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Teil B Theorie

Im Dokument „Aber nicht so!“ (Seite 63-66)

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Teil B

3 Sozialwissenschaftliche Theorien zu Protest und Bewegung

Die drei Kapitel des Teils B legen das theoretische Fundament der Arbeit und dienen gemein-sam dazu, Planungsproteste als eigenständigen planungswissenschaftlichen Begriff zu konzep-tualisieren und daraus für die empirisch angelegte Arbeit einen konkreten Untersuchungsge-genstand abzuleiten. Bevor dies in Kapitel 5 ausgeführt werden kann, dient das folgende Kapi-tel zunächst dazu, Forschungsstände und Theorieansätze sozialwissenschaftlicher Disziplinen als Grundlage für eine kritische planungswissenschaftliche Begriffsarbeit aufzubereiten. Ziel ist es dabei an dieser Stelle, dem impliziten, widersprüchlichen und stark vereinfachten Protest-begriff der planerischen Debatte, die in Kapitel 1.4.3 collagiert wurde, einen – sofern möglich – konsistenten sozialwissenschaftlichen Protestbegriff entgegenzustellen. Da die theoretischen Konzepte in der Regel auf der nationalen und supranationalen Ebene angesiedelt sind, erfolgt in Kapitel 4 eine Überleitung durch die Beschreibung von explizit „städtischen“ Ansätzen, die zumindest in Teilen der Marginalisierung des Lokalen entgegenstehen, wenngleich ihre Ver-wendbarkeit für planungswissenschaftliche Fragestellungen begrenzt scheint (5.1). Auf die Notwendigkeit, disziplinäre Grenzen zu beschreiben, die eine Übernahme sozialwissenschaftli-cher Ansätze erschweren, wird insgesamt erst in Kapitel 5 eingegangen.

Da die sozialwissenschaftliche Protesttheorie allerdings aus unterschiedlichen Disziplinen und Schulen stammt und innerhalb der vergangenen rund fünfzig Jahre mehrere durchgreifende Veränderungen erfahren hat, soll die Darstellung trotz der gebotenen Knappheit diskursiv erfol-gen und auch historische Herleitunerfol-gen beinhalten. Dies bietet nicht zuletzt die Möglichkeit, auch in „veralteten“ Theorien Ansatzpunkte für eine planerische Debatte zu erkennen. Schließ-lich ist es durchaus mögSchließ-lich, dass planerische Diskurse in Unkenntnis neuerer sozialwissen-schaftlicher Erkenntnisse und Ansätze geführt werden.

Dabei wird versucht, zentrale Diskurslinien herauszuarbeiten und trennende Aspekte zu beto-nen, um Orientierung für die eigene Begriffsarbeit zu bieten. In der sozialwissenschaftlichen Forschung ist mittlerweile eine Vielzahl fließender Übergänge und Verbindungen zwischen den Konzepten entstanden. Dies führt teilweise zu einem „eklektischen“ Vorgehen: „Forscher/innen wählen zu Recht aus den verschiedenen Ansätzen eklektisch einzelne Faktoren aus, denn kei-ner reicht als alleiniger Erklärungsansatz aus“ (beide Geißel/Thillman 2006:170 mit Verweis auf Rucht/Neidhardt 2002). McAdam et al. bezeichneten die Vielfalt der Ansätze gar als

„smörgasbord“ (1988), „als ein Schlemmerbuffet, auf dem sich die Forscher/innen nach Belie-ben bedienen können“ (Herkenrath 2011:57). So wird es auch möglich, Erkenntnisse mehrerer zur Protestforschung benachbarter Forschungsfelder wie „contentious politics“ (McAdam et al. 2001, Tarrow 2011) und insbesondere auch Soziale Bewegungen zu verwenden (Tilly 2004, Goodwin/Jasper 2003, Roth/Rucht 2008a). Sie werden nach einer einleitenden Unterscheidung in Unterkapitel 3.1 in den folgenden Ausführungen teilweise stark vereinfachend subsumiert.

Die gebotene Kürze erfordert es, weiterhin bestehende Divergenzen im sozialwissenschaftli-chen Diskurs zu vernachlässigen.

Die Struktur des Kapitels ist eine thematische Gliederung, folgt aber im Wesentlichen einer Chronologie, die sich an drei maßgeblichen Wandlungen oder auch Neuerungen orientiert. Die erste Wandlung datiert auf circa 1970 und ist so umfassend, dass sie als Paradigmenwechsel angesehen werden kann. Ihre Darstellung wird nachfolgend auf vier Unterkapitel verteilt, die

Ambivalenz der Bewertung, des Umgangs und der Verhältnisse von Planung und Protest 65

sich mit der Wende von einem irrationalen zu einem rationalen Protestverständnis, vom Übgang von der Ursachen- zur Organisationsforschung, der Integration des zuvor als extern er-achteten Protests in das politische System und mit drei Modellen zur Erklärung der Protestfor-mation und -entwicklung befassen (3.2 bis 3.5). Die beiden weiteren Unterkapitel 3.6 und 3.7 beschreiben den zweiten zentralen Wandel der Protestforschung, der in den 1990er Jahren statt-fand und eine Hinwendung zu kulturellen Ansätzen.

