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Intertextuell geprägte Identitäten

Im Dokument Von Bremen in die Anderswelt (Seite 166-170)

3.3 ›Prinzipien in wechselnder Gestalt‹

3.5 Intertextuell geprägte Identitäten

WBist durch eine Vielzahl intertextueller Bezüge geprägt, wie durch einige Belege in den bisherigen Ausführungen bereits angedeutet worden ist. Den literarischen Vorlagen sind Personal und Motive entlehnt, die der eigenen Konzeption angepasst und ineinandergefügt sind. Auch die Figurenidentitäten sind durch die Intertexte bestimmt. Dabei sind die Mechanismen ähnlich wie bei den oben beschriebenen mythischen Bezügen und von diesen nur teilweise abzutrennen. Da auch die my-thischen Vorbilder immer durch die literarische Aufbereitung der Mythen bekannt sind93und gerade inWBdie literarischen Vorlagen der Mythen deutlich werden, geht hier mythologische Bezugnahme in Intertextualität über. Dennoch kann eine feine Abgrenzung gemacht und muss auch vorgenommen werden. Diese liegt vor allemex negativo, nämlich da vor, wenn eine Verbindung zu literarischen Texten vorhanden ist, die eindeutig nicht mythologisch geprägt sind. Etliche Figuren sind ziemlich di-rekt aus den Intertexten entlehnt, ein in der Literaturgeschichte sehr häufig und auf vielfältige Weise gebrauchtes Verfahren. Wolfgang G. Müller hat hierfür den Begriff Interfiguralität geprägt und verschiedene Erscheinungsformen beschrieben.94Als offensichtlichstes und häufigstes Merkmal der Verbindung von Figuren verschiedener Texte nennt er die Übernahme von Namen in identischer oder veränderter Form. Dies gilt auch fürWB, wo in den meisten Fällen die Namen direkt übernommen werden.

Meist bestimmt die Vorlage zudem die Handlungsweise der Figuren, diese sind also nicht autonom in ihrem Handeln. Dennoch sind die Übernahmen nicht vollständig.

Gerade die äußerliche Erscheinungsform der Figuren ist individuell ausgestaltet und an die besondere Konstruktion des Textes angepasst. Ihre Gesamtanlage ist jedoch durch das Netz der Bezüge determiniert und entweder durch ihre eigentliche Vorlage bestimmt oder aber durch andere, die einen Handlungsstrang bestimmen, in den sie hineingewoben sind.

Angesichts der Fülle an intertextuellen Bezügen ist es hier lediglich möglich, diese Mechanismen an einigen Beispielen aufzuzeigen. Das soll an besonders wichtigen und augenfälligen Bezügen geschehen. Dabei handelt es sich um die IntertexteOberonvon Wieland,Faust Ivon Goethe sowieA Midsummer Night’s Dreamvon Shakespeare.

3.5.1 WielandsOberonundHuon de Bordeaux

Bei WielandsOberonhandelt es sich um einen der deutlichsten und auch in der Menge der Bezüge wichtigsten Vorlagen fürWB. Dabei sind selbst die teils strophenlangen Zitate (WB, 32, 190) nicht explizit zugeordnet und auch der Name Wieland wird lediglich mit anderem Vornamen in der Namensliste von Hüons Album aufgeführt (vgl.WB, 720). Neben dem oben bereits beschriebenen zentralen Konflikt zwischen Oberon und Titania, dient Wielands Werk aber auch für andere Motive als Vorlage und vor allem für andere Figuren als Namensgeber. Die ebenfalls bereits erwähnte

93 Wie Blumenberg aufgezeigt hat ist Mythos ist immer schon Rezeption des Mythos und daher dem Mythos inhärent, vgl. Blumenberg:Arbeit am Mythos, 240.

94 Vgl. Wolfgang G. Müller: »Interfigurality. A Study on the Interdependence of Literary Figures«, in:

Heinrich F. Plett (Hg.):Intertextuality, Berlin u. a. 1991, 101–121, v. a. 102f.

