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Die erste Ebene: Hans Deters

Im Dokument Von Bremen in die Anderswelt (Seite 176-179)

3.3 ›Prinzipien in wechselnder Gestalt‹

3.6 Das Deters-Netzwerk

3.6.2 Die erste Ebene: Hans Deters

Das Verhältnis zwischen allen drei Ebenenprotagonisten ist insgesamt anders geartet als das zwischen den drei Hauptfiguren inVG. Dort habe ich die Vervielfältigung der Figuren vornehmlich psychologisch gedeutet, als eine Aufspaltung einer Person in mehrere Figuren, die zwar nicht in rein schematischer Weise eins zu eins auf reale Entsprechungen zurückzuführen waren, aber doch mit einer gewissen poetischen Unschärfe bzw. poetischen Mehrwert verschiedene Aspekte eines Charakters darstell-ten. Zugrunde liegt bei dieser Interpretation ein sozialpsychologischer Begriff von Identität. InWBtritt ein solcher in den Hintergrund. Bis auf die eben beschriebenen, ausVGübernommenen Aspekte spielt er keine Rolle mehr.113Die Gründe für die gegenseitige Erfindung ebenso wie für ihre Zusammenhänge können als metanarrativ bezeichnet werden. Sie ergeben sich durch die konstruierte Anlage des Romans und die innerhalb dieser Ontologie wie innerhalb der erzählten Geschichten entwickelten Erfordernisse. Im Folgenden sollen nun die drei Figuren charakterisiert und dabei ihre Funktionen sowie die Verhältnisse zueinander bezeichnet werden.

Deters ist wie gesagt der Protagonist der Zugfahrt und damit der ersten Erzählebe-ne, die später in Hannoversch Münden vor allem im Hotel Wolpertinger angesiedelt ist. Zu Beginn der Zugfahrt betrachtet er seinen neuen Pass und erfindet sich seine Familienkonstellation und -geschichte. Im Gegensatz zu den teils sprechenden Namen anderer Figuren und auch der Vorgängerfiguren Ulf Laupeyßer und Claus Falbin und zu den teils von realen Persönlichkeiten entlehnten Namen ist der Name Hans Erich Deters als unauffälliger deutscher Durchschnittsname, als »Telefonbuchname[]«114 anzusehen. Lediglich115dem mittleren Namen wird ein »Eigensinn« zugeschrieben, da im gefälschten Pass zwischen dem r und i ein Leerraum stehengelassen wurde, der die Personalpronomen Er und Ich kenntlich macht: »Darüber kann einer ins Meditieren geraten, durchaus.« (WB, 38) Dies kann als Hinweis auf die folgende

›Aufspaltung‹ in weitere Personen gesehen werden, wie Reber das macht,116vor al-lem jedoch als bildlicher Hinweis auf die Erzählhaltung insbesondere der ersten Erzählebene. Diese wechselt vornehmlich zwischen Außenschilderung (»Er«) und

113 Ein psychologischer Aspekt findet sich bei der im Roman selbst aufgebrachten Lesart von Wahnzu-ständen. Dabei geht es jedoch weniger um Identität als um die Erklärung der Imaginationen. Siehe unten Abschnitt 4.1.2 auf Seite 204.

114 Reber:Formenverschleifung, 303 und 362.

115 Die Idee, den Nachnamen Deters auf das englische »to deter someone« (jemanden hindern, ab-schrecken) zurückzuführen, halte ich für weit hergeholt und höchst spekulativ, vgl. Moosbach:

»Das Ribbentrop-Rhizom«, 31. Passend wäre es angesichts von Deters’ Zugfahrt und mäandernden Imaginationen allerdings und wohl weder zu beweisen noch zu widerlegen.

