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Falbin: Der Kampf gegen Fremdbestimmtheit

Im Dokument Von Bremen in die Anderswelt (Seite 64-72)

1.3 »Was bin ich nur? Wer bin ich?« 30 – Die Suche nach Selbsterkenntnis

1.3.2 Falbin: Der Kampf gegen Fremdbestimmtheit

Claus Falbin ist eine von Laupeyßer erfundene Figur. Ebenso wie der ›Autor‹-Erzähler sich Laupeyßer als Stellvertreterfigur erschafft, erschafft sich Laupeyßer Falbin. Unter anderen Voraussetzungen wird eine weitere Möglichkeit durchgespielt, mit bestimm-ten Aspekbestimm-ten der Identitätskrise umzugehen. Falbin ist – wie gleich deutlich wird – auf größtmögliche Unsicherheit und Fremdbestimmtheit angelegt. Seine Entwicklung zeigt den Versuch, sich aus dieser Situation zu befreien und größere Autonomie zu erlangen und deutet damit auf eine Bearbeitung der Identitätskrise über die Stärkung der Innenperspektive hin. Dies korrespondiert mit Laupeyßers später beschriebenem

›Versuch von Geschichtslosigkeit‹. Falbin macht damit vergleichbare Entwicklungen wie Laupeyßer durch, allerdings stehen diese im komplizierten Geflecht der Motive teils auch in gegensätzlicher Ausrichtung.

Vorbild ist ein junger Mann, den Laupeyßer am Nebentisch im Café bemerkt. Seine Beschreibung ist kurz: »ein junger, sehr pickliger Mensch mit angeknabberten Finger-seiten« (VG, 12). Er trägt einen Shetland-Pullover und liest Zeitung. Da dieser junge

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Mann nach etwa einer halben Stunde aufbricht und Laupeyßer ihn nicht wiedersieht, ist alles andere erfunden (auf Laupeyßers Erzählebene). Laupeyßer will in seinem Experiment von der »empirischen Person« ausgehen, die neben ihm gesessen hat, und »sie formen, indem ich ihr Qualitäten zusprach, die ihr nicht zukamen« (VG, 18). Er benennt die Figur mit dem Namen Falbin und erschafft ihn dadurch.46Dem Namen schreibt er als etymologischen Ursprung sowohl »falb« als auch »fahl« (VG, 18) zu. Dementsprechend legt Laupeyßer den Charakter der Figur Falbin fest. Er erzählt Agnes von seiner Figurenerfindung und entwirft in Gesprächen mit ihr in groben Zügen Milieu und Charakterzüge. Die Herkunft Falbins sieht er als kleinbür-gerlich beschränkt, charakterlich legt er ihn als nüchternen Menschen mit spärlichen Sozialkontakten fest, der sich in verschrobener, fast manischer Weise durch struktu-rierte Tagesabläufe und übertriebene Ordentlichkeit im Leben eingerichtet hat. Er ist schüchtern, von Bekannten wird er als »kriecherisch« (VG, 30) charakterisiert; so verbringt er seine freie Zeit vor allem allein vor dem Fernseher, bloß sonntags sucht er regelmäßig eine Kneipe auf, um bis auf wenige Kontakte allein ein Bier zu trinken.

Er ist damit als Gegenbild zu Laupeyßer charakterisiert, der sich mit Eingefahre-nem und Gewöhnung nie hat anfreunden können (vgl.VG, 21). Wie oben bereits geschildert, ist es gerade die »Unerträglichkeit [des] Alltag[s]« (VG, 37), die ein Grund für seine Identitätskrise ist. Eben dies ist der Unterschied, dass Falbin sich mit der Begrenztheit des Alltags abgefunden hat, einen »Mangel« (VG, 33) angesichts von Sinnlosigkeit und Beschränktheit nicht bemerkt bzw. nicht thematisiert. Doch ebenso wie der ›Autor‹-Erzähler gleich eingangs Laupeyßer ›nach seinem Ebenbild‹ erschafft, ersinnt auch dieser Falbin nicht nur als eigenes Gegenbild, sondern auch in Anleh-nung an sich selbst. Falbin ist nur drei Jahre jünger als Laupeyßer,47hat einen ähnlich unbestimmten Bürojob und stammt nach seinen eigenen wenigen Angaben ebenfalls aus dem Kleinbürgertum. Den spärlichen Eindruck, den Laupeyßer vom jungen Mann am Nebentisch bekommen hat, nutzt er, um aus einzelnen Kennzeichen größe-re Charakterzüge zu entwerfen. Das auf Unsicherheit deutende Nägelknabbern gibt Anlass zur Erfindung der Sicherheit spendenden Ordnungsmanie; die Pickel werden übertrieben zu einer körperlichen Hässlichkeit, die eine dem Ordnungswahn eher wi-dersprechende Nachlässigkeit in der körperlichen Hygiene anzeigt, wobei diese gleich ein fehlendes Verhältnis zum Körper und mangelnde Eitelkeit offenbaren soll. Lau-peyßer legt jedoch Falbins Charakter in solcher Weise an, dass er nicht ausschließlich eindimensional »realitätsbezogen« und ohne die Fähigkeit zu »Fantasiegebilden« (VG,