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Ehebruchgeschichte ist bei Wieland der Auslöser für den Elbenkonflikt und verbindet die beiden zentralen Paare der unterschiedlichen Sphären. InWBstellt sie zunächst vor allem die Figuren bzw. die Namen, die mehr oder weniger direkt übernommen werden. Der Alte heißt ganz direkt Gangolf, bekommt aber in moderner Weise einen Vornamen. Aus seiner jungen Frau Rosette wird leicht modifiziert Rosi Gangolf.95 Auch ihr Liebhaber heißt wie in der Vorlage Walter, wird durch seinen Nachnamen Sämann aber zudem noch einer Familie und damit einem weiteren Erzählzweig zuge-ordnet. Das Personenverzeichnis erweist sich wieder einmal als Hinweisgeber. Die knappe Erläuterung zu Rosi – »Sie liebt Walter Sämann im Birnbaum« (WB, 10) – greift eine im Haupttext völlig nebensächliche Episode auf (vgl.WB, 559f.), verweist damit aber gleich aufOberon, wo die entsprechende Szene einen zentralen Platz innerhalb der Gangolf-Erzählung einnimmt. Analog zur Änderung der Versöhnungs-bedingung ist aus dem ehebrecherischen Vergnügen der beiden im Birnbaum ein konstantes Verhältnis geworden, von dem Gangolf weiß und unter dem er leidet.

Ähnlich verhält es sich mit weiteren Nebenfiguren. Der Freiherr Klaus von Hüon, oben bereits als Agent des Dunklen beschrieben, ist Wielands Protagonisten entlehnt.

Auch hier bleibt wenig mehr als der Name und einige Motive. So ist er inWB kei-neswegs der schillernde Held. Er ist allerdings wie in der Vorlage auf der Suche nach seiner Geliebten Rezia, die er in der Verkäuferin Katrin Legrand zu finden glaubt.

In der Schilderung seiner Familiengeschichte, die sowohl die Auseinandersetzung mit der Zeit des Nationalsozialismus in den Text einflicht als auch das Ringmotiv erzählt, tauchen weitere Namen ausOberonauf. Hüons ›Onkel‹, der Anwalt seines Vaters mit Verbindungen zu Lipom, heißt Dr. Tobias Scherasmin und teilt sich den Nachnamen mit dem Diener von Wielands Hüon.96Ebenfalls übernommen werden die Namen Angulaffer und Paladin, deren Persönlichkeiten jedoch völlig verändert werden. Während Lipom und Anna sich also tatsächlich als das mythische Elfenpaar Oberon und Titania herausstellen, sind die anderen Figuren zwar durch Namen und Motive direkt mit der Vorlage verbunden, sind jedoch nicht identisch mit diesen.

Dass sich die Bezüge in diesem Umfeld nicht nur auf WielandsOberonbeziehen, sondern auch auf dessen VorlageHuon de Bordeaux, zeigt sich an der Figur Malle-bron. Dieser taucht (in der Schreibweise Malebron, Mallebron wird in der englischen Übersetzung verwendet) dort als Diener Auberons auf, der Huon über das Rote Meer nach Babylon bringt.97Doch hier erschöpft sich der intertextuelle Bezug auf die Übernahme des Namens. Die Figur inWBist vermutlich eine elektronische

Erschei-95 Hier sind gleich verschiedene Formen von internymischer Veränderung zu erkennen, d. h. Ver-änderung am Namen der Figurenvorlage (vgl. ebd., 104–107): die Addition (des Vornamens bzw.

eines Diminutivmarkers) und die Substraktion (Kürzung des hinteren Teils des Namens).

96 Dass der ›Onkel‹ Tobias heißt und zudem mit Hüons »Steckenpferd« (WB, 334), dem Popel-Album, in Verbindung gebracht wird, deutet auf Uncle Toby aus Laurence SternesTristram Shandyhin.

