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Der Versuch, sich selbst zu erkennen

Im Dokument Von Bremen in die Anderswelt (Seite 54-64)

1.3 »Was bin ich nur? Wer bin ich?« 30 – Die Suche nach Selbsterkenntnis

1.3.1 Der Versuch, sich selbst zu erkennen

Die mehrfach gestellte Frage nach dem eigenen Ich bringt die Frage nach der eigenen Identität auf den Punkt, wenn sie auch so allgemein formuliert ist wie in der Form

»Wer bin ich?«. Wie im oben bereits erwähnten Zitat aufgezeigt – »[…] so wollte ich in Wahrheit dochmichhaben. Alles andere interessierte gar nicht.« (VG, 101) – ist die Identitätsfrage eine zentrale, wenn nichtdiezentrale Frage vonVG.31

Das grundlegende Anliegen dieser Selbstreflexion ist zweifach. Zum einen geht es darum herauszufinden, ob Selbsterkenntnis überhaupt möglich ist. Diese stellt er sich als eine möglichst objektive und umfassende Bestimmung von Identität vor. Dabei beschränkt sich Laupeyßer fast ausschließlich auf die Innenperspektive (Reaktionen von außen, die die Außenperspektive darstellen, werden erst im Komplex der ›Nähe-rungen‹ bedeutsam). Zum anderen ist es der damit verquickte Versuch, sich durch Selbstreflexion aus seiner Identitätskrise zu befreien und zu einem stabilen Zustand zu gelangen.

30 VG, 225

31 Anzumerken ist, dass André BretonsNadja(1928/63) mit dieser Frage in genau dieser Formulierung beginnt. Diese Erzählung ist ein wichtiger Prätext vonVGund wird darin mehrfach explizit genannt, vgl. unten Abschnitt 1.4.2 auf Seite 77.

»Was bin ich nur?Werbin ich?« 55

Zudem geht es um das Konsistenzproblem. Im Folgenden werden Laupeyßers

»Versuch, sich selbst zu erkennen« vor allem Motive zugeordnet, die dem Konflikt zwischen Bewusstem und Unbewussten entspringen, demnach widersprechenden Ele-menten der Innenperspektive. In der Figur Falbin wird an diese Motive angeschlossen und der Konflikt in anderer Weise noch einmal durchgespielt. In den Motiven wird gezeigt, wie verschiedene Facetten der Konstruktion und Auflösung von Identität über das Körperliche und körperliche Veränderungen bearbeitet werden. Körper und Geschlecht werden so als Definitionsräume von Identität etabliert.

Bei der Einführung des Motivs spielen Spiegel in mehreren Konstellationen eine wich-tige Rolle. Durch die Betrachtung der eigenen Person im Spiegel möchte Laupeyßer Vertrautheit mit sich selbst und dadurch Selbstbestätigung erhalten. Es wird ihm zur Sucht, sich im Spiegel zu betrachten, jedoch nicht, wie er betont, aus »Narziß-mus«, sondern aus Unsicherheit. Das Ergebnis ist jedoch gerade gegenteilig: »Ich war erstaunt über meinen Anblick, der sich nicht verbinden ließ mit mir.« (VG, 18) Die Bemühungen führen also zu einer vollständigen Verunsicherung und deuten schon die Perspektive einer gespaltenen Persönlichkeitsauffassung an. Bereits in der Pubertät hatte die genaue Betrachtung im Spiegel zu Verunsicherung geführt, da-mals jedoch durch einen besonders ungewöhnlichen Anschauungswinkel. Mit etwa fünfzehn Jahren hatte Laupeyßer die Behauptung von ihn hänselnden Mitschülern, er habe einen »Entenarsch« (VG, 27), mit Hilfe zweier Spiegel überprüft. Da er im Zuge dieser ›Untersuchung‹ auch seine Genitalien und seinen After erstmals genauer betrachtet, muss er erst lernen, den Anblick seines Körpers zu akzeptieren.32Was hier auf recht ungewöhnliche, aber dennoch nicht unerwartete Weise geschildert wird,33kann jedoch als Beschreibung der natürlichen Entwicklung eines Jugendlichen gesehen werden, der sich durch die Erkundung seines Körpers nicht nur körperlich kennen- und akzeptieren lernt. Diese natürliche Entwicklung wird durch die Krise jedoch gestört.