46 Das Namengeben wird später als eine »Gewohnheit« Laupeyßers bezeichnet, »ihm interessant erscheinenden Menschen nach assoziativem Gutdünken Namen zu geben« (VG, 209). Beim myste-riösen Ausflug in ein Frankfurter Bordell will er dann auch nicht den Namen der Prostituierten wissen, vielmehr ›benennt‹ er sie: »Sag ihn nicht, ich will dich Anna nennen.« (VG, 209) So erschafft er auch hier eine Figur (die inWolpertingereine der Hauptfiguren wird) durch die Namengebung.

Diese Anklänge an biblische Schöpfung finden sich auch in der Ähnlichkeit der drei Protagonisten, die sich gegenseitig ›nach ihrem Ebenbild‹ erschaffen (was sich später darin zeigt, dass sie verwech-selt werden). Gleichzeitig deutet dies auch die poetische Schöpferrolle des Autors an, der seine Figuren durch Benennen erschafft; vgl. dazu das Kapitel »Das Benennen der Figur« in Jannidis:

Figur und Person, 109–149, besonders 129. Auch bei Falbin findet sich gleiches Verhalten, vgl.VG, 64.

47 Geboren am 11.7.1956, sieheVG, 113.

20) dargestellt wird, sondern dass das Bewusstsein für den genannten »Mangel« nur soweit verdeckt ist, dass ihn unvorhergesehene Dinge, wie der ihm unverständliche Drang zum Bahnhof zu gehen, aus der Bahn werfen.

Der Bahnhof und das »Irregehen«

Die stereotype Anlage als unsicherer Charakter dient Laupeyßer dazu, größtmögli-che Unsigrößtmögli-cherheit in seiner erfundenen Figur durch ein ungewöhnligrößtmögli-ches Ereignis zu erzeugen. Dies besteht darin, dass er Falbin eines Abends versehentlich zum Bahnhof gehen lässt. Falbin schlägt wie »in Trance« (VG, 19) einen falschen Heimweg ein und kommt erst vor dem Bahnhofsportal wieder zu sich. Das »Irregehen« (VG, 21) steht in starkem Kontrast zu Falbins normalem Verhalten und wirkt daher sehr verstörend auf ihn, zumal es sich wiederholt, er keine Erklärung findet und es sich von da an zu einem inneren, aber dennoch als fremd wahrgenommenen Drang entwickelt. Der Gang zum Bahnhof stellt für Falbin einen prägnanten »Einschnitt« (VG, 31) dar, der eine Veränderung in ihm auslöst. Er sieht das seltsame Fehlgehen als eine Herausforderung an und beginnt, sich länger am Bahnhof aufzuhalten, ohne genau zu wissen, was er dort tun soll oder warum ihm das passiert. Anfangs sieht er das Bahnhofsgebäude als den Ursprung des Drangs an, als Gebäude, das durch Belebung Macht gewinnt.

Er ›unterwirft‹ sich dieser unbestimmten Macht und sieht sich erfasst vom »Mythos, der die Dinge belebt« (VG, 33). Zu dieser Zeit ist diese Erfahrung und der Bahnhof selbst jedoch beängstigend für ihn, er fühlt sich vom Bahnhof angestarrt wie einen

»persönlichen Feind« (VG, 26).

