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Jede gegen jeden? Ein gewandelter Protest durch neue Akteure?

Im Dokument „Aber nicht so!“ (Seite 112-116)

Potenziale und Probleme eines gewandelten Protests mit erweiterten Zielen und Akteuren

3.7.3 Jede gegen jeden? Ein gewandelter Protest durch neue Akteure?

Der Hinweis auf den „Aufstand der Armen“ und dessen theoretischen Ausschluss aus der testtheorie führt damit zum Abschluss dieses Kapitels zu den Träger/innen des politischen Pro-tests, die im Rahmen dieser Arbeit zumeist als Protestakteure bezeichnet werden. Dabei geht es darum, ob mit dem gewandelten Protestverständnis, das es überhaupt erst möglich macht, von Protestakteuren zu sprechen, auch ein Wandel der Trägerschaft stattgefunden hat. Ob die heuti-gen „Wutbürger“ also nicht länger den vormaliheuti-gen „Aufständischen“ entsprechen – zunächst einmal in der Theorie, während ein Blick auf die Protestrealität erst in der Schlussbetrachtung vorgenommen wird (16.2.1).

Die seit den 1980er Jahren entstandenen kulturbezogenen Protesttheorien betonen auch die Be-deutung des soziokulturellen Kontexts für das Phänomen politischen Protests (3.6). Insbeson-dere der für die Bundesrepublik in besonInsbeson-derem Maße bedeutsame310 Ansatz der „Neuen Sozia-len Bewegungen“ sieht sich auch darin begründet, dass sich in Folge „des Übergangs von der industriellen zur post-industriellen Gesellschaft“ Soziale Bewegungen und Proteste stark ver-ändert haben (Herkenrath 2011:33; vgl. insg. 45-53) und Protest heute zumal in den „reifen“311 westlichen Demokratien andere Akteure, Formen und Anlässe besitzt als etwa in den ersten

306 Tatsächlich zeigt sich bei einer Auswertung der wichtigsten Protestthemen innerhalb der Bundesrepubkik in den Jahren 1950 bis 1989, dass, wie Rucht (2006:190) schreibt, „[b]ei den hier genannten Themen [...] zustimmende Positionen (pro Demokratie, pro bessere Arbeitsbedingungen usw.) weitaus stärker vertreten [sind] als Contra-Positionen“ Dies mag aller-dings auch dem framing der Protestierenden geschuldet sein. Vgl. 3.6.1

307 Diese Angebote richten sich aber vor allem an die potentiellen Unterstützer/innen, die mobilisiert werden sollen und denen die Erwartung auf einen „Gewinn“ offeriert werden muss, damit sie die „Risiken“ des Protests auf sich nehmen. Vgl.

Snow/Benford (1988:200ff.), Benford/Snow (2000:615ff.).

308 Sie wird allerdings auch von Roth/Rucht (2002:297) gewissermaßen dadurch relativiert, dass sie Soziale Bewegungen als den „Versuch [, …] grundlegende gesellschaftliche Veränderungen […] herbeizuführen oder zu verhindern“, definieren und den Begriff somit auch für die Verhinderung Sozialen Wandels öffnen.

309 Einführung zur deutschsprachigen Ausgabe von Leibfried/Narr in Piven/Cloward (1986:iff.).

310 Vgl. Dalton et al. (1990:4).

311 Vgl. Offe (2003:11).

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Nachkriegsjahrzehnten.312 Dies ist auch bedeutsam für die soziale Herkunft und ggf. die sozial ungleiche Stellung von Protestakteuren und ihre daraus ggf. resultierende politische Benachtei-ligung. War bislang allgemein von Protestakteuren die Rede, die sich allenfalls durch ihren Or-ganisationsgrad unterschieden (3.5), macht es die Vorstellung, dass Protest kulturellen Wand-lungen unterliegt, erforderlich zu diskutieren, wer protestiert bzw. inwiefern nur bestimmte Personen als Protestierende in Frage kommen. Auch in den neueren Ansätzen bleibt häufig die Vorstellung erhalten, dass Protest eine spezielle Strategie ist, die denjenigen ein Machtmittel in die Hand gibt, denen solch politischer Einfluss gemeinhin versagt ist:

„Die Annahme scheint plausibel, dass solche Mittel von Gruppen eingesetzt werden, die sich mit ihren Anliegen im politischen Betrieb nicht angemessen repräsentiert und von den ‚den Herrschenden‘ nicht hinreichend berücksichtigt finden.“ (Neidhardt/Rucht 2001:29; vgl. Lipsky 1968)

