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Vom Grund zur Chance: Möglichkeitsstrukturen

Im Dokument „Aber nicht so!“ (Seite 93-96)

Ressourcen, Möglichkeiten und Zyklen als Erklärung für die Entstehung von Protest

3.5.2 Vom Grund zur Chance: Möglichkeitsstrukturen

Der Ansatz, den Prozess der Protestentstehung durch politische Möglichkeitsstrukturen (politi-cal opportunity structures) innerhalb eines Modells des politischen Prozesses (politi(politi-cal process model) zu beschreiben, ist bis heute eine der dominierenden Theorien der Bewegungsforschung (Opp 1996:224).237 Für den Zusammenhang der vorliegenden Arbeit besitzt der Ansatz über

232 Cohen (1985), Klandermans (1984), della Porta/Rucht (2012:1ff.), Gamson (1992b).

233 Es stellt sich damit die Frage, ob sie insofern möglicherweise sogar den sozialpsychologischen Ansätzen der Protestfor-schung besser entsprechen. Eindeutige Worte finden hier Piven/Cloward (1986:30):

„[…] die Gleichsetzung von Bewegungen mit ihren Organisationen – die zudem voraussetzt, daß Proteste einen Führer, eine Satzung, ein legislatives Programm oder doch zumindest ein Banner haben müssen, bevor sie anerkannt werden – hat den Effekt, daß die Aufmerksamkeit von vielen Formen politischer Unruhe abgelenkt wird und diese per definitionem den verschwommenen Bereichen sozialer Probleme und abweichenden Verhaltens zugeordnet wer-den. Folglich erregen Phänomene wie massive Schulverweigerung, zunehmende Abwesenheit vom Arbeitsplatz, die steigende Flut von Anträgen auf Sozialfürsorge oder die wachsende Zahl von Mietschuldnern kaum die Aufmerk-samkeit der wissenschaftlichen Beobachter. Nachdem auf definitorischem Wege entschieden worden ist, daß nichts Politisches vorgeht, bleibt auch nichts zu erklären, jedenfalls nicht in den Begriffen des politischen Protests. Und nachdem es so gelungen ist, Protest nicht mehr als solchen anzuerkennen oder zu untersuchen, brauchen auch einige ziemlich offenkundige und wichtige Fragen über ihn nicht mehr gestellt werden.“

234 Trotz der zentralen Bedeutung des Ressourcenmobilisierungsansatzes auch innerhalb von Intregrationsversuchen verschie-dener Theoriestränge scheint er zudem in den vergangenen rund zwei Jahrzehnten, in denen alternative Erklärungen ent-standen (3.6, 3.3.2), kaum weiterentwickelt worden zu sein, obwohl insbesondere eine Erweiterung um Erkenntnisse der neueren Sozialkapitalansätze von Putnam (1995) und weiterer Kapitalsorten nach Bourdieu (1983) denkbar gewesen wäre.

Für vergleichbare Weiterentwicklungen der allgemeinen politischen Partizipationsforschung, die nach Kaase (2003:499) ansonsten ebenfalls „auf dem zu Beginn der 90er Jahre erreichten Niveau zu verharren [scheint]" vgl. Maraffi et al.

(2008), van Deth et al. (2002), Hoecker (2006c:17).

235 „So macht die Forschung im Rahmen dieses Ansatzes deutlich, dass etwa zwischen den Leidtragenden eines sozialen Problems und ihren Sympathisant/innen Interessenkonflikte bestehen können oder dass „verwegene“ Proteststrategien, welche die Presseaufmerksamkeit garantieren, das Vertrauen möglicher Sponsoren gefährden.“ Herkenrath (2011:40)

236 Ihm geht es dabei um die Integration gesellschaftlicher Gruppen innerhalb einer Bewegung, die sowohl strukturell als auch ideologisch von statten geht. Das Ausmaß dieser Integrationsleistung bezeichnet er mit dem Begriff „CATNET“, wobei einerseits wichtig ist, dass sich die Bewegungsteilnehmer/innen hinsichtlich sozialer Kategorien als segregiert bzw.

distinguiert begreifen (CAT) und andererseits über eine interpersonelle Vernetzung (NET) verfügen.