Dieser Eindruck ändert sich mit der Zeit ins genaue Gegenteil. Der Bahnhof wird für Falbin nicht nur ein Rückzugsort, an dem er sich täglich aufhält, sondern ein positiv belegter Ort, der ihm gegen die Angst hilft und Sicherheit gibt, sogar wenn er nicht dort ist. Immer wenn er sich im Büro eingeschüchtert oder verloren fühlt,

»holt« er den »Bahnhofsgedanken heraus, der alles relativierte« (VG, 130). Auch als er am Bahnhof selbst einmal in eine peinliche Situation gerät, gibt er trotzdem nicht auf und wiederholt sich seine selbstgewählte Devise, dass er sich »überhaupt nicht mehr verunsichern lassen [wolle], und vor allem nicht am Bahnhof« (VG, 149). Der Bahnhof wird für Falbin der einzige Ort, wo keine Angst ist, da ihr ganz einfach »die Nahrung« fehlt, die ihr vom »Niemandsland abgesogen« (VG, 264) wird.

Das »Niemandsland«, auch als das »falbinsche Niemandsland« (VG, 340) bezeich-net, ist Teil der Vorstellung, die den Bahnhof für Falbin zu einer Verheißung macht.

Von Laupeyßer als »miese Metapher« oder aber »keine Metapher« (»Er steht für nichts.«, VG, 133) bezeichnet, ist er vielmehr ein komplexes Symbol. Das beein-druckende Gebäude selbst mit seiner »Aura« (VG, 133), dem erregten Treiben der Reisenden und den dazugehörigen, Falbin abstoßenden »Pennern« (VG, 25, 95, 251) hat schon eine Wirkung, die ihn durch den Kontrast zu seinem bisherigen Leben verstört und anzieht. Es ist jedoch die Eigenschaft als »Tor«, die die größte Strahl-kraft hervorruft und eine Verbindung zu mehreren Themen schafft, die eigentlich Laupeyßer zugeordnet sind.

Dadurch, dass das Tor jedoch ein »verschlossenes Tor« (VG, 95) ist, wird die Sym-bolhaftigkeit betont. Es reicht also nicht aus, wie die geschäftigen Reisenden einfach

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wegzufahren. Das Tor öffnet sich nicht jedem, nicht jeder erkennt die »Torhaftigkeit«;

die »Penner« ahnen sie und versammeln sich daher an diesem Ort. Die Exklusivität betont zwei Bezüge. Zum einen wird durch die Bezeichnung als »Tor aus dem Einerlei«

eine Verbindung geschaffen zum laupeyßerschen Konflikt mit dem Alltag und seiner versuchten Flucht daraus. Der Gang durch das Tor, die Abreise vom Bahnhof ohne Wiederkehr verspricht die Möglichkeit, aus dem Einerlei des Alltags auszubrechen und zu etwas Besonderem zu kommen. Wie bei Laupeyßer und seinem »Versuch von Geschichtslosigkeit« entsteht in Falbin der Drang fortzugehen und sein altes Leben und seine alte Identität hinter sich zu lassen. »Das Leben« fängt für ihn hinter dem Tor an, »[w]ährend man fährt«. Dieser Zusatz ist gleichzeitig der Schlüssel für die Wahrnehmung der »Torhaftigkeit« des Bahnhofs. Die Befreiung durch das Fort-kommen erfolgt allein durch die Erkenntnis, dass es nicht um das AnFort-kommen gehe, sondern um die Fahrt selbst. Damit ist jedoch wiederum nicht die spezifische Fahrt, der spezielle Zug, die Landschaft, durch die gefahren wird, oder die Fahrtrichtung gemeint. Gemeint ist der Akt der Fahrt, des Aufbruchs. Im Gegensatz zu Laupeyßers

›Fluchten‹ ist dieser Aufbruch positiv besetzt. Wieder wird versucht, dies anschaulich zu machen, durch das Bild des Niemandslandes.

Das Niemandsland bezeichnet weniger die räumliche, als die zeitliche Spanne, die durch die Fahrt zwischen zwei Bahnhöfen zugebracht wird. Daher ist sie un-abhängig von äußerlichen, räumlichen Besonderheiten und Belangen. Es hat aber spezielle Eigenschaften: »Wenn man es durchfährt, wird das Vergangene und Kom-mende verschluckt. Man ist allein in sich selbst und gerade darum verbunden und angenommen.« (VG, 116) Der eigentlich destruktive Charakter wird als tröstlich wahrgenommen und das erlebte Gefühl in fast religiös-mystischer Sprache beschrie-ben. So gewinnt das Bild vom Niemandsland schon durch die sprachliche Darstellung eine hervorgehobene, tröstliche Bedeutung. Doch wie jede Zugfahrt zu Ende geht, ist auch das beschriebene Gefühl begrenzt. Nicht nur wird es durch das Ankommen beendet. Durch die Rückfahrt, »nach Hause«, wird auch das auf der Hinfahrt Ver-lorene wiederaufgesammelt. Die einzige Möglichkeit dieser Wiedervereinnahmung durch die Vergangenheit ist es, so lange fortzubleiben, bis man die verlorenen Dinge nicht mehr wiedererkennt, bis die Heimat fremd geworden ist. Falbin empfindet diese ewige Flucht als einzige Möglichkeit des Sieges: »Nur dann hat man gewonnen.«

