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Definitionen Sozialer Bewegung

Im Dokument „Aber nicht so!“ (Seite 67-70)

Zur Vielzahl der Begriffe und Konzepte der Protestforschung

3.1.1 Definitionen Sozialer Bewegung

Das Phänomen des Protests wurde bis zum Aufkommen des Begriffs der Sozialen Bewegungen nur selten definiert, weil der Untersuchungsgegenstand den Forscher/inne/n eindeutig erschien.

Durch die Begriffsbildung entstand die Notwendigkeit, Sozialen Bewegungen eine – bzw.

mehrere konkurrierende – Bedeutungen zuzuschreiben. Protest hingegen wird seitdem vor al-lem durch seine Unterscheidung von Sozialen Bewegungen definiert (vgl. aber Lipsky 1968, Turner 1969; vgl. Opp 2009:34ff.), so dass explizite Protestbegriffe nicht nur in der planungs-, sondern auch in der sozialwissenschaftlichen Theorie weiterhin fehlen.

Insofern erscheint es hilfreich, zunächst auf die unterschiedlichen Definitionen des Begriffs So-ziale Bewegung einzugehen. Tabelle 3.1 gibt hier zunächst einen Überblick über die vielfälti-gen Ansätze das Phänomen theoretisch zu erfassen.

Viele Definitionen beinhalten den Aspekt des Zusammenschlusses bzw. der Kollektivierung, den auch Opp als Gemeinsamkeit hervorhebt (2009:36f.), 145 doch nur die wenigsten bezeich-nen Soziale Bewegungen direkt als Gruppe (etwa Gamson 1990 [1975]:14ff.,146 McCar-thy/Zald 1973) oder sonstige Vereinigung von Personen147 – etwa innerhalb eines Netzwerks (etwa Neidhardt 1985, Diani 1992:13) oder einer Organisation (etwa McCarthy/Zald

1977:1218).148 Entsprechend der Unterscheidung zwischen Sozialen Bewegungen und Sozialen Bewegungsorganisationen bei McCarthy/Zald stehen auch in den meisten anderen Fällen abs-trakte Aspekte wie Handlungen, Strukturen oder auch Ergebnisse des Zusammenschlusses im Vordergrund (1977).

145 Opp (2009:36f.) kommt auf der Grundlage seines Überblicks über zumeist US-amerikanische Autor/inn/en zu dem Schluss, dass bei aller Heterogenität der Abgrenzung im Detail die wesentliche Gemeinsamkeit in der Definition von Sozi-alen Bewegungen als Gruppe bestehe. Einschränkend führt er jedoch bereits an, dass ausgehend von McCarthy/Zald (1977) auch ein konkurrierendes Begriffsverständnis von Sozialen Bewegungen als „set of opinions and beliefs“ Popula-rität erlangt hat.

146 Gamson (1990 [1975]:14ff.) verwendet allerdings gar keinen Bewegungsbegriff, sondern bezeichnet mit „challenging group“ diejenigen, die Protest als Strategie zur Durchsetzung ihrer politischen Ziele verwenden (vgl. 3.4.1).

147 Wobei diese im Falle von Diani (1992: 13, 4) sehr indirekt dadurch erfolgt, dass bereits in Gruppen und Organisationen verbundene Personen über informelle Netzwerke auf einer Metaebene miteinander verbunden werden.

148 Die Art der Kollektivierung erscheint insofern ebenfalls nicht von zentraler Bedeutung.

Definitionskern Zitat Quelle Gruppe [A challenging group] meets two central criteria […] it must be seeking the mobilization of an

unmobilized constituency, [… and] its antagonist lies outside of its constituency.

Gamson 1990 [1975]:14ff.

Social movements are voluntary collectivities that people support […]. Using the broadest and most inclusive definition, a social movement includes all who in any form support the general ideas of the movement. Social movements contain social movements organizations, the carrier organization that consciously attempt to coordinate and mobilize supporters.

McCarthy/Zald 1973

Netzwerk bestimmte Netzwerkform Neidhardt 1985

A social movement is a network of informal interconnections between a plurality of individuals, groups and/or organizations, engaged in a political or cultural conflict, on the basis of a shared collective identity.

Diani 1992:13

A social movement organization (SMO) is a complex, or formal, organization which identifies its goals with the preferences of a social movement or a countermovement and attempts to imple-ment those goals.

McCarthy/Zald 1977:1218 Kollektive

Iden-tität

A movement is primarily a self-proclaimed collective identity that organizers hope will have vari-ous rhetorical effects on several audiences, including attracting new recruits, retaining and en-couraging existing participants, and demanding that news media, authorities, and opponents take them seriously.