Von hier aus wird der Vorname von Walter Sämann noch ein zweites Mal intertextuell ›aufgeladen‹, da Toby und Walter Shandy Brüder sind und inWBebenfalls eine Verbindung zwischen Tobias Scherasmin und Walter Sämann besteht. Diese Bezüge sind jedoch nicht handlungskonstituierend, sondern lediglich Teil des intertextuellen Verweisspiels.

97 Vgl. Willem P. Gerritsen / Anthony G. van Melle (Hg.):A Dictionary of Medieval Heroes. Characters in medieval narrative traditions and their afterlife in literature, theatre and the visual arts, Woodbridge 1998, 149.

nungsform (ein Avatar) von Daniello auf der zweiten Ebene. Er ähnelt diesem sowohl in Erscheinung als auch vor allem durch seinen österreichischen Dialekt.

3.5.2 Mephistopheles-Parallele

Das vierte Kapitel des vierten Septors bildet inWBals »Zweite Nachtmusik: Passaca-glia« die Szene in »Auerbachs Keller in Leipzig« aus GoethesFaust Inach. In enger Anlehnung an die Vorlage wird zunächst parallel das Geschehen in der Mündener Kneipe Winkelmanns Schänke und ein Terrassengespräch der ATG geschildert.98 Deters phantasiert zeitgleich mit dem Gespräch die Kneipenszene bis Lipom ihm »in die Fantasie [fährt]« (WB, 598), wie Dr. Weigan es formuliert. Lipom und Murnau nehmen Deters in Gedanken mit dorthin, so wie sich Mephistopheles und Faust in das Leipziger Gasthaus begeben. Lipom nimmt denn auch Mephistopheles’ Rolle ein und offenbart entgegen seinem sonst fast vollständig durch eine ironische Gelassenheit geprägten Charakter seine böse Seite (selbst die heftigen Auseinandersetzungen mit Murnau zeigen lediglich sein aufbrausendes Temperament und haben nichts direkt Böses an sich). Neben dem oben bereits erwähnten Gespräch zwischen Daniello und Lipom nimmt dieser hier zum zweiten Mal die Rolle einer Teufelsfigur ein. Der Typus von Interfiguralität, der hier vorliegt, unterscheidet sich von den bisherigen, vornehm-lich durch internymische Beziehungen geprägten. Der Name Mephistopheles wird ebenso wenig übernommen oder genannt wie Goethe oderFaust. Hier handelt es sich, wieder mit Müller gesprochen, vielmehr um eine Überlagerung von Figurenkonstella-tionen. Lipom ist ja schon durch die Figurenvorlage des Oberon geprägt, was in dieser Szene durch die charakterliche Anlage und die Handlungen von Mephistopheles über-lagert oder kontaminiert wird.99Heftiger noch als Mephistopheles provoziert er die Kneipengäste und verwirrt sie durch seine elbische Zauberkunst. Aus den Löchern, die Lipom in den Kneipenboden bohrt, kommt statt des versprochenen Weins, der in derFaust-Szene zunächst auch aus den Bohrlöchern kommt, Brackwasser. Zudem ersticken die Leute fast daran, weil dieses von alleine ihre Münder füllt. Nach einigen Wechseln der Handlung kommt es zu einem orgiastischen Finale. Lipom zeigt sich gänzlich verändert. Beschrieben wird er als »durchaus nicht mehr gutmütig« (WB, 621), Deters scheint es, als sei es »eine Seelenspur dunkler geworden im Raum« (ebd.).

Er habe noch nie »ein so böses, ein derart triumphierendes Gesicht gesehen« wie Lipoms, während dessen Augen etwas »Rauschhaftes« (WB, 625) verströmen. Lipom kommentiert das Chaos mit den Rufen »Hinein in die Natur! […] Hier ist mein Geschenk!« (ebd.). Dadurch wird der Zusammenhang hergestellt zum Prinzip Na-tur, das er darstellt im Gegensatz zur Kultur des Murnau-Prinzips. Gleichzeitig wird jedoch die Bedeutung der Szene für diese Konzeption deutlich. Deters II begründet sie gegenüber Alda andeutend aufgrund von Überlegungen zur Erzählkonstruktion (WB, 610f.). Er verweist auf das Intermezzo »Walpurgisnachttraum« inFaust, in dem Oberon vorkommt (und das hier kurz zitiert wird) und schafft dadurch die Verbindung zuFaust. Wichtiger ist jedoch, dass hier deutlich die negative Seite des

98 Zur literarischen Konstruktion der Szene vgl. unten Abschnitt 4.3.1 auf Seite 214.

99 Müller spricht von der »superimposition or contamination of different character constellations«, vgl. Müller: »Interfigurality«, 115.