116 Vgl. Reber:Formenverschleifung, 317.

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Innenschilderung (»Ich«). Längere Abschnitte mit einem heterodiegetischen Erzäh-ler und Deters als fokalisierter Person wechseln unmarkiert zu anderen, die er als Ich-Erzähler schildert. Doch auch der heterodiegetische Erzähler ist nicht konsistent auf das Geschehen gerichtet, so wird auch der Leser angesprochen oder der Erzähler spricht in Wir-Form, was entweder alspluralis majestatisgesehen werden kann oder den Leser miteinschließt. Zudem finden sich in den Abschnitten in Außenperspektive auch Halbsätze, die als innerer Monolog gedeutet werden können. Eine allgemeine, für den gesamten Roman geltende narratologische Aussage zur Erzählsituation ist somit nicht möglich; zum einen ist oft nicht eindeutig bestimmbar, wer wie spricht, zum anderen wäre in den Fällen, in denen es vielleicht möglich wäre, ein Kommentar Satz für Satz vonnöten, der jeden Rahmen sprengen würde.

Eine eindeutige Zuordnung ist auch nicht gewollt, wird sie doch immer wieder unterwandert und hinterfragt, indem jede Ebene als eine in Entstehung begriffene Erzählung inszeniert wird, als einwork in progress, bei dessen Entstehung der Leserin statu nascendizugegen ist. Gerade während der Zugfahrt wird die Erzählung durch Meta-Kommentare als Imaginationen von Deters kenntlich gemacht:

Wie aber nun Frau Pomposiewitz aus dem Abteil kriegen? Daß sie plötzlich Lust auf einen Stadtbummel bekommt, will Hans Deters nicht plausibel werden.

Eine Erklärung nach der anderen streicht er aus seinem Kopf. Er hat Skrupel.

Das wundert um so mehr, als er ja Autor all dieser Wägungen ist […]. (WB, 112)

Die Fragen nach erzählerischen Problemen lassen die Leser direkt an den Überle-gungen teilhaben. Andererseits wird er auch gleich wieder verunsichert durch den Zusatz, er sei nur

möglicherweise [der Autor], denn ähnliches ließe sich von jeder anderen Person behaupten, – mit Ausnahme Dr. Lipoms, der resolut die Meinung vertritt, er schaffe Hans Deters auch als Person und den Leser in einem Aufwasch gleich mit. Daß eine Figur ihren Schöpfer erfinde, ist eine informelle, informale und informationsdienstliche Verkehrung, die nicht ernst genug genommen werden kann. (ebd.)

Diese hier nur als Möglichkeit aufgebrachte Volte der Erfindung eines Schöpfers (Autors) durch seine eigene Figur, ist bereits ausVGbekannt, wo Falbin als erfundene Figur Ereignisse seines Schöpfers Laupeyßer erfindet und so auf diesen Einfluss nimmt. Diese Wendung wird nun inWBzentral.

Deters ist zunächst derjenige, der sich das Geschehen im Zug ausdenkt und in ein Notizbuch schreibt. Abgesehen von den genannten Überlegungen zum Aufbau der Erzählung, die in diese selbst eingestreut sind, und von verschiedenen Stilen, die ausprobiert werden,117wird auch durch deutliche Unterbrechungen auf diesen Umstand hingewiesen. Immer wieder kommt der Schaffner oder Kellner der Zugbar und unterbricht Deters’ Imaginationen. Auch später, als die Handlung weit fortge-schritten ist, wird darauf hingewiesen, dass Deters sich die Geschehnisse entweder

117 Beispielsweise die Beschreibung eines Toilettenbesuchs in satirischer Manier à la Laurence Sterne oder Jean Paul (WB, 48ff.) oder Schilderung des Lebens einer Figur im filmischen Zeitraffer (WB, 113ff.).

im Zug oder aber im Wolpertinger, in dem er alleiniger Gast ist, ausdenkt und ihm dies »in klaren Zuständen« (WB, 578) auch bewusst ist (vgl. auchWB, 159, 169f., 232f., 651, 935). Schon im gefälschten Pass ist als besonderer Vermerk »Träumer«