Protest wird als eine Strategie von „normalen“ Bürger/innen313 genutzt und richtet sich gegen Autoritäten und Eliten. Für Tarrow gehen „contentious politics“ von den „normalen Men-schen“ aus (2011:6). Obwohl er durchaus feststellt, dass sie „often in alliance with more in-fluential citizens and with changes in public mood“ handeln (Tarrow 2011:6), sind es stets die

„einfachen“ Bürger/innen, die protestieren. Diese „ordinary people as opposed to army offic-ers, politicians, or economic elites“ sind es auch, die für Goodwin/Jasper den Hauptbestandteil Sozialer Bewegungen ausmachen (2003:3). Mehr noch: Zumindest für Tarrow stehen ihnen stets „better-equipped opponents or [a] powerful state“ entgegen (2011:8).314 Die besondere, gemeinschaftliche politische Handlung des Protests auf solche Personen zu begrenzen, ist für Tarrow wichtig, da für ihn ein wesentlicher Grund, damit „collective action becomes conten-tious“, darin liegt, dass den handelnden Personen ein „regular access to representative institu-tions“ fehlt, „because it is the main and often only recourse that most ordinary people possess to demonstrate their claims“ (sämtlich 2011:7f.).315

Insbesondere in der bundesdeutschen Debatte wird mit Verweis auf die empirische Basis je-doch gegen solche Abgrenzungen argumentiert.316 So wird am Beispiel der Bundesrepublik ei-nerseits darauf verwiesen, dass bei einer weitgehenden Demokratisierung und der Verallgemei-nerung materiellen Wohlstands317 in den Nachkriegsjahrzehnten die „Zahl der Proteste von 1950 bis 1989 [...] schwankt, [...] aber im langfristigen Trend zugenommen [hat]“ (Rucht 2006:187; vgl. 187-190).318 Gleiches gilt auch für die noch stärker schwankende Zahl der Pro-testteilnehmer/innen. Doch nicht nur die absolute Zahl der Protestierenden hat zugenommen.

312 Dies bedeutet allerdings nicht, dass die zuvor beschriebenen Paradigmenwandel der Protestforschung allein auf die Verän-derung des Untersuchungsgegenstands zurückzuführen sind, obwohl dies mit ursächlich ist Tarrow (2011:22f.). Einerseits wurden viele neuere Ansätze auch anhand historischen Materials überprüft wie etwa durch Gamson (1990 [1975])), ande-rerseits fanden gerade in jüngerer Zeit auch wieder Rückgriffe auf traditionelle Theorien statt (3.6.4, 3.3.2). Vgl. etwa Herkenrath (2011).

313 Der Begriff „Bürger/in“ wird dabei in der Regel nicht als an eine formale Staatsbürgerschaft gekoppelt betrachtet, sondern auch für Menschen außerhalb der politischen Elite verwendet, die keine formalen Bürgerrechte besitzen.

314 Dabei bezieht Tarrow (2011:21) sich letztlich auf Tillys „Simple Polity Model“. Vgl. 3.4.3.

315 Tarrow (2011:8) geht sogar so weit, dass er auch ansonsten „unpolitische“ Bewegungen innerhalb einer – letztlich politischen – Konfrontation mit Eliten sieht: „But even such movements, as sociologist Craig Calhoun reminds us, en-counter authorities in conflictual ways, because it is these authorities who are responsible for law and order and for set-ting the norms of society.“

316 Weniger wird auf Widersprüche zu theoretischen Ansätzen verwiesen. So könnte angeführt werden, dass gemeinsam mit dem durch relative Deprivation (3.3.1) und Ressourcenmobilisierungsansatz (3.5.1) beschriebenen Bedarf an eigenen Res-sourcen für die Protestentstehung nur ein sehr enger Bereich verbleibt, in dem Menschen exkludiert sind und dennoch über die notwendigen Mittel verfügen. Auch die nachfolgenden Ausführungen zur subjektiven Wahrnehmung von Benach-teiligung sollten nicht mit einem Verweis auf (objektive) relative Deprivation gleichgesetzt werden.

317 Unter anderem Roth (2011:48ff.) zeigt aber auch, dass die in der Nachkriegszeit durch den Marshallplan vorgesehene Ausweitung der „zivilen, politischen und sozialen Bürgerrechte [...] für die gesamte Bevölkerung [… i]m Rückblick [...]

irgendwann in den 1970er Jahren erlahmt [ist]“.

318 Alle nachfolgend wiedergegebenen Daten auf der Basis von „PRODAT: Dokumentation und Analyse von Protestereignis-sen in der Bundesrepublik Deutschland“, einem Forschungsvorhaben des WisProtestereignis-senschaftszentrums Berlin (WZB). Vgl.