Das Hinterkopf-Motiv

Die Betrachtung des eigenen Körpers aus einem ungewöhnlichen Winkel und die daraus resultierende Verunsicherung spielt auch in einer Szene im Café, das zu Laupey-ßers bevorzugtem Aufenthaltsort wird, eine Rolle, in der das Motiv des Hinterkopfs eingeführt wird. Die Wände des Cafés sind an den Längsseiten mit Spiegeln versehen, die den Raum weiter erscheinen lassen und durch die Platzierung einander gegenüber eine unendliche Vervielfachung der dazwischen sitzenden Gäste und Gegenstände erzeugt. Ein weiterer Effekt ist, dass Laupeyßer sich von hinten anschauen kann und, nachdem er sich überhaupt einmal erkannt hat, lange seinen Hinterkopf betrachtet.

Durch den ungewohnten Blickwinkel kommt er sich fremd vor; die lange Betrachtung

32 Später wird das »Spiegelexperiment« auch Falbin ›angedichtet‹. Auch in dem Zusammenhang wird wieder die Formulierung gebraucht, dass er Tage brauchte, »um sich so zu akzeptieren« (VG, 161).

33 Der offene sprachliche Umgang mit sexuellen Szenen, Fäkalsprache oder betont ekligen Schilde-rungen ist kennzeichnend für das Buch und changiert zwischen provokantem Tabubruch und dem versuchten Anschein von natürlichem und lockerem Umgang mit diesen Themen.

erzeugt wie auch beim Gesicht keine Vertrautheit, sondern eine weitere Entfremdung, er kommt sich wie »[e]in anderer« (VG, 28)34vor. Laupeyßer überlegt dennoch, ob die Betrachtung im Spiegel eine Möglichkeit ist, sich kennenzulernen. Dadurch wird das Motiv des Kennenlernens, der ›Näherung‹ an sich und andere eingeführt, das später noch eine zentrale Rolle spielt. Doch kommt er hier lediglich zu der Erkenntnis:

»Man paßt nicht zusammen, Hinterkopf und Gesicht sind nicht stimmig. Ich bin nicht stimmig. Daran könnte es liegen, daß ich so ganz und gar nicht stimmig bin.« (VG, 29) Erst noch ganz allgemein formuliert in dem Versuch, nicht mit einer individuellen, sondern einer allgemein gültigen Beobachtung konfrontiert zu sein, ist er jedoch gezwungen, die Aussage sofort auf sich selbst zu reduzieren. Diese Überlegung wird zwar auch erst wieder zurückgenommen oder eingeschränkt (»Lachhaft!«), doch wird der Gedanke an den Hinterkopf zur Manie. Nicht nur wird der Hinterkopf im Spiegel noch mehrfach beiläufig erwähnt (VG, 45, 136, 191), Laupeyßer möchte ihn am liebsten zeichnen oder fotografieren, um ihn jederzeit betrachten zu können (VG, 82), wiederum in der vergeblichen Hoffnung auf Absicherung der eigenen Identität durch Vertrautheit.

Durch die Bezeichnung als »Ort der Hintergedanken« (VG, 29) wird der Hinter-kopf als Sphäre des Unbekannten, Unbewussten und auch Dunklen des Menschen, seiner vielleicht unterdrückten Kehrseite charakterisiert. Dem eigenen Hinterkopf, der aus der Distanz der Spiegel gleichsam als jemand anderer gesehen wird, traut Laupeyßer mehr zu als sich selbst. Dabei handelt es sich um zentrale Eigenschaften, die er an sich vermisst: zum einen die Entschiedenheit des Willens im Allgemei-nen (VG, 28), d. h. sich des eigeAllgemei-nen Lebenssinns bewusst zu sein oder zumindest einen eigenen Lebensweg sicher zu verfolgen; zum anderen die Fähigkeit, der ihn irritierenden, im Kino erfahrenen Lust an Gewalt zu widerstehen (VG, 124). Indirekt wird auch die Verbindung zur Phantasie bzw. zur »Herstellung von Wirklichkeit«

