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Mythos vs. Logos

Im Dokument Von Bremen in die Anderswelt (Seite 134-163)

3.3 ›Prinzipien in wechselnder Gestalt‹

3.3.1 Mythos vs. Logos

Wie bereits einleitend vermerkt verkörpert Lipom einen Aspekt, der hier unter dem Begriff ›Mythos‹ subsumiert wird. Demgegenüber steht Murnau für den diesem ent-gegengesetzten Begriff ›Logos‹. Ihre Verkörperung drückt sich zunächst gar nicht als eine solche aus. Die mit diesen Begriffen mythentheoretisch verbundenen Positionen vertreten sie mehr oder weniger theoretisch argumentierend oder aber unsachlich streitend in den Diskussionen im Wolpertinger. Dabei ist anzumerken, dass die bei-den Begriffe ihnen nicht explizit zugeordnet werbei-den. Begrifflich sind sie zwar etwas vereinfachend, ihre diesbezügliche Bedeutung kann aber kontextuell genauer erläutert werden. Sie vereinen jedoch umfassend, was die beiden unterschiedlichen Positionen ausmacht. Die eigentliche Verkörperung wird erst in den Reden vor dem Thing deut-lich, als aufgedeckt wird, dass Murnau eine Abspaltung von Lipom selbst ist, ein noch sehr junger »Spaltgeist« (WB, 806). Diese Identität der beiden Geister spiegelt die Begriffsgeschichte wider, an deren Anfang zwischen Mythos und Logos nicht unter-schieden wurde, als sie noch nicht in dem späteren Gegensatzverhältnis zueinander bestanden.27

Die Entzauberung der Welt

Bevor näher auf die Verbindung von Figuren und Begriffen eingegangen wird, ist es für das Verständnis nötig, die Problemlage zu benennen, die durch diese Begriffe aufgespannt wird und die eine zentrale Stelle im Roman einnimmt. Gleich mit den

»manierierten Zeilen […], mit denen dieses Buch beginnt« (WB, 17) wird die Thematik angesprochen:

Von den großen Gespensterwesen, die Jahrtausende überdauerten, kam Nach-richt zuletzt mit dem Sieg des Automobils, dessen Zeit bereits eine so hektische

27 Sowohl Mythos wie Logos bedeuteten ursprünglich das Wort, sie waren »nahezu austauschbar und unterscheiden sich weniger durch ihre Referenz als durch die Redeform. Logos ist eher die sinnerfüllte, vernünftige Rede, Mythos die unverbürgte.« (Ernst Müller: »Mythos/mythisch/My-thologie«, in: Karlheinz Barck (Hg.):Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 4, Stuttgart / Weimar 2002, 309–346, hier: 311.) Zum Beginn der Trennung von Mythos und Logos bei Platon siehe Christoph Jamme: »Mythos und Wahrheit«, in: Monika Schmitz-Emans / Uwe Lindemann (Hg.):Komparatistik als Arbeit am Mythos, Heidelberg 2004, 39–54, v. a. 40f.

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war, daß die Geister sich in die letzten Winkel verkriechen mußten und all-mählich erst, als nämlich auch diese unter den Schlagbohrern fielen, zu lernen begannen, sich dort zu zeigen, wo niemand ihren Aufenthalt wähnte. Damit erst fanden sie zu sich, – in den Fragen der Psychologie. (WB, 17)

Da die ersten Absätze sich von der folgenden Handlung abheben und auch die zugehö-rigen Ausführungen Marduks im Prolog sehr elliptisch sind, fällt es zunächst schwer, die Bedeutung oder auch den Inhalt der Thematik zu umreißen. Mit der Erkenntnis, dass es sich bei den ATG-Mitgliedern um Elben bzw. Geister handelt, spätestens aber in der expliziten Thematisierung in den Thing-Reden ist zu verstehen, dass es um die Vertreibung der Geister aus der Lebenswelt der Menschen geht.