237 Obwohl der Ansatz der politischen Möglichkeitsstrukturen mindestens gleich alt ist wie der zuvor beschriebene Ressour-cenmobilisierungsansatz, wird er zumeist als nachfolgend dargestellt, da er sich erst später innerhalb der Protestforschung verbreitete, um schließlich insbesondere in den 1980er Jahren die Ressourcenmobilisierung abzulösen. Vgl. Opp (2009:161; vgl. insg. 161-203), Goodwin/Jasper (2004a:3f.).

seine Stellung innerhalb der Protestforschung hinaus besondere Bedeutung, da sich die empiri-sche Grundlage für die erste Verwendung durch Eisinger (1973)238 auf die Entstehungsbedin-gungen für Protest auf der lokalen Ebene bezieht und dabei auch (begrenzt) auf Planungsas-pekte eingeht.239 Das Modell besitzt bis heute eine Relevanz in der lokalen Politikforschung auch jenseits der Untersuchung von Protest und Bewegung im engeren Sinne.240

Im Gegensatz zur Ressourcenmobilisierung, die sich auf bewegungsinterne Faktoren der Pro-testorganisation konzentrierte, werden durch den Political opportunity structure-Ansatz wieder externe Bedingungen241 herangezogen, um Genese und Entwicklung von Protest zu untersu-chen (vgl. insg. Pollack 2000:46ff.).242 Anders als bei früheren Theorien geht es allerdings nicht um ein quasi reflexhaftes Entstehen aus gesellschaftlichen Bedingungen, sondern um ei-nen Kontext für das (rationale) Handeln243 von Gruppen und Individuen, aus denen sich Hand-lungszwänge und Handlungsmöglichkeiten (Opp 1996:223),244 aber auch potentielle Wirksam-keiten von Bewegungshandeln ergeben (Meyer 2004).

Das grundlegende Modell sieht dabei vor, dass externe Bedingungen die Erfolgsaussichten für Protest bestimmen und Individuen sich dann zu kollektivem politischen Handeln entscheiden, wenn ein Erfolg absehbar ist, bzw. die Anreize für Protesthandeln groß genug sind. Dabei wer-den diese Möglichkeitsstrukturen zumeist als objektiv gegeben betrachtet. Abweichend beste-hen aber auch Ansätze einer subjektiven Bewertung der Erfolgsaussichten durch die Protest-handelnden (Opp 2009:161-162, 167-171). Dadurch eignet sich die Theorie auch zur Erklärung dafür, warum einige Proteste erfolgreicher sind als andere, und – je nach Definition des Be-griffs – auch dafür, dass aus „einfachem“ Protest eine Soziale Bewegung wird (Tarrow

238 Der Ursprung geht allerdings bereits auf Lipsky (1968) zurück, wie McAdam (1996:23f.) feststellt. Weitere zentrale Ver-treter sind Tarrow (1991) und McAdam – etwa in Marx/McAdam (1994) –, die allerdings mittlerweile im Contentious politics-Ansatz eine Verknüpfung mit anderen Theorieansätzen vertreten. Vgl. McAdam et al. (2001) sowie Meyer (2004).

239 Eisinger (1973) untersuchte in seinem gleichnamigen Aufsatz die „Conditions of Protest Behavior in American Ci-ties“ und verglich dabei einerseits die Bedeutung der Direktwahl von Bürgermeistern und andererseits das Vorhandensein von Fördermitteln aus den staatlichen Model Cities planning funds. Vgl. Opp (2009:162f.).

240 Vgl. etwa die eigene Anwendung von Autor und Erstgutachter dieser Arbeit in Altrock et al. (2010b) bzw. Altrock et al.

(2010a).

241 Dies wird besonders deutlich bei McCarthy et al. (1991:46):

„When people come together to pursue collective action in the context of the modern state they enter a complex and multifaceted social, political and economic environment. The elements of the environment have manifold direct and indirect consequences for people's common decisions about how to define their social change goals and how to or-ganize and proceed in pursuing those goals.“

242 Während in der späteren Verwendung eine Abgrenzung vom Ressourcenmobilisierungsansatz geschieht, der die bewe-gungsinternen Faktoren hervorhebt, geht Eisinger (1973) eher von einer Ergänzung aus. Vgl. Opp (1996:229). Entspre-chend werden die Möglichkeitsstrukturen in aktuellen, integrierenden Weiterentwicklungen auch als Ressourcen außer-halb der Gruppe angesehen, die ihr nicht gehören, aber auch von schwachen Gruppen zu ihrem Vorteil genutzt werden können. Vgl. Tarrow (2011:32f.).