In zwei getrennten Abschnitten wird auch auf aktuelle Tendenzen eingegangen, die den bisheri-gen Forschungsstand kritisieren und Weiterentwicklunbisheri-gen fordern. Einerseits geht es um eine weitere möglicherweise paradigmatische Wende von strukturalistischen zu handlungstheoreti-schen Ansätzen (3.3.2). Andererseits wird eine strategische Bedeutung für die zuvor im wahrsten Sinne „wegrationalisierte“ Emotionalität eingefordert, was teilweise als Rückgriff auf Theorieansätze vor dem ersten Paradigmenwechsel angesehen wird (3.6.4). Beide Ansätze sind bislang nicht stark genug ausgeprägt, um als eigenständige Ansätze oder gar vierte Wandlung dargestellt zu werden. Daher erfolgt ihre Thematisierung unabhängig von der Chronologie als ausführlichere Kritik vorangegangener Konzepte.

Für diese Zusammenfassung wesentlicher Theorieansätze wird überwiegend auf bestehende Abhandlungen zur Geschichte der Protest- und Bewegungsforschung innerhalb der Literatur zurückgegriffen.140 Originalquellen werden in der Regel entsprechend ihrer Nennung in dieser Sekundärliteratur wiedergegeben.

Stadtpolitische Proteste

Es ist davon auszugehen, dass die nachfolgend beschriebenen Theorien ortsgebundene, auf die lokale Ebene verfasster Politik und Verwaltung konzentrierte Proteste direkt ausgrenzt oder in-direkt vernachlässigt. Während die planungswissenschaftliche Diskussion stets auf diese Ebene konzentriert ist, wird das Lokale und Städtische in den Sozialwissenschaften bislang insgesamt wenig beachtet, erst mit dem spatial turn geraten auch hier die Besonderheiten der Stadtgesell-schaft in den Blick (vgl. Herrmann et al. 2011). Der nachfolgend beschriebene Wandel der Pro-test- zur Bewegungsforschung verstärkte bislang den Ausschluss lokaler Phänomene zusätzlich (3.5). Wird für Bewegungen in der Regel ein „Mehr“ gegenüber Protest angenommen (3.1.2), gelten städtische Proteste als in besonderem Maße begrenzt und qualifizieren sich insofern häufig nicht für eine Beforschung oder Beachtung innerhalb der theoretischen Ansätze, die

140 Dies sind im Wesentlichen und in chronologischer Reihenfolge: Tarrow (2011), Herkenrath (2011), Geißel/Thillman (2006), Jasper (2004), Pollack (2000), Willems (1997) und in Teilen Opp (1996). Eine Auswertung diverser weiterer Quel-len wäre möglich gewesen, aufgrund der Vielfalt der unterschiedlichen Ansätze der Autor/inn/en erschien eine weitere Ausweitung allerdings nicht erforderlich.

Dabei besteht innerhalb der genannten Werke keine Einheitlichkeit bei der Kategorisierung der vielfältigen Ansätze. Fol-gende Kategorien werden in den angegebenen Werken unterschieden:

1. sozialpsychologische Ansätze und collective behaviour (Herkenrath)

a.Gesellschaftliche Krisen (Opp) / sozialstrukturelle Spannung (Koopmans) / Structural Strains und Depriva-tion (Pollack) / Sozialer Wandel, Krisenansätze (Geißel/Thilmann) / collective behavior, structural strains (Tarrow)

b. Neue Bewegungen durch neue Konflikte (della Porta/Diani) 2. Ressourcenmobilisierung und politischer Prozess (Pollack)

a. Ressourcenmobilisierung (Koopmans, della Porta/Diani, Herkenrath, Geißel/Thilmann, Tarrow 2011) b. Gelegenheitsstrukturen (Opp, Geißel/Thilmann) / politische Gelegenheitsstrukturen (Koopmans) /

Bewe-gungsinterne Bedingungen und Möglichkeiten: Political Opportunity (Pollack, Tarrow 2011) / politischer Prozess (della Porta/Diani, Herkenrath)

c. kollektives Handeln (della Porta/Diani) / rationales Handeln (Opp) 3. kulturelle Voraussetzungen: framing und kollektive Identität (Pollack, Tarrow)

a. kollektive Identität (Koopmans, Herkenrath, Geißel/Thilmann) b. framing (Koopmans, Herkenrath, Geißel/Thilmann) 4. Neue Soziale Bewegungen (Herkenrath)

häufig darauf ausgelegt sind, zeitlich und räumlich eine große Bandbreite nationaler und supra-nationaler Phänomene zu integrieren (vgl. insb. Tilly 2004).

Aufgrund ihrer besonderen Relevanz für diese Arbeit werden Forschungsstände zu stadtpoliti-schen Protesten und Städtistadtpoliti-schen Sozialen Bewegungen daher in einem eigenen Kapitel 4 zu-sammengefasst, an dieser Stelle hingegen zunächst ausgeklammert.141

3.1 Protest, Bewegung, Protestbewegung?

Zur Vielzahl der Begriffe und Konzepte der

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