Dabei handelt es sich um einen bekannten Topos moderner Gesellschaftstheo-rien, an den inWBangeschlossen wird. Max Weber hat eine solche Entwicklung im Kontext von Reflexionen über die rationale Wissenschaft beschrieben. Bei ihm ver-weist das Schlagwort von der »Entzauberung der Welt«28auf die »intellektualistische Rationalisierung durch Wissenschaft und wissenschaftlich orientierte Technik«29. Die Beherrschung der Geister mit magischen Mitteln durch den ›Wilden‹ wird er-setzt durch die Beherrschung der Dinge durch Technik. In den Sozialwissenschaften fungiert diese Phrase als ein Passepartoutbegriff, um »die komplexen Prozesse der Säkularisierung und Marginalisierung des Religiösen in Europa auf den Begriff zu bringen«30. Im wörtlichen Anschluss an Weber, freilich ohne ihn jedoch zu erwähnen, wird die Wendung von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno inDialektik der Aufklärung31(1947/1969) gebraucht. Sehr deutlich wird das berühmte Werk, das angesichts der Erfahrung des deutschen Faschismus entstand, gleich eingangs als Bezugspunkt etabliert. Der inWBdirekt auf die eben zitierte Passage folgende Satz

»Gerade das aufgeklärte Denken gewährt dem Mythos Raum« (WB, 17) präsentiert Horkheimers und Adornos zentrale These »des Rückfalls von Aufklärung in My-thologie« (DdA, 3) in im Wesentlichen nur sprachlich abgewandelter Form. Dieser eindeutige Verweis ermöglicht, weitere kleine Hinweise vor allem terminologischer Übereinstimmung in einem Kontext zu verorten, der das geschichtstheoretische Bild vonDdAals Grundlage der inWBaufgespannten Thematik aufzeigt.

Webers Begriff findet sich gleich eingangs, in der ›Entzauberung der Welt‹ sehen Horkheimer und Adorno das »Programm der Aufklärung« (DdA, 9). Sie setzen in ihren Überlegungen voraus, dass eine Entwicklung von einem ursprünglichen frühen Zustand in der Menschheitsgeschichte zu einem aufgeklärten Denken stattgefunden hat. Dieser Urzustand wird in nicht eindeutiger Weise unter dem Begriff Mythos

28 Am bekanntesten ist die Verwendung der Metapher in dem Vortrag »Wissenschaft als Beruf«.

Vgl. Max Weber: »Wissenschaft als Beruf« [1917/19], in: Ders.:Gesamtausgabe, hg. v. Wolfgang J.

Mommsen / Wolfgang Schluchter, in Zsarb. mit Birgitt [sic!] Morgenbrod, Abt. I, Bd. 17, Tübingen 1992, 71–111, hier: 87, 109. Zu Entstehung des Begriffs und seinem Kontext im Werk von Weber vgl. Hartmut Lehmann:Die Entzauberung der Welt. Studien zu Themen von Max Weber, Göttingen 2009, 9–20.

29 Weber: »Wissenschaft als Beruf«, 86.

30 Lehmann:Die Entzauberung der Welt, 125.

31 Max Horkheimer / Theodor W. Adorno:Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente [1944/1969], Frankfurt am Main 1988 (im Folgenden zit. alsDdA).

gefasst. Aufklärung ist dabei nicht als historischer Epochenbegriff zu verstehen, son-dern wird »im umfassendsten Sinn fortschreitenden Denkens« (DdA, 9) gesehen.

