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Die dritte Ebene: der ›Dritte‹ und Eckhard Cordes

Im Dokument Von Bremen in die Anderswelt (Seite 180-183)

3.3 ›Prinzipien in wechselnder Gestalt‹

3.6 Das Deters-Netzwerk

3.6.4 Die dritte Ebene: der ›Dritte‹ und Eckhard Cordes

Die dritte Ebene erscheint insgesamt durch die spärliche Figurenausstattung ebenso wie durch die kaum vorhandene Handlung als eine erzählerische Hilfskonstruktion.

Es scheinen hier gleich zwei ›Deters-Instanzen‹ angesiedelt zu sein: der ›Dritte‹ und Eckhard Cordes. Diese sind als Figur(en) nur schwer bestimmbar, was sich schon darin zeigt, dass in der bisherigen Sekundärliteratur erst bei Ursula Reber zwischen ihnen unterschieden wird.123Das Verwirrspiel wird auf dieser Ebene also noch einmal in weitere Höhen getrieben. Die Verwirrung entsteht dadurch, dass der ›Dritte‹ sich zunächst als anonymer Ich-Erzähler einführt (vgl.WB, 560ff.) und später für beide Figuren derselbe Name gewählt wird (vgl.WB, 679f.).

Der ›Dritte‹ spricht im Passus, in dem er sich selbst einführt, von sich lediglich als

»Ich« , bleibt also anonymer Ich-Erzähler, und differenziert sich von den bisherigen Figuren dahingehend, dass er »weder Deters noch eigentlich sein Autor« (WB, 560) sei. Vielmehr gibt er sich als Ich-Erzähler des Prologs zu erkennen (WB, 561), der dann später den ›Autor‹, also Deters II getroffen habe. Dieser hat mit ihm im Frank-furter TAT-Café die Identität getauscht, das heißt seinen Namen, den Pass und die Schlüssel zu seiner Wohnung, also sein gesamtes Leben. Zudem hat dieser ihm seine Aufzeichnungen überlassen. Er selbst war wohl unzufrieden mit seinem bisherigen Leben, wieder einmal betrunken und wusste nicht recht, wie ihm geschieht und auf was er sich dabei einlässt. Diese Vorfälle schildert er an zwei verschiedenen Stellen (WB, 562 und 724f.). Scheint in der späteren, genaueren Beschreibung vieles wie ein zwar reichlich seltsamer, aber durchaus möglicher Vorgang, kippen beide jedoch schnell ins Phantastische, wenn ihn beispielsweise eine Freundin nicht mehr erkennt (vgl.WB, 725). Auch seine Bestimmung des Verhältnisses zwischen ihm und Deters II ist hier einzuordnen. Dieser sei »tatsächlich […] nach Frankfurt weitergereist, und zwar, um ich zu werden. Ich bitte das wörtlich zu nehmen. Nur dann erfaßt man den Umfang meines Problems.« (WB, 562) Wie so etwas vorzustellen ist, wird kaum geklärt. Er sei durch diesen Vorgang »das Produkt einer sehr eigenartigen und anthro-pologisch untypischen Fortpflanzung, einer Spaltung« (WB, 724). Wenn Deters II jedoch auf irgendeine Art der ›Dritte‹ geworden wäre, dann ist nicht nachvollziehbar, warum er »höchst trickreich durch ein Hintertürchen entschlüpft« (ebd.) sei und auch an der früheren Arbeitsstelle des ›Dritten‹ zu sehen war (WB, 725). Wie genau die Identität zwischen den Figuren bestimmbar oder vorstellbar sein soll, ist also nicht genauer festzustellen. Er beschreibt sich selbst als »eine Hilfskonstruktion, die ihm [dem ›Autor‹] erlaubt, sich zu sehen. […] Daraus erhellt ebenfalls unschwer, daß wir nicht identisch sein können, und zwar so wenig, wie Hans Deters noch Ähnlichkeit mit Ulf Laupeyßer oder Claus Falbin hat.« (WB, 563) Das Verfahren ist damit ähnlich wie beiVG, auf das hier Bezug genommen wird. Die Schilderung der Treffen und Ereignisse erfolgt in realistischer Art, dann wird jedoch in einem Kommentar ein Vorgang behauptet, der in seiner Vagheit und Phantastik nicht vorstellbar wird. Da