Was räumliche Heimatlosigkeit und die Flucht vor einer neuen Identität bedeutet, erträumt er sich als Heimat: »Flugs verschwände ich im Niemandsland. Denn dem gehöre ich an.« Doch gerade daran, ins Niemandsland zu verschwinden, fühlt er sich gehindert.

Stärke, Männlichkeit und Animalismus

Die durch das »Irregehen« ausgelöste Veränderung Falbins zeigt sich erst einmal durch scheinbar einmalige Ereignisse, die untypisch für sein Verhalten sind. Zusam-mengenommen verdeutlichen sie eine bestimmte Richtung, in die sich sein Charakter entwickelt. So wird er einmal betrunken randalierend auf der Straße von der Polizei aufgesammelt, wobei er sich vehement gegen die Festnahme wehrt. Als sich seine Mutter ein anderes Mal besorgt um sein Befinden erkundigt, reagiert er ungehalten,

wird laut, in harmlosem Umfang zwar, doch ist dies ein für ihn untypisches Verhalten.

Außerdem wagt er es, sich fälschlicherweise im Büro krank zu melden und stattdessen zum Bahnhof zu gehen. Laupeyßer selbst spricht Agnes gegenüber von der Notwen-digkeit, Falbin das »Hartwerden lernen« zu lassen, »wenn wir ihn befreien wollen«

(VG, 115). Diese Zielsetzung verfolgt Falbin daraufhin in allen Aktivitäten. Zuerst von Laupeyßer bewusst als schüchterner ›Schwächling‹, als »kastratisches Wesen«

von »Halbmannstum« (VG, 214) angelegt, entwickelt sich Falbin Schritt für Schritt in Richtung animalistischer Männlichkeit. Er beginnt, ein selbstbewusstes Auftreten erst einmal einzuüben. Er fängt an zu rauchen und steckt sich die erste Zigarette

»im Vollbewußtsein von Mannhaftigkeit« (VG, 45) an. Er legt sich einen Revolver zu, der zwar nur eine Spielzeugpistole ist, ihm aber das Gefühl von Sicherheit gibt.

Mit diesem übt er die richtige Haltung vor dem Spiegel ein, in dem er sich bei jedem Vorübergehen überprüft und die beabsichtigte Wirkung trainiert.48

Die Entwicklung geht einher mit einem Wandel an Aufmerksamkeit, den Falbin sich selbst entgegenbringt. Er beginnt, sich zu beobachten, die Wirkung zu begutach-ten, die er auf andere erzielt. Das impliziert auch einen Wandel in der Behandlung seines Äußeren: er pflegt sich besser, entwickelt sogar eine »Waschlust« (VG, 130), die letztendlich wohl auch ein Zurückgehen der Pickel mit sich bringt, außerdem achtet er mehr auf seine Erscheinung bezüglich der Kleidung. Er legt sich ein »Papageien-jackett« (VG, 129) zu, das provokant sein neues Selbstbewusstsein zur Schau stellt.

Konsequenterweise hat Falbin es nicht mehr nötig, sich durch strikte Ordnung Sicher-heit zu geben. Dies resultiert jedoch darin, dass er diese irgendwann völlig aufgibt und seine Wohnung verkommen lässt. Die Aufmerksamkeit ist von der Umgebung vollständig auf ihn selbst übergegangen.

Die innere Entwicklung folgt der äußeren. So wie Falbin sein äußeres Auftreten trainiert, übt er systematisch eine innere Härte ein. Die Distanz, die er zu seinen Kol-legen aufbauen will, erreicht er durch »bewußtes und gewolltes Verletzen« (VG, 160).