Der Mensch strebt durch seinen Verstand nach vollständiger Erkenntnis, die ihm die Furcht vor der äußeren Natur sowie allgemein die metaphysische Furcht nehmen soll und ihn in eine überlegene Position versetzt, die sich in der Beherrschung der Dinge bzw. der Natur im Allgemeinen ausdrückt. Es geht um die Erzeugung und Ansamm-lung von Wissen durch die moderne Wissenschaft, wodurch dem Menschen Macht verliehen wird. Zum einen geschieht dies durch die Weiterentwicklung von Technik mit Hilfe des vermehrten Wissens, zum anderen liegen abstraktere Entwicklungen im menschlichen Denken zugrunde. Diese manifestieren sich vor allem in der Trennung von Subjekt und Objekt, von Begriff und Sache, also der Verdoppelung der Natur, die der ursprünglichen Verbundenheit und der allgemeinen Verkettung der Zusammen-hänge entgegengesetzt ist. Die Abfolge historischer Phasen, die hier insinuiert oder vorausgesetzt wird, ist jedoch lediglich aus Hinweisen herauszulesen. Auch findet sich inDdAkeine genaue Definition oder zumindest Erklärung der verwendeten Begriffe.32

Die Geschichte des Mythosbegriffs ist auch im Allgemeinen sehr heterogen. Im Laufe der Zeit haben sich viele unterschiedliche Formen des Mythenverständnisses etabliert.33Zunächst standen Fragen der Entstehung, der Ursachen und Bedeutung der Mythen im Vordergrund, was allgemein als ihre aitiologische Funktion bezeich-net werden kann. Auch ging es um Mythenkritik und um ihr poetisches Potenzial, ihre »narrative Disposition«34. Es war Rousseau, der »die geschichtsphilosophisch-politische Frage nach dem Ursprung menschlicher Kultur und deren Verhältnis zur Natur«35an Stelle dieser Aspekte rückte. Der in zeitgenössischen Reiseberichten ideali-sierte ›bon sauvage‹, der ›gute Wilde‹, regte die Vorstellung eines Ursprungsmythos an, eines Ursprungszustands der Menschheit, der von der Einheit von Mensch und Natur geprägt ist. Die Kritik von Rationalität und Zivilisation rückte in den Mittelpunkt des Interesses. Damit einher ging die Sehnsucht nach einem möglichen Anschluss an den Urzustand, nach der Erfahrung von Einheit mit der Natur. Begrifflich liegt hier ein

»polemischer« Mythenbegriff zugrunde, der sich auf Mythos »als ein überwundenes Stadium kulturhistorischer Entwicklung«36bezieht.

32 »Auskunft darüber, was Mythos sei, auch nur was er unter diesem Begriff verstanden wissen wolle, wird man bei Adorno kaum im Sinne einer Verbaldefinition finden und angesichts seines bekannten Mißtrauens gegen den Wert von Definitionen auch nicht erwarten.« (Rolf Tiedemann:

»›Gegenwärtige Vorwelt‹. Zu Adornos Begriff des Mythischen (I)«, in:Frankfurter Adorno Blätter5 (1998), 9–36, hier: 14.) Vgl. auch Günter Figal: »Über das Nichtidentische. Zur Dialektik Theodor W. Adornos«, in: Wolfram Ette / Günter Figal / Richard Klein / Günter Peters (Hg.):Adorno im Widerstreit. Zur Präsenz seines Denkens, Freiburg / München 2004, 13–23, hier: 13f.

33 So unterscheiden Aleida und Jan Assmann in einem systematischen Überblick sieben verschiedene Verwendungsweisen des Mythosbegriffs, vgl. Aleida Assmann / Jan Assmann: »Mythos«, in: Hubert Cancik u. a. (Hg.):Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe, Bd. 4, Stuttgart u. a. 1998, 179–200, 179ff. Einen historischen Überblick bietet Müller: »Mythos/mythisch/Mythologie«.

34 Wilhelmy:Legitimationsstrategien der Mythosrezeption, 47.

35 Müller: »Mythos/mythisch/Mythologie«, 317.

36 Assmann / Assmann: »Mythos«, 179.

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Diese Annahme bestimmt auch das Mythosverständnis inDdA. Hier zeigt sich die Ambivalenz zwischen Historizität und ahistorischem philosophischen Denken.