gezogen, als dem Hinterkopf bescheinigt wird, im Gegensatz zu Falbin den Absprung zu schaffen, wegzufahren und eine neue Identität auch entgegen den Hürden der Bürokratie anzunehmen. Dies wäre jedoch nur möglich, so wird konstatiert, »sofern es einem gelungen wäre, [den Hinterkopf] vorzustülpen« (VG, 112). Der Wunsch, dies zu tun und damit die verborgenen Gedanken und Charaktereigenschaften her-vorzuholen und an die Stelle des »vorherige[n] Gesicht[es]« (VG, 235) zu setzen, wie eine andere Persönlichkeit, die schon in ihm angelegt ist, hervorzukehren oder anzunehmen, wurde auch schon vorher ausgedrückt (vgl.VG, 29). Der Hinterkopf wird damit zu einem Motiv, das im Verbund mit einigen anderen die Entwicklung Laupeyßers begleitet und symbolisiert. Diese Entwicklung geht nämlich auch damit einher, dass sich der Hinterkopf tatsächlich allmählich vorstülpt und zum zweiten Gesicht wird (Vgl.VG, 124, 164, 166, 171, 235). Deutlich wird die Charakterisierung des Hinterkopfs als Ort des Unbewussten auch, als der Prozess des ›Vorstülpens‹

bereits fortgeschritten ist. Denn der Schilderung, dass sich der Hinterkopf über das Gesicht »wölbt«, wird entgegengesetzt: »Stets aber noch die Momente, da Laupeyßer zu völligem Bewußtsein kam […].« (VG, 164) Nur angedeutet, aber dennoch deutlich wird das Fehlen von Bewusstsein im Zustand des ›vorgestülpten‹ Hinterkopfs.

34 Vgl. später Falbins ihn erleichterndes Gefühl, jemand anderes zu sein, und Laupeyßers ›Reaktion‹

darauf: »Auch ich bin jemand anderes […]. Aber wer, um Herrgotts willen, bin ich?!« (VG, 101)

»Was bin ich nur?Werbin ich?« 57

Verbunden werden die Sehnsucht nach einem festen Willen, der Entschiedenheit und alltägliche Sicherheit im Leben bedeutet, und die Frage der Bewusstheit respek-tive Bewusstlosigkeit in einem Gespräch mit Agnes, ohne direkt auf das Motiv des Hinterkopfs Bezug zu nehmen. Durch die Hinweise aufs Bewusstsein wird jedoch indi-rekt die Verbindung zum Hinterkopf-Motiv hergestellt. Laupeyßer spricht gegenüber Agnes von dem Zerfall seines Ichs:

[D]enn nicht darum geht es mir, mich bewußtlos zu haben, Agnes. Ich will mich völlig, nicht nur in ungefragtem Handeln und in instinkthaften Reaktionen. Ich will, was mich treibt, annehmen können. (VG, 135)

Zum zweiten Mal wird damit die Formulierung des ›sich wollens‹ gebraucht,35eine recht unpräzise Formulierung, die kennzeichnend für die Vagheit der Identitätssu-che und die Vielfältigkeit der ›Suchrichtungen‹ und damit der LösungsversuIdentitätssu-che ist.

Eindeutig verweist sie jedoch auf die Ganzheit des Ichs. Diese Implikation wird in der Formulierung »Ich will michvöllig« noch betont durch den Aspekt der Totalität.

Sie steht also der Auffassung von einem fehlenden oder fragmentierten Ich entgegen, zeigt jedoch nur die Sehnsucht danach und keinen Zustand an.

Der Geruch

Eng verbunden mit dem Motiv des Hinterkopfs als Versuch, sich selbst zu erken-nen, ist das des Geruchs, der plötzlich von Laupeyßer ausgeht, jedoch nur von ihm wahrgenommen wird. Die Verbindung drückt sich nicht nur darin aus, dass beide mehrfach in einem Zusammenhang erwähnt werden, sondern auch dadurch, dass sie beide als symbolische ›Begleiterscheinungen‹ der Entwicklung Laupeyßers fungieren.

Eingebettet ist das Motiv in das größere Feld der Hygiene, das sowohl für Laupeyßer als auch für Falbin relevant ist.

Der Geruch geht von Laupeyßer aus, der jedoch nicht weiß, wie dies zu erklären ist.