Jasper 2012:30 mit Verweis auf Gamson 1995 Wertesystem A social movement is a set of opinions and beliefs in a population which represents preferences

for changing some elements of the social structure and/or reward distribution of a society.

McCarthy/Zald 1977:1217f.

Wis-sensspeicher

Social movements are repositories of knowledge of particular routines in a society's history, which helps them to overcome the deficits in resources and communication typically found among disorganized people.

Tarrow 2011:29

Partizipations-form

[...] sind die Übergänge zwischen [Neuen Sozialen Bewegungen] und anderen nicht-institutio-nalisierten Beteiligungsformen fließend.

(Geißel/Thillman 2006:160) [Social movements] are better defined as collective challenges, based on common purposes

and social solidarities, in sustained interaction with elites, opponents, and authorities.

Tarrow 1998:4 Interaktion By contentious politics we mean: episodic, public, collective interaction among makers of claims

and their objects when (a) at least one governments is a claimant, an object of claims, or a party tot he claims and (b) the claims would, if realized, affect the interests of at least one oft he claimants. Roughly translated, the definition refers to collective political struggle.

McAdam et al.

2001:5

Handlungssys-tem

"[Eine Soziale Bewegung ist] ein auf gewisse Dauer gestelltes und durch kollektive Identität ab-gestütztes Handlungssystem mobilisierter Netzwerke von Gruppen und Organisationen, welche sozialen Wandel mittels öffentlicher Proteste herbeiführen, verhindern oder rückgängig machen wollen" (Rucht 1994: 3381)

No single element but the combination of repertoire and WUNC displays within campaigns, cre-ated the social movement distinctiveness.

Tilly 2004:5 Besonderes

Ausmaß (von Protest)

Abfolge von contentious politics

[The term social movement] I reserve for those sequences of contentious politics that are based on underlying social networks and resonant collective frames and which develop the capacity to maintain challenges against powerful opponents

Tarrow 1998:2

By urban social movement, I mean a system of practices […] and such that its development tends objectively towards structural transformation of the urban system or towards a substantial modification of the power relations in the class struggle […].

Castells 1979:246ff.

Zielsetzung „[Soziale Bewegungen sind] „auf eine gewisse Dauer gestellte und durch eine kollektive Identi-tät abgestützte Versuche von Gruppen, Organisationen und Netzwerken, grundlegende gesell-schaftliche Veränderungen ... herbeizuführen oder zu verhindern.

Roth/Rucht 2002:297 A social movement is a purposive and collective attempt of a number of people to change

indi-viduals or societal institutions and structures

Zald/Ash 1966 [Social movements are] efforts by a large number of people to solve collectively a prblem that

they feel they have in commen.

Toch 1965 Social movements are conscious, concerted, and sustained efforts by ordinary people to

change some aspects of their society by using extra-institutional means. They are more con-scious and organized than fads and fashions.

Goodwin/Jasper 2003:3 Social movements have traditionally been defined as organized efforts to bring about social

change.

Jenkins/Form 2005

Emanzipations-prozess

„[Social Movements are t]he idea of a continious, unitary process by which the whole working class gained self-consciousness and power.“

Stein 1850 [1959]

Tabelle 3.1: Definitionsansätze für Soziale Bewegungen (in Anlehnung an und Ergänzung von Opp 2009:35)

Protest, Bewegung, Protestbewegung? 69

Ein besonderer Fall ist Jasper (2012:30), der Soziale Bewegungen mit einer bestimmten kol-lektiven Identität gleichsetzt, die zudem von ihren Organisator/inn/en erdacht wird, um Anhän-ger/innen zu mobilisieren.149 Diese Definitionen sind deutlich von McCarthy/Zald inspiriert, die mit ihrer Vorstellung von Sozialer Bewegung als verbindendes Wertesystem einen Teilas-pekt kollektiver Identität hervorheben und zugleich die Funktionsweise eines sehr losen Netz-werks beschreiben (1977). Ebenfalls in dieser Tradition steht Tarrows Vorschlag, Soziale Be-wegungen als „repositories of knowledge“, also Wissensspeicher, zu verstehen, in denen das für konkrete Proteste erforderliche Wissen eingeschrieben ist (2011:29) und über Phasen der geringeren Bewegungsaktivität hinweg bewahrt wird (Melucci 1984).

Weiterhin bestehen Ansätze, die den Bewegungsaspekt betonen und Soziale Bewegungen pri-mär über ihre Handlungen definieren. Geißel/Thillman bezeichnen sie aus der Perspektive der Partizipationsforschung als eine spezifische „unkonventionelle Beteiligungsform“ (2006:160).