Die skizzierte Entwicklung stellt keine vollständige (oder historisch korrekte) Re-konstruktion der menschlichen Frühgeschichte dar.37Das Interesse gilt jedoch auch nicht einem »historischen Phänomen, nicht dem Mythos […], wie er Gegenstand von Prähistorie, Religionsgeschichte oder Ethnologie ist«38. Die Zielrichtung von Horkheimer und Adorno ist ihre Gegenwart, der Ausgangspunkt ihrer Überlegungen war die Suche nach einer Erklärung für die Entwicklung, die zu den Gräueln der deutschen Nationalsozialisten führte. Mythos und Mythologie wird also als scheinbar überwundener Urzustand dem Projekt der Aufklärung gegenübergestellt, die sich in Opposition zu diesem erst gebildet hat. Die Entzauberung der Welt ist äquivalent mit

»Entmythologisierung« (DdA, 13). Die Rede ist sogar davon, die »Mythen zu zerbre-chen« (DdA, 10), sie also gänzlich zu überwinden. Dennoch ist die Kontrastierung schon begrifflich keinesfalls eindeutig. Es lassen sich zwei Verwendungsweisen von Mythos finden. Der ursprüngliche Zustand wird verschiedentlich mit »dem älteren mythischen Glauben, [der] Volksreligion« (DdA, 17), sowie mal mit Präanimismus mal mit Animismus in Verbindung gebracht. Abgelöst wird er aber vom »solare[n], patriarchale[n] Mythos« (DdA, 17).39Dieser ist selbst mit Aufklärung im gebrauch-ten Sinn verschränkt, da er ebenfalls eine ordnende, erklärende und damit Angst überwindende Funktion hat.40

Wenn man von der historischen Dimension abstrahiert und Mythos und Aufklä-rung als Prinzipien auffasst, so lassen sich aus den verstreuten Hinweisen inDdA bestimmte Vorstellungen destillieren. Das wichtigste Bezugselement des Mythos ist die Natur, womit zunächst die ›äußere‹ Natur, die den Menschen umgebende gemeint ist. Die mythische Denkform bannt die unbekannten Schrecknisse der Natur in die Vorstellung von Dämonen und Geistern, errichtet die »Illusion waltender oder inne-wohnender Kräfte« (DdA, 12) der Materie. Im Mythos ist die Natur also eine belebte, die wiederum durch magische Rituale, durch Zauberei beeinflusst werden kann. Abs-trakter gesehen steht sie für »die Welt als das Chaotische, Vielseitige, Disparate« (DdA, 46), sie ist »undifferenziert« (DdA, 21), die »guten und schlechten Mächte [sind]

nicht eindeutig voneinander geschieden« (ebd.). Oppositionen werden noch nicht als solche begriffen, sondern sind miteinander verkettet. Aus der für später konstatierten

»Entfremdung von der Natur« (DdA, 55) kann der zuvor geltende Einklang mit der Natur geschlussfolgert werden.

Der Mythos ist […] die Natur in allem, worin sie ungeordnet, unbekannt und unbegriffen ist; das Weltalter des Vielen, als welches Natur den in ihr befangenen

37 Vgl. Christoph Jamme:Einführung in die Philosophie des Mythos. Neuzeit und Gegenwart, Bd. 2, Darmstadt 1991, 115f.

38 Tiedemann: »Gegenwärtige Vorwelt«, 15.

39 Ähnliche Nachweise, zusätzlich auch aus Adornos SpätwerkNegative Dialektik(1966), führt Rolf Tiedemann an, siehe ebd., 25.

40 Zur sich wechselseitig bedingenden Ambivalenz der Begriffe Mythos und Aufklärung inDdA siehe auch Georg Dörr:Muttermythos und Herrschaftsmythos. Zur Dialektik der Aufklärung um die Jahrhundertwende bei den Kosmikern, Stefan George und in der Frankfurter Schule, Würzburg 2007, 155f.