243 Eisinger (1973:11f.) selbst verwendet allerdings noch den damals gängigen Begriff des Verhaltens, obwohl er Protest bereits als „citizen political activity“ versteht, die im Sinne der Theorie rationalen Handelns aus Kostennutzenerwägungen entsteht. Vgl. Opp (1996:229), 3.3.2. An dieser Stelle sei eine Zusammenfassung der Theorie von Eisinger (1973:13) in seinen eigenen Worten wiedergegeben:

„ ... environmental factors, such as the climate of governmental responsiveness and the level of community re-sources, help to establish the chances of success of citizen political activity. In short, elements in the environment impose certain constraints on political activity or open avenues for it. The manner in which individuals and groups in the political system behave, then, is not simply a function of the resources they command but of the openings, weak spots, barriers, and resources of the political system itself. There is, in this sense, interaction, or linkage, tween the environment, understood in terms of the notion of a structure of political opportunities, and political be-havior.“

244 Opp (1996:228) führt hierzu aus:

" ... environmental factors, such as the climate of governmental responsiveness and the level of community re-sources, help to establish the chances of success of citizen political activity. In short, elements in the environment impose certain constraints on political activity or open avenues for it. The manner in which individuals and groups in the political system behave, then, is not simply a function of the resources they command but of the openings, weak spots, barriers, and resources of the political system itself. There is, in this sense, interaction, or linkage, tween the environment, understood in terms of the notion of a structure of political opportunities, and political be-havior."

Vom spontanen Ausbruch zur Protestorganisation 95

2011:32f., 3.1.1). Die Beziehung zwischen politischer Möglichkeit und kollektivem politischen Protesthandeln entsteht demnach dadurch, dass die Möglichkeiten gemeinsam mit anderen Faktoren Anreize für individuelles politisches Handeln darstellen – zumindest bei Individuen, bei denen schon zuvor solche Anreize existierten. Entsprechend entsteht eine indirekte Wir-kung, die insgesamt die Wahrscheinlichkeit politischer Handlungen erhöht, die auch zu einem Zusammenschluss führen kann (vgl. Opp 2009:164f.).245

Als Möglichkeit wird alles betrachtet, was Menschen dazu anregt, an politischem Protest zu partizipieren, unabhängig davon ob diese Situation förmlich festgelegt oder dauerhaft ist (Tarrow 2011:32f.):246 Dies kann „die Stabilität oder die Gespaltenheit der Eliten, das Vorhan-densein oder die Abwesenheit von Verbündeten [...] unter den Eliten, Konfliktstrukturen“ (Pol-lack 2000:47), Zugangsmöglichkeiten zum formalisierten System politischer Entscheidungsfin-dung oder das Umgehen von Repression sein (Tarrow 2012:78ff.; vgl. insg. McAdam

1996:27).247 In Weiterentwicklungen des Ansatzes wurde die Analyse um die Betrachtung um Hemmnisse und Risiken ergänzt (Goldstone/Tilly 2001:182f.; vgl. Tarrow 2012:77).248 Als sol-che Hindernisse werden hingegen insbesondere Repression und die Möglichkeit der Elite gese-hen, „to present a solid front of insurgents“ und den Protest zu entmutigen (Tarrow 2011:32f.).

Das durch solche Dimensionen beschriebene Maß der Möglichkeit von politischen Initiativen

„to be able to gain access to power and to manipulate the political system“ wird dabei keines-wegs mit der Entstehung von Protest gleichgesetzt (Eisinger 1973:25). Im Gegenteil: Bereits Eisinger geht davon aus, dass nicht nur stark geschlossene Systeme Protest aufgrund von Re-pression verhindern, sondern auch „extrem offene [...] dazu tendieren, [bürgerschaftliche politi-sche Aktivitäten] zu assimilieren“ (Pollack 2000:46). Auch dies verhindert Protest. Insofern wird von einem kurvilinearen Verhältnis ausgegangen: „Am meisten profitieren Protestbewe-gungen von einem mittleren Grad der Offenheit oder genauer von der Gleichzeitigkeit, ja dem Gegeneinander und Nacheinander von Öffnung und Schließung“ (Pollack 2000:46f.; vgl. Opp 2009:163f.).

