten lokalen Governance eingeht – letztlich aber zum glei-chen Ergebnis kommt: Planungsproteste stellen rationale Handlungen politisch aktiver Bür-ger/innen dar.

Der planungstheoretische Kontext für den hier entwickelten Protestbegriff ist zwar in kommu-nikative, deliberative oder kollaborative Ansätze und agonistische Ansätze des kritischen Prag-matismus geteilt.443 Sie grenzen sich aber sämtlich weiterhin stark von früheren Planungsver-ständnissen ab – trotz einer wiedererstarkenden Tendenz zu naturwissenschaftlichen Erklä-rungsansätzen für städtische Entwicklungen (Bettencourt/West 2010, Glaeser 2011; vgl. Glee-son 2012, Brenner/Schmid 2014). Innerhalb der Planungspraxis wiederum zeigen sich deutlich die Folgen der „partizipatorische[n] Revolution“ (Kaase 1981): Vielfältige Beteiligungsange-bote von Bürgerforen, Planungsworkshops, Agenda-Prozessen und plebiszitären Elementen bis hin zur wirtschaftlichen Beteiligung an kommunalen Unternehmen, haben die lokale Gover-nance in einem Maße verändert, dass das so genannte „realistische“ Modell der repräsentativen Massendemokratie, das politische Beteiligung auf den Wahlakt reduziert, nur noch bedingt der Realität entspricht.444

Rationales, strategisches Handeln

Insofern besteht in der Planungswissenschaft zwar kein dezidierter Ansatz rationalen Akteurs-handelns, der auch Protest einschließt – wodurch andere Interpretationen stets möglich sind.

Ein solcher Ansatz fügt sich aber gut in das normativ geprägte Grundverständnis der Disziplin ein. Ein – zumeist implizites – gemeinsames Paradigma der aktuell dominierenden Planungs-verständnisse ist ohnehin ein Akteursbegriff, der Bürger/innen und andere im Planungsprozess handelnde Personen als mündig und rational begreift. Dieses Verständnis explizit auf Protest zu erweitern, erscheint folgerichtig und würde dabei helfen, Erklärungsansätze einzuschränken, die in Praxis und Forschung irrationale Protestelemente betonen. Sie diskreditieren die Protest-handelnden und verhindern eine zielgerichtete Beforschung und Behandlung von Planungspro-testen, die auch ihre Rationalität erkennt (Flyvbjerg 1998).445

Die Vorstellung von Protest als politischer Strategie zur Durchsetzung von Forderungen und

443 Siehe hierzu ausführlicher Othengrafen/Sondermann (2015:14ff.); vgl. etwa Selle (2005:389), Forester (1999), Healey (1997), Renn (2013), Hillier (2002), Pløger (2004), Roskamm (2011), Gualini (2015). Vgl. Kap. 1.4.3.

444 In Bertram/Altrock (2018) führen Autor und Betreuer dieser Arbeit bezugnehmend auf dieselbe Aufzählung weiter aus:

„Die vorgenannten Beispiele zeigen, dass die demokratische Realität heute weit vielfältiger ist. Mehr noch: Viele Behörden und Mandatsträger erhoffen sich von ihr transparentere, effizientere, passgenauere und besser akzeptierte Ergebnisse. Konstruktive Beteiligung auch jenseits von Wahlen ist erwünscht und wird als legitimer Ausdruck poli-tischer Mündigkeit angesehen.“

Vgl. zum „realistischen“ bzw. instrumentellen Demokratiemodell insbesondere Schumpeter (1942), Verba/Nie (1972), Hoecker (2006c).

445 Dabei wird es nachfolgend allerdings auch darum gehen, diese Rationalitäten nicht allein ökonomisch zu betrachten, son-dern um weitere Faktoren zu ergänzen (5.3; vgl. 3.6).

Zielen führt im Weiteren dazu, dass Protest heute als eine Form politischer Partizipation ange-sehen und von den Bürger/inne/n ganz selbstverständlich genutzt wird (Geißel/Thillman 2006:163). So können letztlich auch für eine planungswissenschaftliche Begründung empiri-sche Befunde – jenseits solcher, die im Folgenden noch erbracht werden sollen – angeführt werden: Auf lokaler Ebene zeigt sich der strategische, zielgerichtete und politische Charakter von Protest etwa dort besonders deutlich, wo aus Protestnetzwerken (ggf. erfolgreiche) Wähler-gemeinschaften erwachsen oder politische Parteien ihre Ziele im Wahlkampf usurpieren, wo Protestakteure Koalitionen mit anderen politischen Akteuren eingehen und wo sie in der Lage sind, umfangreiche Kampagnen zu entwickeln.