Diese Umschreibung präzisiert Tarrow (1998:4, eigene Übersetzung), wenn er Soziale Bewe-gungen als „kollektive Herausforderungen“ umschreibt. In ähnlicher Weise definieren McAdam et al. „contentious politics“ als Interaktionen zwischen Protestierenden und ihren Adressaten oder grob vereinfacht „collective struggle“ (beide 2001:5). Auch Goodwin/Jasper verweisen darauf, dass Bewegungen protestieren, führen allerdings aus, dass dies auch implizit geschehen kann (2003:3) – möglicherweise im Gegensatz zu Protest (3.1.2). Rucht weitet den Handlungsaspekt insofern auf, als er unter Sozialen Bewegungen ein durch eine kollektive Identität abgestütztes „Handlungssystem“ versteht (1994:338; vgl. Pollack 2000:48). So lässt sich auch Tillys Definition interpretieren, die zunächst auf das Vorhandensein bestimmter poli-tischer (vgl.3.4) Handlungsformen („repertoires“) und so genannter „WUNC displays“ abhebt (2004:4): Bewegungen dienen demnach dazu, ihre Legitimation, Einheit, Masse und das Ein-satzbereitschaft in konzertierten Kampagnen darzustellen (WUNC = Worthiness, Unity, Num-bers, Commitment, 3.6).

Soziale Bewegungen werden zudem in einer ganzen Reihe von Definitionen als besonders starke Form von Protest verstanden.Dies schwingt bereits sowohl bei Rucht als auch Tilly mit (vgl. 3.1.2). Aber auch Tarrow nutzt diese Unterscheidung (1998:2).150 Bei Tarrow geht es da-bei um die Kapazitäten, Protest über einen längeren Zeitraum aufrechtzuerhalten,151 bei Cas-tells hingegen um die potentiellen Auswirkungen, die Bürger/innen durch ihr Handeln errei-chen können – im Falle von Sozialen Bewegungen kann dies sogar umfassender gesellschaftli-cher Wandel sein.

Sozialer Wandel ist auch in vielen weiteren Definitionen von entscheidender Bedeutung und damit ähnlich präsent wie der Aspekt des Zusammenschlusses. Während Castells allerdings auf die Auswirkungen abzielt, geht es anderen Autor/inn/en um die Zielsetzung. So sehen

Roth/Rucht in Sozialen Bewegungen den „Versuch […], grundlegende gesellschaftliche Verän-derungen […] herbeizuführen oder zu verhindern“ (2002:297). Nach Zald/Ash sollen „indivi-duals or societal institutions and structures“ verändert werden (1966), womit ähnlich wie bei Goodwin/Jasper auch weniger „grundlegende“ Ziele angesprochen sind (2003:3). Toch sieht

149 Anders als Diani (1992:13) sowie Roth/Rucht (2002:297), der in der kollektiven Identität zwar die Grundlage für die Sozi-ale Bewegung als Netzwerkverbindung sieht, bei dem aber kollektive Identität und Bewegung nicht eins sind, ist bei Jas-per (2012:30) die kollektive Identität der definierende Aspekte der Gruppe. Vgl. Bertram (2014), 5.3.3.

150 Die Unterscheidung ist durch Castells` (1979:246ff.) Verwendung zur Abgrenzung der urban social movements in beson-derer Weise für städtischen Protest relevant. In seinem Werk über die „städtische Frage“ versteht Castells (1977 [im Origi-nal 1972]:246ff.) Städtische Soziale Bewegungen als eine Form bürgerschaftlichen politischen Handelns („citizen ac-tion“) und vergleicht sie mit politischer Beteiligung und Protest. Dabei geht er von der potentiellen Wirksamkeit aus und sieht in Städtischen Sozialen Bewegungen die höchste und seltenste Form, die zu tatsächlichem sozialen Wandel führen könne, während Protest nur Reform und Beteiligung nur symbolische Veränderungen erwirken könne. Diese Idee wird später in „The city and the grassroots“ Castells (1983:280f.) ausgeweitet, Städtische Soziale Bewegungen bleiben aber die höchste Form bürgerschaftlichen politischen Handelns. Vgl. Pickvance (2003:103), 4.2.

151 Der Aspekt taucht auch in anderen Definitionen auf. So sieht etwa Toch (1965) eine „large number of people“ als erfor-derlich an.

die Zielsetzung Sozialer Bewegungen noch pragmatischer (1965): Für ihn geht es ihnen um die Lösung gemeinsamer Probleme. Bereits die allererste Definition Sozialer Bewegungen von Stein zeigt, dass die durch die Bewegungen erwirkte Veränderung keineswegs nur außerhalb ihrer selbst liegen muss (1850 [1959]): Er versteht sie als Emanzipationsprozess der Arbeiter-klasse.

Im Dokument „Aber nicht so!“ (Seite 67-70)

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