123 Vgl. Reber:Formenverschleifung, 322, wobei sie die beiden auf S. 320 auch verwechselt. Vgl. jedoch die fehlende Unterscheidung bei Scherer: »Die Metamorphosen des Wolpertingers«, 182, Moosbach:

»Das Ribbentrop-Rhizom«, 51, und Jürgensen: »Ich sind auch andere«, 155. Bei Kühlmann fehlt der Hinweis auf diese Figuren ganz.

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dies ja, wie durch das ständige Hinterfragen der ›wirklichen‹ Abläufe und Zusam-menhänge deutlich wird, beabsichtigt ist, bleibt die Konstatierung und Aufführung sowie Sammlung der Hinweise auf die solcherart behaupteten Vorgänge.

Der ›Dritte‹ ist noch deutlicher als Deters II durch die narrative Funktion innerhalb der metafiktionalen Gesamtkonstruktion bestimmt. Seine Selbsteinführung erfolgt bezeichnenderweise über den längsten metanarrativen Diskurs des Buches. Er rä-soniert über die Authentizität des ihm überlassenen Berichts. Wie später durch die Schilderung des Identitätstauschs klar wird, handelt es sich um die Aufzeichnungen von Deters II. Durch das Motiv des vorgefundenen Manuskriptes und seine daraus resultierende Rolle als Redakteur und Korrektor bis hin zum umschreibenden Co-Autor reiht er sich ein in die lange Tradition der vor allem in der Romantik beliebten Herausgeber-Fiktion.124Seine Rolle bei der Umarbeitung der Erzählung bleibt vage, lediglich einige Andeutungen weisen auf die Größe der Eingriffe hin.125Wie er sich selbst als strukturell nötige Hilfskonstruktion als »Meta-Erzähler[]«126von Deters II sieht, so wird er zudem auch von diesem und Alda geschaffen, wodurch wiederum seine Glaubwürdigkeit unterwandert wird. Auf einen Vorschlag von Alda und einen dubiosen Hinweis auf weitere Zahlenspiele fügen sie noch die dritte Ebene in ihre Konstruktionen ein. Auf dieser soll aber nicht noch eine weitere simultane Parallel-handlung ablaufen, da es »ein bißchen öd’ [wäre], alles einfach hochzukopieren« (WB, 786). So wird nicht noch einmal eine Zugfahrt oder eine Gesprächsrunde in einem weiteren parallel zu sehenden Hotel geschildert. Er verbleibt eher handlungsarm auf der dritten Ebene, wird jedoch etwas konturierter als Person, wenn er schließlich doch nach Münden kommt und sich im Jagdhaus Heede einquartiert (das jedoch nicht am selben Platz steht wie die anderen Hotels und damit keine zeitüberschreitende Identität mit diesen hat). Lediglich der Agent Baumwolle nimmt Kontakt zu ihm auf, wie er es mit Deters auf der Zugfahrt gemacht hat. Da sich dieser von ihm abgewendet (und den Elben zugewendet) hat, will er nun über den ›Dritten‹ an Anna/Alda gelan-gen. Auch wenn der ›Dritte‹ nicht nur Baumwolle gegenüber – an Max Frischs Stiller gemahnend – vehement abstreitet, Deters zu sein (vgl.WB, 789, 951, 961), ist dieser wohl doch so etwas wie sein »vorheriges Ich« (WB, 875). Wie auch immer die identi-tären Zusammenhänge vorzustellen sind,127in der Handlungsstruktur ist der ›Dritte‹

vor allem eine Hilfskonstruktion. Er ist ein »Joker auf der Hinterhand, der ausgespielt wird, wenn’s an der Zeit ist« (WB, 840). Da Baumwolle als Vertreter des Dunklen das Fest und die Primizien stören will, schlägt Murnau in einer Szene, in der sich die Ebenen gehörig ineinander verwickeln, vor, das Fest zur Sicherheit in die Zukunft zu