Nicht zuletzt durch die nahezu hegemoniale Stellung, die das Konzept der Möglichkeitsstruk-turen zumindest zeitweise einnahm (Goodwin/Jasper 2004a:3f.), wurde es spätestens ab den 1990er Jahren Gegenstand umfassender Diskussion und teils widersprüchlicher Kritik.249 So wird einerseits die Aufweichung und zu breite, inhomogene Anwendung des Ansatzes kritisiert (Gamson/Meyer 1996:275, Meyer 2004). Andererseits ist die Art der geforderten Ergänzungen so vielfältig, dass Tarrow gar eine „Typology of Opportunities“ vorschlägt (2012:80ff., Abbil-dung 3.2). Diese Typologie unterscheidet vier verschiedene Konzepte danach, ob sie zum einen sektionsübergreifend statische Möglichkeiten untersuchen oder vor allem an dynamischen Wandlungen von Konflikten und veränderten Allianzen interessiert sind, „[that] trigger,

245 Entsprechend vorsichtig beschreibt auch Tarrow (2011:33) die für ihn dennoch wichtigen Möglichkeitsstrukturen als „a set of clues for when contentious politics will emerge and will set in motion a chain of causation that may ultimately lead to sustained interaction“.

246 Entsprechend der jeweils zielbezogenen Definition der Möglichkeitsstrukturen ist eine allgemeine Beschreibung von Möglichkeiten und Hindernissen für Protest im Rahmen der Theorie nicht möglich. Entsprechend werden nur exemplari-sche Strukturmerkmale aufgezählt.

247 Für einen Überblick über die Konzeptualisierungen politischer Möglichkeiten durch verschiedene Autoren siehe McAdam (1996:24ff.).

248 Eisinger (1973) untersuchte im Rahmen der Möglichkeitsstrukturen ausschließlich Möglichkeiten und wurde dafür nach-folgend kritisiert.248

249 Vgl. Tarrow (2012:77), der dies insbesondere einer Veröffentlichung von McCarthy et al. (1991) zuschreibt:

„Since the publication of this influential article there has been a great deal of debate about the status and im-portance of this concept, some from those who would like to uproot it from the garden of social movement concepts […], but much of it from practitioners, like David S. Meyer and William Gamson, whose goal was to prune the plant of unnecessary foliage to help it to flower […].“

nel, and demobilize movements“ (Tarrow 2012:80) und die teilweise von den Bewegungsakteu-ren sogar selbst induziert werden (Tarrow 2011:28f., 2012:90)250. Zum anderen werden die An-sätze danach eingeteilt, ob die Möglichkeiten im direkten Bewegungsumfeld oder in weiteren gesellschaftlichen Rahmenbedingungen gesehen werden.

Zeitlicher Rahmen

statisch/sektionsübergreifend dynamisch Möglichkeitsmaß Direktes Bewegungsumfeld Eisinger (1973) Amenta (2006)

Weitere gesellschaftliche Rahmenbe-dingungen

Kriesi et al. (1995) McAdam (1982)

Abbildung 3.2: Typologie von Ansätzen innerhalb der Theorie der Möglichkeitsstrukturen (nach Tarrow 2012:80, ei-gene Übersetzung)

Weiterhin lassen sich die Ansätze zwischen objektiven251 und subjektiven252 Definitionen un-terscheiden, also danach, ob Möglichkeiten jenseits oder innerhalb der Bewertung durch die Protestakteure bestehen (Opp 2009:167ff.).253 Für Opp hat die subjektive Bestimmung der Möglichkeitsstruktur einige Vorteile. Sie lassen sich mit geringeren methodischen Problemen erfassen, analytisch bewerten und von den die Möglichkeitsstruktur beeinflussenden Umwelt-faktoren abgrenzen. Schließlich besteht keine Notwendigkeit, objektive Werte zu erfassen, son-dern lediglich, welche Möglichkeiten subjektiv wie wahrgenommen gesehen.254

Im Dokument „Aber nicht so!“ (Seite 93-96)

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