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Erosion und Renaissance städtischer Proteste und Initiativen in der Bewegungsgesellschaft Bewegungsgesellschaft

Im Dokument „Aber nicht so!“ (Seite 42-45)

Protestgeschehen als Ausgangspunkt der Debatte 60

2.1.2 Erosion und Renaissance städtischer Proteste und Initiativen in der Bewegungsgesellschaft Bewegungsgesellschaft

Die zuvor beschriebenen Protestereignisse sind der zumindest in den Massenmedien am stärks-ten wahrgenommene Ausdruck neu entstandener gesellschaftlicher Protestnetzwerke. Während sie nur in Teilen mit den mittlerweile größtenteils institutionalisierten Organisationen der

„neuen sozialen Bewegungen“ der vergangenen Jahrzehnte verbunden sind, wird

Geb-hardt/Holm davon ausgegangen(2011:7), dass mittlerweile nicht nur einzelne „neue Bürgerpro-teste“ (Butzlaff 2016:28), sondern darüber hinaus auch neue städtische Bewegungen entstan-den sind.

Dies ist keineswegs selbstverständlich. Zuvor haben zwei zunächst widersprüchlich erschei-nende Befunde die Untersuchung städtischer Proteste geprägt: Erstens besteht die vielfach ge-äußerte Einschätzung, dass aufgrund der zunehmenden Konflikthaftigkeit gesellschaftlicher Entscheidungen eine Situation bestehe, in der immer „irgendjemand protestiert“ (Bonacker 2008:11). Entsprechend wurde für die Bundesrepublik von einer „Demonstration Democracy“,

„Protestgesellschaft“ oder auch „Bewegungsgesellschaft“ gesprochen.83 Andererseits wurde für viele städtische soziale Bewegungen davon ausgegangen, dass sie eine Phase relativ geringer

80 Vgl. 2.1.2.

81 Innerhalb der partizipativen Befragung gaben die fünf Befragten durchschnittlich an, in den vergangenen Jahren mit rund 44 Protesten zu tun gehabt zu haben, mindestens aber mit 15. Innerhalb der Expertenbefragung wurden häufig Schätzun-gen innerhalb von Spannen angegeben, so dass der Durchschnitt hier zwischen sechzehn und knapp 25 Protesten pro be-fragter Person lagen. Aggregiert man beide Datensätze, so entsteht unter Verwendung der Maximalwerte die oben wieder-gegebenen Zahlen, bei Verwendung der unteren Angaben wären es 275 Fälle insgesamt bzw. 12 pro Befragungsteilneh-mer/in. Vgl. 1.3.2, 6.3.4).

82 Siehe Interview unter www.goethe.de/ges/pok/zdk/de7961459.htm, zuletzt gepr ft am 03.08.2012.

83 Etzioni (1970, 1970), Pross (1992); Neidhardt/Rucht (1993).

Es passiert etwas: Das aktuelle Protestgeschehen als Ausgangspunkt der Debatte 43

Aktivität durchlaufen, in der sie allenfalls zeitweise Protestereignisse hervorbringen (Melucci 1984:829). Viele Bewegungsakteure sähen, so Mayer (2008:306), eine „Erosion von Wider-stands- und Protestpotenzialen“. Trotz einzelner Massenproteste mit großen Teilnehmerzahlen sank die Anzahl der Protestereignisse kontinuierlich (Rucht 2006:189). Die Frage „where have urban movements gone?“ konnte auch in weitgehender Übereinstimmung mit Thesen der Ent-politisierung und Politikverdrossenheit beantwortet werden (Pickvance 1995).

Aus der Protest- und Bewegungsliteratur können weitere Indizien für das zunehmend negative Zusammenspiel von Mobilisierungsstrukturen und Kontextfaktoren städtischer Sozialer Bewe-gungen seit den 1990er Jahren angeführt werden (Rucht 2006:200ff., Kavoulakos 2006): Aus-gerechnet der bereits seit den 1970er Jahren bestehende Trend zur Pluralisierung von Inhalten, Formen und Anhängerschaft der Proteste unterstützte die Erosion zusätzlich. Er führte zu einer so starken Zersplitterung des Bewegungsmilieus, dass nur selten eine kritische Masse für ein Ziel mobilisiert werden konnte. Und auch die Institutionalisierung und politische Integration von Teilen der früheren städtischen Bewegungen – gerade auch lokalpolitisch durch die Grün-dung grüner Ortsverbände und Wählervereinigungen (vgl. etwa Blasius 2010, Salomon 1992, Bernbacher 1992) – hatte negative Folgen für die Mobilisierung, weil durch sie eine Radikali-sierung der verbleibenden nicht-institutionellen Teile einsetzte. Diese führte trotz einer Verbrei-terung der Bevölkerungsgruppe, die potenziell an Protestaktionen, alternativen Projekten und Ähnlichem teilnehmen würde, zu einer Begrenzung der Zahl der tatsächlichen Teilnehmer/in-nen (Geißel/Thillman 2006).