124 Vgl. dazu die Studie von Uwe Wirth, in der u. a. mit Wieland und Jean Paul wichtige Intertexte von WBim Mittelpunkt stehen: Uwe Wirth:Die Geburt des Autors aus dem Geist der Herausgeberfiktion.

Editoriale Rahmung im Roman um 1800: Wieland, Goethe, Brentano, Jean Paul und E. T. A. Hoffmann, München 2008.

125 So gehen angeblich die mythologischen Bezüge auf ihn zurück (vgl.WB, 561f.) ebenso wie die Figur Klaus Hüon (vgl.WB, 565). Da beide Komplexe von zentraler Bedeutung sind, aber lediglich nebenbei erwähnt werden, werden jegliche Annahmen über Zusammenhänge ein weiteres Mal hinterfragt.

126 Reber:Formenverschleifung, 323.

127 Oder wie Baumwolle es formuliert: »Es ist doch ganz gleichgültig, ob Sie er sind oder nicht.« (WB, 789)

verlegen. Die Frage geht an Deters, ob er seinen Autor, also Deters II, dazu bringen kann, dies zu erreichen. Dieser will mit Alda nun durch den ›Dritten‹ Baumwolle austricksen (vgl.WB, 867). Geschehen soll dies über seine Eigenschaft als Meta-Autor.

Da alles von der Phantasie- und literarischen Schreibleistung der Ebenen-Autoren abhängt, soll sich der ›Dritte‹ nun die Feste der verschiedenen Ebenen »ineinander verschränkt« (WB, 918) vorstellen. Durch seine poetische Kraft zur Veränderung der Geschehnisse, soll er eine Verformung der Zeit schaffen, die es ermöglicht, die Angreifer zumindest zu verwirren. So wie Deters II der ›Autor‹ von Deters ist, wird er zum scheinbar mächtigen Meta-Autor, was sich in den Bezeichnungen als »unsrem projektiven Autor« (WB, 874), »unser letzter, oberster Autor« (WB, 840) oder »unser Überautor« (WB, 907) ausdrückt. Das Besondere an der Konstruktion ist nur, dass die Macht, die ihm zukommt, von einer hierarchisch niedrigeren Ebene zugeschrieben wird.

Auf welcher Ebene die Figur Eckhard Cordes angesiedelt ist und als was er bestimmt werden kann, ist noch schwerer zu sagen als beim ›Dritten‹. Er scheint weniger funk-tional konstruiert zu sein als dieser und tritt sehr überraschend als sehr konkrete Figur in Erscheinung. Scheinbar erfolgt dies auf der zweiten Ebene, da Deters II ihn im Andree’s Berg trifft. Einiges ist jedoch merkwürdig und zeigt Deters II, dass Cordes in eine andere Zeitschicht gehört. Sie haben dasselbe Zimmer, jedoch sehen sie ver-schiedene Zimmernummern; Cordes tritt auf einen Balkon, den Deters II aber nicht sehen kann, weswegen er nur sieht, wie Cordes durch die Wand verschwindet. Auch sehen ihn andere Leute nicht. Bemerkt wird, dass Deters in der Erzählung auch einen Balkon hat und zudem hält Cordes das Hotel für das Wolpertinger. Dennoch gehört er, wie später festgestellt wird, der Zeitschicht von 1989 an (vgl.WB, 923). Weiterhin ist merkwürdig, dass er weder Lipom kennt noch irgendetwas von den Geschehnissen im Wolpertinger weiß. Andererseits wird er ganz direkt als »späteres Ich« (WB, 923) von Deters II bezeichnet (als das er eigentlich Bescheid wissen müsste). Bei der nächsten Begegnung hat sich eine Veränderung ergeben, Cordes hat Verletzungen am Kopf und reagiert anders als vorher. Er weiß vieles über die mystisch-mythische Bedeutung der Dinge, kennt Ortnit/Ramon-Roger und fängt an, Deters II zu beraten und ihm Tipps zu geben. Er ist also in das Geschehen hineingezogen worden, hat »viel gelernt in den kommenden vier Jahren« (WB, 717) und greift aus der Zukunft in das Geschehen ein (ohne jedoch Deters II etwas vollständig zu erklären).