Die empirischen Ergebnisse deuten andererseits darauf hin, dass mit der Ausweitung der Pro-testteilnahme auch eine Erweiterung der soziokulturellen Zusammensetzung stattgefunden hat:

„sie schloss in immer stärkerem Maße auch bislang eher ‚protestabstinente‘ Gruppen ein. In-zwischen nutzen auch Polizisten, Lehrer und Zahnärzte das Mittel des Straßenprotests“ (Rucht 2006:198).

Grund dafür ist laut Rucht (2006:205 mit Verweis auf Gurney/Tierney 1982), dass nicht „das absolute Maß, sondern vielmehr die Wahrnehmung einer gravierenden Benachteiligung im Ver-gleich zu früheren Situationen oder zu anderen Gruppen“, also ein subjektiver Eindruck statt objektiver Faktoren,319 ausschlaggebend für die Protestentscheidung ist.320 Hinzu kommt aber auch: Selbst unter den „Protestabstinenten“ in der Bevölkerung ist Protest als politische Hand-lung mittlerweile durchaus akzeptiert und

„die Mehrzahl der Bürger/innen [betrachtet] im Zuge der ‚partizipatorischen Revolu-tion‘ viele der Formen, welche damals als außerhalb der sozialen Normen und Gewohn-heiten stehend definiert worden waren, als akzeptabel […]“ (Geißel/Thillman

2006:160).

Für einen gewandelten Protest spricht demzufolge auch, dass stärker kurzfristige und eigenini-tiative Organisationsformen zu Lasten von Verbänden und Kirchen zugenommen haben,321 was letztlich bedeutet, dass die einzelnen am Protest teilnehmenden Individuen stärker befähigt sein müssen, das damit einhergehende Mehr an Organisation zu bewältigen. Ein wesentlicher Grund für die Verbreiterung des Spektrums der Protestakteure wird dabei in der Ausdifferenzierung der Protestthemen und -formen gesehen:322 „Insgesamt kommt es im Verlauf der Zeit zu einer Vervielfältigung der Protestthemen, die sich immer weiter auffächern und teilweise von sehr speziellen Trägergruppen lanciert werden“ (Rucht 2006:192 mit Verweis auf Balistier 1996).

Gleichzeitig besteht in Teilen eine erhebliche Schnittmenge zwischen den Mitgliedern unter-schiedlicher Protestnetzwerke (Kaase 1990:84).

Während hiermit die theoretische Annahme eines Protests der Unterprivilegierten zwar empi-risch entkräftet bzw. durch den gewählten Analyserahmen übergangen wird, fehlt es an einer bewussten Erweiterung des theoretischen Rahmens. Eine solche liefern Goodwin/Jasper (2003:4), die davon ausgehen, dass sich Protest an „authorities, powerholders, and/or cultural beliefs and practices“ richtet. In diesem Sinne wird die Strategie politischen Protests nicht nur

Rucht et al. (1992), 6.3.1.

319 Rucht (2006:205) führt dazu aus:

„Eine aus einem solchen Vergleich resultierende Unzufriedenheit kann sich selbst bei Gruppen ergeben, die nach objektiven Maßstäben als eher privilegiert gelten müssen. Dies trifft beispielsweise auf Zahnärzte zu, die sich gegen eine drohende Reduzierung ihrer Einkommen zur Wehr setzen.“

320 Damit wird der sozialkonstruktivistische Gehalt von Protest auch für die Beschreibung der Protestierenden bedeutsam (3.6). Allerdings wird an den Ausführungen nicht deutlich, ob es sich dabei um eine stärker nach innen gerichtete Kon-struktion einer kollektiven Identität oder um ein stärker nach außen gerichtetes stratgegisches framing-handelt.

321 Rucht (2006:196; vgl. insg. 196-198) unterscheidet dabei in drei „stark vereinfachte organisatorische Grundtypen“, näm-lich „Initiativen, Gruppen oder Netzwerke“, „Verbände und Kirchen“ sowie „Parteien“. Dabei nimmt auf Basis der Zahlen bis 1990 der erste Typ zu Lasten des zweiten zu, während bei den durch Parteien organisierten Protesten nur geringe Schwankungen auftreten. Solche informellen Organisationsformen als Protestträger kamen vor allem im Rahmen der „Au-ßerparlamentarischen Opposition“ der späten 1960er Jahre auf und verbreiterten sich mit Aufkommen der „Neuen Sozia-len Bewegungen“ in 1970ern und 1980ern.

Gegen die relativ geringe Bedeutung von formellen Bewegungsorganisationen spricht allerdings die Zunahme von breiten Organisationsbündnissen.