Auch wenn man aus guten Gründen eher von einer Veränderung des politischen Engagements als von einem Ausbleiben politischer Partizipation oder „Politikverdrossenheit“ spricht (Maier 2013), ist ein Rückgang der Protestneigung in der Bevölkerung erklärbar: Frühere „Bewe-gungsorganisationen“ (Kriesi 1996:166ff.) – einschließlich der sogenannten „alternativen Pro-jekte“ (Kavoulakos 2006) – sind weitgehend in den zivilgesellschaftlichen Teil des gegenwär-tigen Governance-Modus integriert worden. Ihre Akteure haben sich transformiert und gleichen denen von Nichtregierungsorganisationen oder sozialen Trägern, und sie reproduzieren sich –

„manche erfolgreich, viele prekär“ (Mayer 2008:306) – vor allem durch staatliche Programme.

Damit sind sie häufig nicht oder doch zumindest nur eingeschränkt in der Lage, Proteste zu or-ganisieren, die auch ihre Mittelgeber adressieren würden, die Ressourcenmobilisierung für Pro-test ist insgesamt erschwert. Verstärkt wurde dies auch durch die schrittweise politische wie ge-sellschaftliche Akzeptanz der Bewegungen und Initiativen sowie ihre Einbindung in koopera-tive Verfahren.

In den vergangenen Jahren haben sich nicht nur in den südeuropäischen Krisenstaaten neue na-tionale Protestbewegungen etabliert, sondern es sind globale Bewegungen entstanden, die wie Occupy und Wikileaks neue Protest- und Widerstandspotenziale gefunden und insbesondere globalisierungskritische Themen aufgegriffen haben. Wie eingangs bereits beschrieben, ent-standen auch im lokalen Maßstab vieler deutscher Großstädte neue Proteste, Initiativen und vielleicht sogar Bewegungen (Gebhardt/Holm 2011:7). In ähnlicher Weise werden auch inter-national vermehrt städtische Proteste und Initiativen wahrgenommen – sowohl in der westli-chen Welt als auch im globalen Süden (vgl. Künkel/Mayer 2011). Diese lokalen Proteste stehen teilweise in einer direkten Austauschbeziehung zu den globalen Phänomenen und werden daher manchmal als „(Re-)Lokalisierung“ der Globalisierungskritik verstanden (Mayer 2008:315).

Dies wird insbesondere dort sichtbar, wo lokale Protestnetzwerke im Zusammenhang mit über-lokalen Mobilisierungen im Zusammenhang mit politischen Großereignissen wie dem WTO-Gipfel in Seattle entstanden sind oder eine Verlagerung zum Beispiel der New Yorker

Occupy-Proteste in community groups feststellbar ist.84 Zudem gibt es deutliche Indizien – und in eini-gen Fällen auch belastbare Belege – für Lernprozesse zwischen städtischen Protestnetzwerken über Stadt- und Ländergrenzen hinweg (Stahre 2009).

Wie in Kapitel 4 ausführlich dargestellt wird, hat sich in Teilen der Literatur, insbesondere in der bewegungsnahen kritischen Stadttheorie, die Einschätzung zu den Möglichkeiten zur Pro-testformation und der potenziellen Wirksamkeit von Protest innerhalb weniger Jahre deutlich verändert. Nur fünf Jahre, nachdem eine „Erosion der Protest- und Widerstandspotenziale“ zu konstatieren war (Mayer 2008:306), sieht Mayer selbst nunmehr eine „tiefe Vergesellschaf-tung“ städtischer Bewegungen in greifbarer Nähe (2013), obwohl die wesentlichen Akteure

„alle von neoliberalen Enteignungs- und Unterdrückungsformen betroffen sind“.85 Hier besteht die Gefahr, eine „urban revolution“ quasi herbei zu analysieren (vgl. Bertram 2013).86 Umge-kehrt werden konservative Bürgerinitiativen allenfalls benannt, aber selten dezidiert aus der Perspektive städtischer Bewegungen untersucht, obwohl sie zum Teil erhebliche Mobilisierun-gen erreichen (vgl. Mayer 2008, Altrock et al. 2010:26) und durchaus SchnittmenMobilisierun-gen erkenn-bar werden.87 Schließlich fehlt in der Beforschung städtischer sozialer Bewegungen auch weit-gehend die Frage, in welchem Maße diese selber an der „Neoliberalisierung des Städti-schen“ beteiligt waren und sind – bzw. für diese Zwecke funktionalisiert wurden (Birke 2011:38f.).88

84 So beschreibt Mayer (2014:38) eine erhebliche lokale Bedeutung der US-amerikanischen „Occupy“-Bewegung nach de-ren Abklingen:

„Nachdem sie von den zentralen Plätzen geräumt und vertrieben waren, strömten die Bewegungen in die Nachbar-schaften, wo sie wiederum neue gemeinsame Räume für kollektive Aktion und Vergemeinschaftung erfanden und konsolidierten: so lösten sie einen neuen, sich rasant ausbreitenden Prozess aus, in dem sich weitere zahllose kleine - miteinander verbundene und sich gegenseitig unterstützende - Initiativen zu den bereits gebildeten hinzugesellten.