„Wenn Protestierende aber strategische Ziele verfolgen, so verhalten sie sich nicht af-fektiv und irrational. Vielmehr handeln und entscheiden sie vernünftig auf der Grund-lage von Kosten-Nutzen-Überlegungen in einem weiteren Sinne: Besteht eine Chance, die eigenen Interessen oder Ziele durch Protest durchzusetzen? Welche Ressourcen müssen eingesetzt werden? Mit welchen Risiken ist das Protesthandeln verbunden? Gibt es alternative, weniger risikoträchtige Mittel?“446

Eigenständige politische Partizipation

Strategisches Protesthandeln als politische Partizipation zu verstehen, geht nicht auf die Pro-test-, sondern vielmehr die Partizipationsforschung zurück (3.4.2). In der planungswissen-schaftlichen Debatte besteht einerseits großen Skepsis hinsichtlich der Wirksamkeit institutio-nell vorgegebener Beteiligungsangebote (Selle 2011) und werden dem planungsbezogenen Pro-test andererseits erhebliche potentielle Auswirkungen für Planungsinhalte und -prozesse zuge-schrieben (2.3.3). So erscheint es fragwürdig, Protest nicht als Teilhabe am Planungsprozess zu verstehen. Es ist vielmehr ein Teil dessen, was Selle als „Beitragen“ zur Stadtentwicklung be-zeichnet und von der Beteiligung als Mitwirkung an einem staatlichen Angebot unterscheidet (2013:57ff.).447 Protestierende werden informiert und informieren sich selbst, sie werden kon-sultiert, auch wenn sie dies nicht selten einfordern oder selbst herbeiführen müssen, und sie können auch Sitz und Stimme in Beratungsgremien erlangen448. Damit erlangen sie mindestens den Status, den Arnstein im lokalstaatlichen Handeln als „tokenism“ bezeichnet und in ähnli-cher Weise kritisiert (1969), wie dies nachfolgend durch den Begriff der „Alibibeteili-gung“ verstärkt wird (vgl. etwa Danner 2007):

„[…] ‘tokenism‘ […] allow[s] the have-nots to hear and to have a voice […].But under these conditions they lack the power to insure that their views will be heeded by the powerful. When participation is restricted to these levels, there is no follow-through, no

‘muscle,’ hence no assurance of changing the status quo.“ (Arnstein 1969)

Fehlende Anerkennung eigenständiger, „selbstermächtigter“449 Partizipation durch öffentliche Institutionen kann den partizipativen Gehalt von Protesthandeln nicht negieren. Ebenso wenig reicht der Verweis darauf, dass Protestierende sich selbst nicht als Teil des Planungssystems be-greifen dazu aus, eine entsprechende Trennung in analytischen Modellen vorzunehmen (Tarrow 2011:34). Die Eigenständigkeit ist dabei ein zentrales Merkmal von Protest: Hier wird

446 Bertram/Altrock (2018) mit Verweis auf Jasper (2004)

447 Um die von ihm erkannte „Begriffswolke“ um „‚Beteiligung‘, ‚Partizipation‘, ‚Mitwirkung‘, ‚Engagement‘ etc.“ zu ord-nen, unterscheidet Selle (2013:57ff.) innerhalb des übergeordneten Partizipationsbegriffs zwischen Beteiligung der Bür-ger/innen durch den Staat und ihrer eigenständigen Mitwirkung. Dieser Einteilung wird auch hier gefolgt. Vgl. 5.2.1.

448 Als wohl bekanntestes Beispiel wäre hier die Schlichtung zu „Stuttgart 21“ zu nennen. Vgl. etwa Altrock (2010).

449 Jasper (2012:30) spricht von Sozialen Bewegungen als „self-proclaimed collective identites“. McAdam et al. (2001:9) bezeichnen ihre „challengers“ hingegen als „self-identified political actors“. Vgl. 3.1.1, Tabelle 3.1:, 3.4.3.

Politischer Planungsprotest – Vorschlag für einen planungswissenschaftlichen Protestbegriff 153

nicht „verfasst“450 im Rahmen (lokal-)staatlicher Beteiligungsangebote oder innerhalb der Par-teiendemokratie partizipiert, sondern es werden eigene Handlungsformen entwickelt (Hoecker 2006c), um Protestanlässe und vor allem -anliegen öffentlich zu artikulieren (Gamson 1990 [1975]:143), wie dies nachfolgend ausformuliert wird. Ob die „Selbstermächtigung“ durch die eigenständige Partizipation der Protestierenden im Ergebnis jedoch zu höheren Stufen auf der Partizipationsleiter führt, bleibt zu untersuchen (Bertram 2.10.2015).

5.2.2 Gesellschaftliche Ursachen, auslösende Momente, konkrete

Anlässe, die Entstehung von Planungsprotesten und das Spezifische

Im Dokument „Aber nicht so!“ (Seite 150-153)

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