Ausgehend von seinem Namen kann der Versuch unternommen werden, Cordes’

Identität zu bestimmen. Als ursprünglicher Namensbesitzer ist der ›Dritte‹ zu identi-fizieren: »Er selbst, der Dritte, war ja der wirkliche Cordes.« (WB, 924) Untermauert wird dies an mehreren Stellen, wenn der Namenstausch (durch den Passtausch) in die Überlegung miteinbezogen wird. Demnach heißt der ursprüngliche Cordes (der

›Dritte‹) nun Deters und dieser (d. i. Deters II) nun Cordes. Nach dem Tausch erkun-digt sich der ›Dritte‹ auf seiner ehemaligen Arbeitsstelle entsprechend nach Herrn Cordes (WB, 692). Auch kommentiert er erschreckt die Verwendung ›seines‹ Namens für die Figur Cordes (WB, 679f.). Andererseits ist die Figur Cordes wiederum ein-deutig vom ›Dritten‹ zu unterscheiden. Dies zeigt sich spätestens, wenn die beiden aufeinandertreffen und Cordes auf den davon genervten ›Dritten‹ einredet (vgl.WB, 950f.). Dies besagt bislang erst, was Cordes nicht ist, nur woher der Name stammt.

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Als ›späteres Ich‹ von Deters II hängt Cordes enger mit diesem zusammen und auch die weiteren Hinweise gehen in diese Richtung. Er selbst spricht von einer Verän-derung, dass er ein Mensch gewesen ist, nun seinen Ort aber nicht mehr verlassen kann, da er geworden ist ›wie die anderen‹. Ausgeführt wird dies nicht, aber einzige Auslegungsmöglichkeit ist, dass auch er ein Geist geworden ist (vgl.WB, 718 und 913). Metanarrativ bestätigt wird dies von Alda, die ihn als »Gespenst vom Andree’s Berg«, als einen »Hans Deters, der hiergeblieben ist« (WB, 702) sieht, was Deters II als interessante Überlegung aufnimmt. Auch der ›Dritte‹ bezeichnet Cordes einmal im Gespräch als »Sie Gespenst« (WB, 951).128Aus diesen Andeutungen kann gefolgert werden, dass Cordes einerseits während der Primizien, also des Vollzugs der Heiligen Hochzeit, entstanden ist, erst danach trat er sein »Amt« (WB, 913) an; andererseits greift er von der Zukunft aus in das Geschehen ein und übergibt Deters II eins der Beutelchen, was die Voraussetzung für die Heilige Hochzeit erst zu sein scheint. In einer kausal absurden Schleife macht er die eigene Entstehung aus einer Form seiner selbst heraus erst möglich. Die Zentralität dieser Zusammenhänge zeigt sich darin, dass Cordes zur Beschreibung seines identitären Verhältnisses zu Deters II das von Lacan stammende Motto, das dem gesamten Roman vorsteht, nur leicht abwandelnd aufgreift:

Gewissermaßen sind wir identisch… und doch nicht. Ich bin die Zweite Zukunft dessen, was Sie gewesen sein werden, für das, was Sie dabei sind zu werden.

(WB, 718)

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