Menschen gegenüber- und entgegensteht; ein undurchdringliches Unbestimm-tes, das in Stummheit verharrt, vorzeitliches Grauen verbreitend.41

Die bei Horkheimer und Adorno als Aufklärung bezeichnete Gegenposition ist die des sich ausbildenden logischen Verstandes. Der Vielfalt und dem Chaos der mythi-schen Natur wurde durch Vereinheitlichung und Abstraktion, durch Entwicklung der formalen Logik begegnet. Gekennzeichnet ist der aufgeklärte Zustand durch Wissen, die Entstehung der Wissenschaften, die Entwicklung der Technik. Diese ermöglichten die Beherrschung der Natur. Wiederum auf abstrakter Ebene ist die Verwendung des

›Begriffs‹ kennzeichnend, der distanziert und der Kenntlichmachung des »Bekannten, Einen, Identischen« (DdA, 46) dient. Ihm vorher geht die Trennung von »Zeichen und Bild«, eben von »Anschauung und Begriff« (DdA, 24) oder, weiter abstrahiert, von Subjekt und Objekt. Aus der Beschreibung der Entwicklung zur Aufklärung lässt sich auch auf den mythischen Zustand rückschließen. So ist von der »Unterdrückung«

oder »Fixierung der Instinkte« (DdA, 42) die Rede, von der Verkümmerung der Phantasie (ebd.) und der Trennung von Denken und »Erfahrung der sinnlichen Welt«

(ebd.). Der Naturzustand ist also durch Instinkte und Sinnlichkeit bestimmt, aber wird auch mit der kreativen Produktivität des Geistes, der Phantasie, in Verbindung gebracht.

InDdAist die primäre Opposition Mythos versus Aufklärung. Wenn in der langen Mythosdiskussion der Mythos immer den Platz gegenüber einer Position der Vernunft besetzt, wird diese begrifflich verschieden gefasst, sei es eben als ›Aufklärung‹, als Moderne oder als Wissenschaft. In der Mythosforschung ist diese Gegenüberstellung aber vor allem in der Dichotomie Mythos versus Logos gefasst. Die Eindeutigkeit einer Entwicklung, wie sie von dem Altphilologen Wilhelm Nestle in der Formel

»Vom Mythos zum Logos« geprägt und in dem gleichnamigen BuchVom Mythos zum Logos. Die Selbstentfaltung des griechischen Denkens von Homer bis auf die So-phistik und Sokrates(1940) beschrieben wurde, ist jedoch immer wieder hinterfragt worden.42Schon die Bewertung differiert, wenn die Moderne den Mythos »als das Andere ihrer selbst unterstellt, von dem sie sich abgrenzt oder nach dem sie sich romantisch zurücksehnt, [der] ihre eigene Entdeckung, wenn nicht Konstruktion ist, die erst in der Polarität zu Vernunft und Rationalität Kontur gewinnt«43. Nachdem dann Horkheimer und Adorno auf die Verschränkung der vermeintlichen Gegenpole hingewiesen hatten – in ihrer titelgebenden Grundthese von der Dialektik der Aufklä-rung, die das Umschlagen von Aufklärung in Mythos wie die Existenz aufklärerischer Strukturen im Mythos bezeichnet –, stellte Hans Blumenberg die Verbundenheit der Phänomene inArbeit am Mythos(1979) noch deutlicher heraus. Er bezeichnet die

»Grenzlinie zwischen Mythos und Logos« ganz direkt als »imaginär« und spricht gar vom »Unfug jener sinnfälligen Geschichtsformel«44. Die Begründung ist hier eine ähnliche wie inDdA, da seiner Darstellung nach der Mythos ähnliche Funktio-nen erfüllt wie der Logos. Durch verschiedene Aspekte schafft er eine Distanz zur