322 Auch das ohnehin reichhaltige Repertoire „scheint sich im Zeitverlauf weiter auszudifferenzieren“, wie Rucht (2006:194;

vgl. insg. 194-196) meint: In den 1950er Jahren dominieren demnach noch traditionelle Protestformen wie Streiks, Unter-schriftensammlungen und Massenkundgebungen, während ab Mitte der 1960er „bis dato nicht oder kaum genutzte Akti-onsformen wie Polit-Happenings, Institutsbesetzungen, Sit-ins, Teach-ins und Straßenblockaden“ und mit den „Neuen Sozialen Bewegungen“ Besetzungen und Menschenketten, „aber auch verfahrensförmige Einsprüche und Klagen“ hinzu-kamen.

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gewählt, wenn keine anderen Strategien zur Verfügung stehen, um Zumutungen zurückzuwei-sen, sondern kommt auch dann zum Einsatz, wenn die eigenen Vorstellungen und Ziele gegen – einzelne – kulturelle Vorstellungen und/oder Praktiken der eigenen Gesellschaft bzw. der Mehrheitsgesellschaft verstoßen.

Spätestens dadurch aber, dass die Protestakteure vielschichtiger sind und nicht zwangsläufig quasi als „deserving poor“323 den Sozialen Wandel hin zu einer sozial gerechteren Welt voran-treiben, führt die Aufhebung der Beschränkung auf Unterprivilegierte jedoch auch dazu, dass die zumindest implizite (Jasper 2012:39)324 Vorstellung von Protest als per se „progressiv“ (De-Filippis/North 2004:75) mit Verweis auf Castells (1983) ebenfalls in Frage gestellt wird und auch „konservativer“, rein auf die Erhaltung des Status Quo orientierter Protest möglich wird:

„Emerging forms of mobilization cannot be automatically assumed to be progressive in the sense of fighting for the increasing welfare, recognition or empowerment of a wide set of individuals or groups: they may be more defensive of the status quo of a small privileged minority, as Harvey notes about conservative forms of ‘militant particular-ism’.“ (Novy/Colomb 2012:17 mit Verweis auf Harvey 2001)

Damit einher geht auch, dass trotz einer längeren Dominanz „linker“ Protestpolitik auch rechts-gerichtete Proteste existieren, in der bewegungsnahen Forschung jedoch zumeist deutlich un-terrepräsentiert sind (Hutter 2012:151ff.). Damit sind auch Zielsetzungen eines an früheren Zu-ständen orientierten „sozialen Wandels“ möglich.325

„These may involve seeking to reinforce nationalist imaginaries in opposition to neolib-eral globalization [...]. They may also involve reinforcing local identities and practices as alternatives to a neoliberal borderless world.“ (Leitner et al. 2007c:12)326

323 Die Verwendung eines im Englischen feststehenden Begriffs deutet ebenso wie die andere Auffassung unter deutschspra-chigen Wissenschaftler/innen darauf hin, dass zumindest ein Teil der Diskussion auf kulturellen Unterschieden beruht.

Vgl. 14.3.2.

324 Dabei geht es bei Jasper (2012:39) nicht allein darum festzuhalten, dass Protest und Bewegung auch „konservative“ oder

„rückwärts gewandte“ Ziele verfolgen können, sondern er kritisiert das inhärente Geschichtsbild innerhalb seiner Meinung nach weiter Teile der Bewegungsforschung, das davon ausgeht, dass

„progress eventually triumphs, technologies, affluence, human rights, political participation all spread together around the world, inexorably, despite occasional defeats. This is an inspiring political vision, to be sure. But it may be wrong. My focus on strategic dilemmas is meant to reflect a view of the world as more tragic, in which there are often no good choices, only least bad ones, in which oppression is as prominent as the battle against it, in which the best choices may not be good enough.“

325 Für Tarrow (2011:5f.) erscheint eine weniger normative und rein progressiv-positive Bewertung jedoch vor allem im Hin-blick auf die Beziehung von Bewegung und Terrorismus bedeutsam:

„With the turn of the new century, and especially after September 11, 2001, the phrase ‘social movement society’

has taken on a new and more forbidding meaning. We will ask whether transgressive politics is beginning to over-whelm contained politics, and, if so, what are its implications for civil politics.“

326 Der Vollständigkeit halber seien aber auch die weiteren Vorstellungen zitiert, die Leitner et al. (2007c:12) unter zeitgenö-ssischen Sozialen Bewegungen ausmacht:

„But alternative social imaginaries are not restricted to reasserting territorial autonomy. They include alternative global imaginaries, whether through Marxism (‘Workers of the world, unite!’), global feminist and environmental movements, or global religious evangelism. They also include translocal networks, such as networks of indigenous peoples, the World Social Forum, Christian missionaries, or AI-Qaeda.“

Im Dokument „Aber nicht so!“ (Seite 112-116)

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