Zudem erinnert er sich auch nicht eindeutig, wann er den Geruch erstmals bemerkt hat. Entweder setzt er bereits am 13.8. in Kunzes Kneipe in Gegenwart von Axel Schulze ein (vgl.VG, 145) oder aber erst am 16.8. morgens im Café, wo Laupeyßer allein ist (VG, 118ff.). Anfangs argwöhnt Laupeyßer die Ursache des Geruchs in seiner Umgebung und verdächtigt andere Personen. Vor allem Axel Schulze gibt auch neben seiner vermutlichen Anwesenheit beim ersten Auftreten des Geruchs allen Anlass für diesen Verdacht: Seit »anderthalb Jahren« (VG, 145) hat er sich nicht mehr gewaschen, wie er Laupeyßer ›freimütig‹ erzählt. Doch dann stellt dieser fest, dass es sich nicht um den, wie nicht weiter verwunderlich ist, tatsächlich vorhandenen

»André-Schulze-Geruch« (VG, 145, 152, 211) handelt, sondern dass der Geruch von Laupeyßer selbst ausgeht.

Der zunächst nicht näher charakterisierte, lediglich als »unausstehlich« (VG, 121) und »bestialisch« (VG, 170) bezeichnete Geruch stellt sich als von anderen nicht wahrnehmbar heraus. Da Laupeyßer sich (im Gegensatz zu Axel Schulze) regelmäßig wäscht, kann es sich nicht um ›reale‹ Körperausdünstungen handeln. Er erklärt sich deshalb den Geruch vorerst damit, dass dieser von »inneren Insekten« ausgehe, »die er

35 Auch nochVG, 101, 145.

erfunden hatte« (VG, 126), die von seiner ›Erfindung‹ Falbin auf ihn übergesprungen seien. Diese ›Erklärung‹ zeugt mehr von einer Vermischung der Wahrnehmung von Fiktion und Realität als dass sie einen realen Bezug hätte, was auch für die zweite Erklärung gilt. Denn gleich im Anschluss sieht er es als die sinnlich-körperliche Äuße-rung seines geplanten, imaginierten Abstiegs an, als eine »Häutung« (VG, 126), eine Auflösung seiner selbst, die sich auch im oben genannten Vorstülpen des Hinterkopfs ausdrückt (VG, 235). Anfangs beschließt er mangels Gegenmittel – denn auch extre-me Reinlichkeit nützt ihm nichts – sich einfach an den Geruch zu gewöhnen. Doch später wird ihm dieser unerträglich. Positiv betrachtet erinnert ihn der Geruch an (seine) Vergangenheit, die er »als Gestank« (VG, 236) zurücklassen kann, der durch Anzünden der Wohnung vernichtet werden müsste. Davon lässt er jedoch ab, im Gegensatz zum Abreißen der Tapeten, die er der Ausdünstung verdächtigt, das aber ebensowenig wie extremes Lüften der Wohnung etwas hilft (VG, 252, 256). Zusätz-lich zu seinen penibelst gepflegten Zimmerpflanzen kauft Laupeyßer sich noch stark riechende Schnittblumen, die den Geruch nach »Abdeckerei« und »Fischmehlfabrik«

(VG, 162f.) allerdings auch nicht überdecken können. Er schwindet erst durch einen inneren »Prozeß des Freiwerdens« (VG, 275).

Der ausströmende Geruch korrespondiert mit der mehrjährigen Weigerung Axel Schulzes, sich zu waschen. Dieser begründet es damit, dass er »an Substanz« verlie-re, wenn er sich wasche. Der ›Autor‹-Erzähler bemerkt dazu: »Und hat daher dem körperlichen Hiersein wenigstens noch vertraut.(VG, 336f.) In Anlehnung an diese Formulierungen kann das Motiv als dafür stehend gesehen werden, dass Laupeyßers Identität in der Krise ›an Substanz‹ verliert. Gleichzeitig ist es die Zeit, in der er ver-sucht, sein altes Leben mit allem für ihn Negativen hinter sich zu lassen. Ebenso wie Schulze wieder beginnen kann, sich zu waschen, als er anfängt, seine Lebenssituation anzunehmen, hört bei Laupeyßer der Geruch auf, als er einen gewissen Ausweg aus der Krise sieht.