41 Tiedemann: »Gegenwärtige Vorwelt«, 26.

42 Vgl. dazu ausführlicher Wilhelmy:Legitimationsstrategien der Mythosrezeption, 68–80.

43 Müller: »Mythos/mythisch/Mythologie«, 309.

44 Hans Blumenberg:Arbeit am Mythos, Frankfurt am Main 1979, 18 und 34.

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Wirklichkeit und bewirkt dadurch die Bewältigung der Urangst: »Der Mythos selbst ist ein Stück hochkarätiger Arbeit des Logos.«45Dennoch bleibt festzuhalten, dass eine bestimmte Art von Entwicklung bei aller Relativierung der Beschreibung prin-zipiell vorausgesetzt wird. Der von Horkheimer und Adorno beschriebene Rückfall von Aufklärung in Mythos »spielt sich […] nur auf der Ebene der Beziehung auf unhinterfragbare, absolute Gültigkeiten ab, nicht aber auf der Ebene einer Entdifferen-zierung«46. Etablierte Denkformen wie die Trennung von Subjekt und Objekt können nicht zurückgenommen werden. Auch für Blumenberg ist es nicht möglich, hinter die Vorstellung moderner Wirklichkeitsstruktur zurückzufallen, indem an mythische Vorstellungen angeknüpft wird: »Mit dem Gedanken, daß Götter erscheinen könnten, ist im Horizont des neuzeitlichen Wirklichkeitsbegriffs nicht einmal mehr zu spie-len.«47Es handelt sich bei der Gegenüberstellung von Mythos und Logos also um eine Opposition, »die sich nicht aufrechterhalten [lässt] und mit [der] doch operiert werden kann«48.

Lipom und Murnau

Vor diesem Hintergrund entfalten sich die von Lipom und Murnau vertretenen Stand-punkte. Das ›polemische‹ Mythosverständnis herrscht auch inWBvor. Es wird nicht die Frage verfolgt, die Entstehung, Ursachen oder auch die Bedeutung von Mythen darzustellen oder zu reflektieren. Es wird eine Entwicklung vom Mythos zum Logos insofern vorausgesetzt, als sie bildhaft in der Vertreibung der Geister aus der Welt bezeichnet ist. Sie ist jedoch nicht als endgültig zu betrachten, da die Geister bislang nicht vernichtet worden sind, sondern sich lediglich zurückgezogen haben. Es handelt sich um eine gleichzeitig historische wie ahistorische Vorstellung, die die Auffassung von Mythos und Aufklärung inDdAspiegelt. So wie diese »logische und historische Gegensätze zugleich«49bilden, der Mythos in den Phänomenen des aufklärerischen Projekts erhalten geblieben ist, so symbolisieren die Geister einerseits einen früheren Naturzustand, andererseits eine weiter existierende untergründige Welt, zu der nur wenige Zugang haben. Die Ambivalenz der Dichotomie, die in der Mythosforschung aufgezeigt wurde, wird auch in der Personifikation in den Figuren Lipom und Murnau gespiegelt. Scheinen sie als eindeutig zu identifizierende und damit voneinander zu unterscheidende Personen zu bestehen, die vehement die jeweilige Position vertreten, so stellt sich die Autonomie Murnaus als gar nicht so eindeutig heraus. Der Zusam-menhang ihrer Identität wird während des Things offenbart. Die Aufgabe des Things, während dessen so viele zentrale Dinge angesprochen und aufgedeckt werden, ist die Gerichtsbarkeit, es soll ein Urteil über Murnau gefällt werden. Lipom selbst hat

45 Ebd., 18.

46 Wilhelmy:Legitimationsstrategien der Mythosrezeption, 77.

47 Hans Blumenberg: »Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential des Mythos«, in: Manfred Fuhr-mann (Hg.):Terror und Spiel. Probleme der Mythenrezeption, München 1971, 11–66, hier: 41. Vgl.

inWBdie Äußerung Lipoms, sie, die Geister, seien »undenkbar geworden« (WB, 809).

48 Volker C. Dörr:Mythomimesis. Mythische Geschichtsbilder in der westdeutschen (Erzähl-)Literatur der frühen Nachkriegszeit (1945–1952), Berlin 2004, 10.