So weist er das Entgegenkommen der Kollegen, nach dem er sich vorher gesehnt hatte, bewusst schroff zurück. Auch beginnt er selbst, Schwächere lächerlich zu machen, so wie ihm dies vorher ergangen war. Er hat eine »Machtstellung« (VG, 206) erreicht, die er ausnutzt, um sich zu rächen – dies jedoch weniger konkret an Einzelpersonen als allgemein an den Mitmenschen. Dieses Verhalten folgt einer Vorstellung von Stärke, die in einerPappkarton-Sentenz vermutlich von Laupeyßer zusammengefasst wird:

Eine starke Persönlichkeit ist oder hat jemand, der anderen Leiden zufügt, ohne dafür bestraft werden zu können. Eine starke Persönlichkeit ist oder hat jemand, der anderen keine Leiden zufügt, dafür aber bestraft wird von ihnen.

Pappkarton.(VG, 74)

48 Zwei Bezüge werden dabei evoziert: zum einen zeigt sich hier bereits die Gegenbewegung zu Lau-peyßer, dessen Betrachten im Spiegel ihm Sicherheit geben soll, aber gerade das Gegenteil bewirkt, vgl. oben Abschnitt 1.3.1 auf Seite 55; zum anderen ist angesichts der hohen Anzahl intertextueller bzw. intermedialer Anspielungen auch der Verweis auf den FilmTaxi Driver(1976) von Martin Scorsese anzunehmen. In diesem Film steigert sich der New Yorker Taxifahrer Travis Bickle in den Wahn, die Stadt von allem ›Abschaum‹ befreien zu müssen. Er beschafft sich Waffen und tötet in einem Amoklauf mehrere Menschen aus dem Rotlichtmilieu. In einer berühmt gewordenen Szene trainiert er mit seinem Revolver vor dem Spiegel und simuliert/imaginiert eine Duellsituation.

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Es ist anzunehmen, dass im zweiten Satz eigentlich die »schwache Persönlichkeit«

gemeint ist, dass es sich also um einen Tipp- oder Satzfehler handelt. Zum einen wäre die Wiederholung des ersten Satzteils von der Struktur her sehr ungewöhnlich und forderte eine hier aber nicht ersichtliche Begründung, zum anderen besteht ein direkter Widerspruch zwischen den beiden Sätzen; schließlich erscheint die vor-handene Version auch inhaltlich nicht sinnvoll, im Gegensatz zu einer möglichen korrigierten Version. Für die einzig verbleibende Möglichkeit eines Paradoxons lassen sich meines Erachtens jedoch keine Hinweise finden. Vielmehr wäre die korrigierte Version die knappe Beschreibung der zwei Pole, zwischen denen Falbin in seiner Entwicklung steht. Als schwache Persönlichkeit, gar als ›Schwächling‹, als der er an-fangs charakterisiert ist, wird er durch Anfeindungen und Hänseleien der Kollegen für keinerlei Handlungen oder Vergehen auf seiner Seite ›bestraft‹; als er aber stark wird im Sinne dieser Definition, dreht er den Verhaltensmechanismus um: nun fügt er ohne Grund Verletzungen zu, kann dafür aber durch sein starkes Auftreten nicht

›bestraft‹ werden. Neben dem Verhalten den Kollegen gegenüber wird dieses Muster noch durch eine Szene auf dem Bahnhof illustriert. Im Toilettenraum nähert sich ein Homosexueller Falbin, der jedoch nicht, wie er selbst erwartet, beschämt auf den An-näherungsversuch reagiert, sondern diesen arrogant abweist. Einerseits vom Erzähler als »Entschiedenheit, Rückgrat« interpretiert, genießt Falbin andererseits vor allem das Gefühl, »unangreifbar zu sein« und, eben nach der genannten Stärkevorstellung,

»[v]erletzen zu können, unbeschädigt verletzen zu können« (VG, 131).

Im weiteren Verlauf ergibt sich ein Zusammenspiel von äußerlichen Verhaltens-änderungen, die als ›Training‹ zu verstehen sind, und inneren VerVerhaltens-änderungen, die sowohl Folge als auch Anlass des Verhaltens sind. Nach dem erst als Einzelfall an-gesehenen Vorfall mit der Polizei, wird es ihm zur Gewohnheit, jeweils nach dem Bahnhofsbesuch durch Kneipen und Diskos zu ziehen und sich zu betrinken. Auch sucht er einmal ein Bordell auf, was jedoch aufgrund seines Betrunkenseins in einer