Den oben geschilderten alles in allem nicht überzeugenden, da phantastischen ›Er-klärungen‹ setzt Laupeyßer noch eine auf den ersten Blick realistischere entgegen. Er mutmaßt, dass der Geruch nicht neu aufgetreten sei, sondern schon immer vorhanden gewesen wäre, eigentlich sein ›normaler‹ Geruch sei. Der Grund für das Bemerken sei eine »allmähliche Verfeinerung des Nervensystems« (VG, 141). Doch damit bleibt auch hier eine realistische Erklärung aus, da ein rationaler Grund für die Verfeinerung nicht angegeben wird. Ganz im Gegenteil, diese steht in Verbindung mit dem am wenigsten rational zu erklärendem Phänomen in der Entwicklung Laupeyßers.

Das Vampir-Motiv

Die lediglich angedeutete Verwandlung Laupeyßers in einen Vampir ist wohl das einzige Motiv des Romans, das direkt an das Übersinnliche angrenzt. Darum stellt sich auch hier die Frage, ob es nicht als Imagination und damit bildlich zu interpretieren ist. An keiner Stelle wird das Wort Vampir erwähnt, die direkteste Anspielung ist der Verweis auf Klaus Kinskis Darstellung des Grafen Dracula in Werner Herzogs FilmNosferatu – Phantom der Nacht von 1979 (vgl.VG, 170). Die Hinweise sind verstreut und relativ subtil; sie lassen nur in der Kombination den Schluss auf die

»Was bin ich nur?Werbin ich?« 59

Verwandlung in einen Vampir zu. Anfangs beziehen sie sich auf eine merkwürdige Sensibilisierung seiner Sinne und Veränderungen des Körpers. Seine Zähne werden spitzer (VG, 136), seine Nägel länger (VG, 249 und 170), er kann deutlicher hören (VG, 141, 162) und auch die Empfindsamkeit des Geruchssinns ist erhöht (VG, 124).

Zusammengenommen handelt es sich dabei um die eben erwähnte »Verfeinerung des Nervensystems« (VG, 141, 142). Seine Phantasien und Wahrnehmungen entwickeln sich in eine ähnliche Richtung, so stellt er sich vor, in Agnes’ Fuß zu beißen (VG, 158), ihm fällt ihre pochende Halsschlagader auf (VG, 166). Direktere Andeutungen sind der Hinweis auf die Verlagerung seiner Aktivität in die Nacht sowie auf einen Umhang (VG, 157), der in das mittlerweile stark durch Verfilmungen geprägte Bild eines Vampirs passt, und auf seinen Namen Laupeyßer, der etymologisch auf das Wort ›Beißer‹ verweisen soll.36

In weiteren Phantasien imaginiert Laupeyßer die Auflösung seiner Leiche durch Sonnenlicht (vgl.VG, 198) oder sein ›Geständnis‹, sich vom »Blut junger Frauen«

(VG, 244) zu ernähren; auch erfolgt in einer solchen Phantasie der genannte Verweis aufNosferatu. Später berichtet er vom Verlust des Empfindens von Mitleid, der ein-hergeht mit einem sich nachts einstellendem »existentielle[n], boshafte[n] Hunger«, der ihn »mordlustig« (VG, 281) macht. Neben diesen Merkmalen findet sich hier recht unscheinbar der Bezug zum Vampirmotiv durch den zweiten expliziten Hinweis auf die literarische bzw. filmische Vorlage, indem Laupeyßer sich mit Rendfield, dem geistesgestörten Zoophagen ausNosferatuvergleicht.37Schließlich ist davon die Rede, Laupeyßer befinde sich »noch längst nicht in jenem Stadium, da es notwendig würde, sich vorm Tageslicht zu verkriechen« (VG, 205).

Das Vampir-Motiv erscheint unerwartet, es wirkt merkwürdig unstimmig und nebensächlich und lässt durch die Spärlichkeit der Andeutungen einige Fragen offen.