49 Tiedemann: »Gegenwärtige Vorwelt«, 25.

wohl genug von seiner Aufgabe als Elbenfürst, wie er mehrfach betont, ist müde und möchte nur noch schlafen (vgl.WB, 646). Außerdem entgleitet ihm die Welt, er verliert den Bezug zu ihr, da die Geister wie eben beschrieben durch die Menschen aus ihrer gewohnten Umgebung vertrieben werden und sie keine Zufluchtsorte mehr haben. Außerdem hat er Schuld auf sich geladen, indem er als »Fürsprecher eines Dritten Reiches« (WB, 803) aufgetreten ist, das er unterschätzte. Diese kurze An-spielung auf das ›Dritte Reich‹ der Nationalsozialisten könnte eine Verbindung zur Mythenkonjunktur der Nazizeit darstellen, wahrscheinlicher ist aber eine Bezugnah-me auf Gottfried Benns zeitweiliges Bekenntnis zum Nationalsozialismus.50Lipoms letzte politische Tat, nach der er dem Thing am Folgetag Rechenschaft über seine Schuld geben und dann von seinen Ämtern zurücktreten will, war der Versuch, ein Gleichgewicht wiederherzustellen, das Leben zu versöhnen und den Geistern wieder einen Heimstätte zu verschaffen. Um dies zu erreichen, hatte er Murnau geschaffen, der mit dem Denken der Menschen begabt als Unterhändler mit diesen fungieren sollte. Murnau habe jedoch zunehmend wie die Menschen gedacht, sich in der Folge auf ihre Seite geschlagen und ihre Sache vertreten. Lipom sieht dies als Verrat und Überläufertum an und hat daher das Thing einberufen, um über Murnau zu richten und ihn zurückzuschicken »in das, was man den Äther nannte« (WB, 807).

Murnau ist also eine Abspaltung von Lipom, ein junger Geist, der aus einem alten entstanden ist. Lipom hat ihn aus seinem »eigen Fleisch und Geist und aus einer Birke51und zu Euerer Wohlfahrt« (WB, 803) geschaffen. Da Murnau seiner Meinung nach versagt hat, erfolge die Intention der Menschen, die Geister auszurotten, mit seiner »eigenen Hilfe« (WB, 804). Während Murnau so als ein Wesen dargestellt wird, das zwar mit Lipom in Zusammenhang steht (der letztlich auch die Verantwortung für dessen Handlungen übernimmt), aber eigentlich autonom ist, weist Murnau in Gesprächen mit Deters auf ihre gemeinsame Identität hin.52Kurz nachdem Lipom Deters von seiner Herkunft erzählt hat, erbittet Murnau Deters’ Hilfe, um der bevorste-henden Verurteilung und Vernichtung durch das Thing zu entgehen. Die Anklage des

Murnau ist also eine Abspaltung von Lipom, ein junger Geist, der aus einem alten entstanden ist. Lipom hat ihn aus seinem »eigen Fleisch und Geist und aus einer Birke51und zu Euerer Wohlfahrt« (WB, 803) geschaffen. Da Murnau seiner Meinung nach versagt hat, erfolge die Intention der Menschen, die Geister auszurotten, mit seiner »eigenen Hilfe« (WB, 804). Während Murnau so als ein Wesen dargestellt wird, das zwar mit Lipom in Zusammenhang steht (der letztlich auch die Verantwortung für dessen Handlungen übernimmt), aber eigentlich autonom ist, weist Murnau in Gesprächen mit Deters auf ihre gemeinsame Identität hin.52Kurz nachdem Lipom Deters von seiner Herkunft erzählt hat, erbittet Murnau Deters’ Hilfe, um der bevorste-henden Verurteilung und Vernichtung durch das Thing zu entgehen. Die Anklage des

Im Dokument Von Bremen in die Anderswelt (Seite 134-163)