(WB, 37) eingestanzt. Deters wird wichtiger Teil der Handlung. Dabei vermischen sich wieder die verschiedenen Lesarten. Einerseits webt er sich selbst in die Handlung hinein, da sie ja vollständig seine Imaginationen sind. Andererseits wird er von Lipom und Anna aufgrund einer Verwechslung in ihren Kreis hineingezogen. Sie sehen ihn als ein mögliches Objekt innerhalb ihres ehelichen Konflikts und als potenziellen Nachfolger Lipoms in der Konstellation derHieros gamos, der Heiligen Hochzeit, auf die sich Deters schließlich auch einlässt.118 Weitere Funktionen zeigen sich in den früh eingeführten Antonomasien ›Lauscher‹ und ›Husar‹, mit denen Deters teils vom Erzähler, teils von Lipom oder anderen benannt wird, als »ein Spielchen nur, zwischen dem Doktor und mir« (WB, 328), wie er selbst einmal bemerkt. Der Begriff

›Lauscher‹ wird deshalb verwendet, weil in der immer wieder verwendeten umgangs-sprachlichen Redeweise anfangs gesagt wird, Deters stelle seine Lauscher auf (vgl.

WB, 43f.), wenn er den Gesprächen der ihn umgebenden Reisenden zuhört. Diese Redeweise verselbständigt sich soweit, dass erpars pro totomit diesem Begriff benannt wird. Später bekommt der zunächst merkwürdig wirkende Name eine gewichtigere Erläuterung im Kontext des Konflikts zwischen Elben und Menschen,119 in dem Deters auf dem Thing als Mittlerfigur auftritt. In seiner Rede erklärt er den Elben die beschränkte Weltwahrnehmung der Menschen (im Vergleich zu den Elben) und weist auf seine mangelnde Kenntnis seiner Vorfahren hin: »Weil dies so ist, habe ich nichts im Ohr, was war, obgleich man mich den Lauscher nennt. Was ich höre, bin ich selbst, und wenn ich zurückdenke einhundert Jahre, zweihundert Jahre, sehe ich nichts als meine Fantasie.« (WB, 823) Auch wenn er die Bezeichnung hier als Widerspruch verwendet, deutet sie auf seine Fähigkeit hin zuzuhören und sich Sachen vorzustellen, zu phantasieren, auf die Sphäre der Elben zu horchen.120Dies befähigt ihn dazu, in Kontakt mit diesen zu treten (vgl. auch den Hinweis, die Geister »nähr[t]en sich von Fantasten« [WB, 883] wie Deters). Wichtiger fast noch ist die weitere Bezeichnung als Husar. Entstanden wohl aus einem Frau Pomposiewitz, einer Beifahrerin im Zug, zu-geschriebenen Gedanken, Deters habe »ein richtiges Husarengesicht, der wäre früher bestimmt Ulane geworden. Attila.« (WB, 52), nimmt Deters auch diese Bezeichnung in seiner Rede wieder auf. »[I]ch, auch Husar geheißen, weil ich gegens Vergessen ritt, bin also der, von dem ihr als einem Vergesser sprechen sollt« (WB, 823). Auch dieses Zitat entspringt dem Kontext der Gegenüberstellung von Menschen und Elben.

Er charakterisiert sich damit als ein Besonderer unter den Menschen, der sich ge-gen die moderne Bewusstseinsentwicklung der Menschen seit der Industrialisierung anstemmt. Gleichzeitig stellt er sich jedoch auch als einen typischen Menschen dar, der im Gegensatz zu den Elben steht. Durch diese Doppelcharakterisierung, die in beiden ›Spitznamen‹ bzw. in ihrer Erläuterung durch ihn enthalten ist, stellt er sich

118 Vergleiche dazu genauer oben Abschnitt 3.3.2 ab Seite 153.

119 Vgl. dazu Abschnitt 3.3.1 auf Seite 134.

120 Auch wenn einmal gesagt wird, er schaffe es nicht, »in den Lauscher zurückzusinken« (WB, 132) halte ich es nicht für fraglich, dass es lediglich eine Bezeichnung für Deters ist und keine weitere personale Aufspaltung, wie Reber insinuiert, vgl. Reber:Formenverschleifung, 315f.

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als geeignet dar, um für die Menschen zu sprechen und gleichzeitig mit den Elben einen Weg zu deren Rettung zu finden.

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