»elementaren Katastrophe« (VG, 220) endet. Die Disko- und Kneipenbesuche unter-nimmt er jedoch nicht wirklich aus Vergnügen, er fühlt sich auch weiterhin fremd dort; vielmehr sind sie Teil seiner Strategie, indem er das Gefühl von Verlorenheit, das er empfindet, dadurch loswerden will, dass er sich ihm aussetzt. Ebenso beginnt Falbin, ›Penner‹ vom Bahnhof mit zu sich nach Hause zu nehmen. Was als Akt von Nächstenliebe verstanden werden könnte, ist bei ihm wieder nur dafür gedacht, Angst-gefühle auszutreiben, die Angst, diese könnten während der Nacht die Wohnung ausräumen oder ihn angreifen. Er benutzt sie, sieht sie als »Instrumente«, um sich

»selbst zu spüren« (VG, 252), indem er sich von ihnen abgrenzt.

Zwar wird Falbin auf diese Art ›härter‹, selbstbewusster und gegenüber schwächen-den Emotionen abgehärtet, doch geht mit der Härte auch die Entwicklung von nicht kontrollierten Aggressionen einher. Er zertrümmert seine Wohnungseinrichtung und tritt brutal auf André Schulze ein, der ihn für Laupeyßer hält und zu ›belästigen‹

scheint. Die Aggression wird dadurch ausgelöst, dass sich Schulze gegenüber bei Fal-bin das Gefühl einstellt, diesen zu kennen und von ihm am Leben gehindert zu werden, was eine Verbindung seiner Gefühle mit denen von Laupeyßer andeutet. Auch im Büro wird diese Veränderung manifest. Anfangs scheinen die Kollegen beeindruckt von Falbins neuem Selbstbewusstsein, laden ihn zu gemeinsamen Aktivitäten ein, was

sie vorher nie gemacht hätten. Von ihm in seinem Bemühen um Härte und Distanz abgewiesen, kommt es schließlich zum Eklat, als sie wieder anfangen, sich über ihn lustig zu machen und damit seine Veränderung nicht anerkennen. Falbin ist durch die Ereignisse des vorigen Abends (als er Schulze verprügelt und seine Wohnungs-einrichtung zerschlagen hat) aufgewühlt und fühlt sich geschwächt, sodass er seine Haltung nicht bewahren kann. Seinen einzigen Ausweg sieht er darin, dass er einen Kollegen mit dem Revolver bedroht, woraufhin alle entsetzt innehalten. Falbin löst die Spannung, indem er preisgibt, dass es sich um Spielzeug handelt, und zu lachen beginnt, worein die anderen einstimmen. Schnell wird jedoch klar, dass sein Verhalten nicht toleriert werden kann und er nicht mehr in der Firma geduldet wird, sodass schließlich die Kündigung erfolgt (ohne jedoch auf diesen Vorfall einzugehen).49 Auch in sexueller Hinsicht wandelt Falbin sich vollständig. War er anfangs schüch-tern und verschämt und hatte keinerlei Verhältnis zu seinem Körper, so entdeckt er diesen im Laufe seiner Wandlung. Durch seine Waschlust erkundet er nach und

sie vorher nie gemacht hätten. Von ihm in seinem Bemühen um Härte und Distanz abgewiesen, kommt es schließlich zum Eklat, als sie wieder anfangen, sich über ihn lustig zu machen und damit seine Veränderung nicht anerkennen. Falbin ist durch die Ereignisse des vorigen Abends (als er Schulze verprügelt und seine Wohnungs-einrichtung zerschlagen hat) aufgewühlt und fühlt sich geschwächt, sodass er seine Haltung nicht bewahren kann. Seinen einzigen Ausweg sieht er darin, dass er einen Kollegen mit dem Revolver bedroht, woraufhin alle entsetzt innehalten. Falbin löst die Spannung, indem er preisgibt, dass es sich um Spielzeug handelt, und zu lachen beginnt, worein die anderen einstimmen. Schnell wird jedoch klar, dass sein Verhalten nicht toleriert werden kann und er nicht mehr in der Firma geduldet wird, sodass schließlich die Kündigung erfolgt (ohne jedoch auf diesen Vorfall einzugehen).49 Auch in sexueller Hinsicht wandelt Falbin sich vollständig. War er anfangs schüch-tern und verschämt und hatte keinerlei Verhältnis zu seinem Körper, so entdeckt er diesen im Laufe seiner Wandlung. Durch seine Waschlust erkundet er nach und

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