Aus mehreren Gründen sticht es aus dem Motivgefüge vonVGheraus. Vornehmlich wohl dadurch, dass es sich um ein sehr bekanntes, aus der Literatur- bzw. Filmgeschich-te übernommenes und damit relativ starres Motiv handelt. Während die anderen Motive des Buches weitgehend original sind und damit einen offenen, lediglich durch die Vorgaben und Erklärungen des Textes bestimmten Charakter haben, verbinden sich mit der Figur des Vampirs feste Vorstellungen und Erwartungen, die nicht zu erfüllen Fragen aufwirft. Angesichts der Bekanntheit des Motivs und des markanten Charakters einer ›tatsächlich‹ angenommenen Verwandlung (wenn auch in einer fiktiven Welt) ist auffällig, dass es nur nebensächlich, durch beiläufige Erwähnungen eingebracht wird. Außerdem führt seine Entwicklung ins Nichts, bleibt folgenlos und wird im Grunde ›fallengelassen‹; beim Schluss des Buches spielt sie keine Rolle.

Die Ausführung bleibt auch hinter den Erwartungen zurück, so erschöpft sich die angebliche Blutlust Laupeyßers lediglich in seinen recht milden Phantasien.

Einzig durch ein weiteres Merkmal der Entwicklung Laupeyßers, die sich auch wieder in Spiegelung bei Falbin findet, lässt sich eine Verbindung des Vampir-Motivs zu

36 »Witziger Name.Der auf Laues beißt. Ist gar nichts anzufangen mit.Der Peyßer, der Peißer, der Beißer«,VG, 164.

37 Vgl.VG, 281. Dass dieser nicht Renfield geschrieben wird wie in Bram StokersDracula(1897), der literarischen Vorlage des Films, deutet auf den Bezug zum Film hin.

den anderen herstellen. Dies ist die Entwicklung eines »Animalismus«, der auch das Themenfeld der Sexualität und Männlichkeit bestimmt. Die Passage mit dem Hinweis aufNosferatuist in dieser Hinsicht ambivalent. Die Polizisten in der Imagination haben »ein sexualbesessenes Vieh mit abnorm spitzen Zähnen« (VG, 170) erwartet, stoßen jedoch lediglich auf den wehrlosen Laupeyßer, der nur lange Fingernägel hat, die an die von Kinski in seiner Vampirrolle erinnern. Einerseits steht Laupeyßer also gerade im Kontrast zum »sexualbesessenen Vieh« und wird mit Kinskis Nosferatu in Verbindung gebracht, in dessen Darstellung die sexuelle Komponente des Genres nicht zum Tragen kommt. Andererseits wird aber gerade auf diese verwiesen, indem die Besessenheit von Sexualität mit spitzen Zähnen und damit mit dem Vampir verbunden wird. Zusammen mit den bereits erwähnten Hinweisen in Zusammenhang sowohl mit Agnes als auch der Ernährung vom »Blut junger Frauen« wird deutlich, dass motivisch an die starke sexuelle Komponente in der Gattung Vampirroman (und -verfilmung) angeschlossen wird.

Der Vampirmythos hat im Laufe der Jahrhunderte ein Konglomerat typischer Merkmale ausgebildet, die mal mehr mal weniger Eingang in die konkrete mediale Ausformung finden. Er kann »für vieles Sinnbild sein: für Macht, Ausbeutung, Sucht, Krankheit, Verbrechen, Atavismus und für Sex«38. In Bezug auf die sexuelle Symbo-lik steht der Vampir in einer Tradition, die von mittelalterlichen Vorstellungen von Incubi und Succubi über vor allem bildliche Darstellungen des Todes als Liebhaber in Skelettform bis zum irdischen dämonischen Liebhaber á la Don Juan reichen. Dabei steht der Vampir für die animalische Seite der menschlichen Sexualität, für die Ver-führung gegen eigenen Willen und gegen gesellschaftliche Normen, was vor allem im von Prüderie und Doppelmoral geprägten Viktorianismus, während dessen Stokers Draculaentstand, von Bedeutung war. Weiterhin bezeichnend für ihn ist der Sado-masochismus, wobei der Vampir die Rolle des Sadisten einnimmt. Das Opfer erlebt jedoch gerade durch die körperliche Eroberung, die bis zur Zerstörung führt, sexuelle Erfüllung der eigenen Wünsche. Der Vampir spielt dabei – symbolisch gesehen, da es eigentlich mit dem Tod des Opfers endet – die Rolle eines »Entwicklungshelfer[s] bei der Offenlegung der eigenen Geschlechtlichkeit«39, was sowohl für die weibliche wie die männliche gilt.

An diese Verbindung von Sexualität mit Macht und Sadismus finden sich

An diese Verbindung von Sexualität mit Macht und Sadismus finden sich

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