Auch in spanischen, portugiesischen und griechischen Städten entstanden Assambleas und Stadtteilräte, die den Menschen ermöglichen, den Auswirkungen der Krise, insbesondere den Folgen der Austeritätspolitik, nicht als iso-lierte und atomisierte Individuen, sondern als Community gegenüber zu treten. Inzwischen haben sich diese neuen Gemeinschaften mehr und mehr vernetzt, und organisieren solidarische Aktionen nicht nur lokal und regional, son-dern auch international.“

Vgl. Shepard/Hayduk (2002); Mayer (20.4.2012).

85 Tatsächlich entstanden in diesen fünf Jahren etliche „städtische“ Bewegungen im Sinne der kritischen Stadttheorie – „Oc-cupy Wall Street“, „Netzwerk Recht auf Stadt Hamburg“, „Gezi Park“, ggf. sogar der „arabische Frühling“ – und mindes-tens ebenso viel wissenschaftliche Auseinandersetzung zu registrieren um nur einig zu nennen: Harvey (2012); Merrifield (2011); Holm (2010); Holm/Gebhardt (2011); Twickel (2010).

86 In weiten Teilen der neueren Protestforschung besteht eine prinzipielle Sympathie für ihr Forschungsobjekt. Dies gilt in besonderer Weise auch für die Critical Urban Studies und ihre Auseinandersetzung mit städtischen sozialen Bewegungen.

So kann es geschehen, dass etwa Umfang und Möglichkeiten städtischer Bewegungen überschätzt werden.

Jenseits von Fragen zur Rolle der Wissenschaft ist dabei durchaus fraglich, ob ein solches Vorgehen zielführend im Sinne der (neomarxistischen) Sache ist: Möglicherweise könnte eine nüchternere Betrachtung den Bewegungen viel eher dabei helfen, ihre begrenzten Ressourcen besser einzusetzen. Gerade eine Anwendung jener sozioökonomischen Theorien, die ebenfalls auf einer gewissen Sympathie mit Bewegungsakteuren basieren und letztlich immer nach der Möglichkeit der Protestorganisation trotz widriger Bedingungen fragen (3.5), könnte hierzu geeignet sein. Sie könnte klären, unter welchen strukturellen Bedingungen, vor allem aber durch welche Mobilisierungen oder allgemein Strategien seitens der Initiativen selbst eine Entstehung und Entwicklung lokaler Bewegungen möglich ist.

Die tendenzielle Überhöhung der Bewegungen führt gegebenenfalls auch zu einer Überinterpretation und Vereinnahmung von Protesten. Vgl. Uitermark et al. (2012:2547f.). So wird zumindest einzelnen Initiativen und Protesthandlungen eine Bedeutung zugeschrieben, die diese selber möglicherweise – und einzelne Aktive ganz bestimmt nicht – gar nicht für sich in Anspruch nehmen. Vgl. Engels (2014). Proteste theoretisch aufzuladen, kann sowohl Überforderung als auch Entmün-digung bedeuten und lenkt gegebenenfalls sogar von den konkreten Problemen und Konflikten ab.

87 Vgl. etwa den „Häuserkampf“ im Frankfurter Westend oder ähnlich gelagerte Proteste in Köln. Vgl. Mössner (21.4.2012);

Haumann (2011). Dies würde noch einmal mehr in einer historischen Perspektive auffallen, doch wird diese Kontextuali-sierung durch die wiederum von Castells ausgehende Betonung der Neuheit der städtischen sozialen Bewegungen der spä-ten 1960er und frühen 1970er verhindert.

Insgesamt bleibt aber die Nähe zu bestimmten Bewegungen – und die daraus erwachsende Distanz zu anderen – proble-matisch. In der supralokalen Bewegungsforschung wurden etwa lange Zeit rechtsextreme Bewegungen außen vor ge- bzw.

anderen sozialwissenschaftlichen Forschungsfeldern überlassen. In ähnlicher Weise fehlen auch deren städtische Counter-parts zumeist. Vgl. Geißel/Thillman (2006).

88 Zu nennen wäre etwa die Mitwirkung an der Entstaatlichung, die Betonung individueller Freiheiten und persönlicher Rechte, wie sie Boltanski/Chiapello (2006:257) beschreiben. Aber auch der aus Bewegungsorganisationen entstandene Lobbyismus der institutionalisierten „Zivilgesellschaft“ wären in diesem Zusammenhang beispielsweise zu nennen. Vgl.

Brand (2003).

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2.2 Planungsprotestforschung: Überall und

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