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Naturprinzips dargestellt wird. Während Lipom sonst als der Verfolgte auftritt, dessen (Elben-)Volk vertrieben und ausgerottet werden soll, dessen Prinzip der Phantasie und Naturverbundenheit jedoch positiv konnotiert dem Prinzip der Moderne/Kul-tur/Logos entgegengestellt wird, wird hier die Kehrseite des Prinzips dargestellt, der Umschlag von Mythos in Barbarei. Was in Bezug auf die Logos-Position an Rascher und Hüon als Helfer des ›Dunklen‹ seine Ausprägung findet, wird hier an Lipom in Bezug auf die Naturposition durchexerziert.

Nebenbei sei noch angemerkt, dass die Faust-Figur nicht eindeutig zugeordnet werden kann. Während Deters derjenige ist, den Lipom/Mephistopheles einmal »in lustige Gesellschaft bringen« (WB, 606/Faust, V. 2158) will, sagt Murnau Fausts Satz, es sei Zeit abzufahren (vgl.WB, 627/Faust, V. 2296). Doch kommt es auf diese in der Szene auch nicht an. Zudem sind auch die Namen der schon im Wolpertinger logierenden Lehrer, die auch in dieser Szene wieder auftauchen, ausFaustentlehnt.

In ähnlicher Manier wie beispielsweise bei Gangolf ausOberonhaben sie moderne Vornamen erhalten und sind dadurch in die Zeit des Romans angepasst: aus Brander und Altmeyer werden Andreas Brander und Jochen Altmeyer, aus Siebel die Siebel-wirtin (die Wirtin der Schänke), nur Frosch ist nicht zu finden (oder aus ihm ist möglicherweise die ebenfalls anwesende Figur Ferdinand Kalb geworden).

3.5.3 ShakespearesA Midsummer Night’s Dream

Shakespeares Komödie dient in mehrfacher Hinsicht als Vorlage. Auch wenn die Figuren des Oberon und der Titania wohl eher aus WielandsOberonstammen, so ist das Stück schon dadurch von Einfluss, dass es Vorlage von Wieland war. Zudem ist das TheaterstückDie Winde(WB, 865), das auf der zweiten Ebene aufgeführt wird, vermutlich anA Midsummer Night’s Dreamangelehnt. Auch der Kellner im Andree’s Berg hat seinen Namen Wand daher, da bei der Pyramus und Thisbe-Aufführung im Stück auch eine Wand gespielt wird. Für die Figurenidentität ist es jedoch vor allem für die Figur Ortnit von Bedeutung, der von Alda explizit als eine Puck-Figuration gewünscht wird (vgl.WB, 531). Ganz nebenher bringt sie hier die Interpretation ins Spiel, das Geschehen der ersten Ebene als »eine Art Mittsommernachtstraum«

(ebd.) zu sehen. In der Tat hat es auch Züge davon, das Zusammenspiel der Elben-mit der Menschenwelt, die traumhafte Art der Halluzinationen, die Vermischung auch von hochsprachlichen (oder theoretischen) Diskursen mit derber Sprache und Handlung. Die Puck-Figur, die ihr in diesem Treiben noch fehlt, sieht sie gar nicht als Übernahme der individuellen Figur, sondern in ihrer Funktion als Führer durch das chaotische Geschehen. Deters II entwirft ihn denn auch gar nicht in Anlehnung an den Charakter von Puck, sondern auf Grundlage des Sagenkreises von Dietrich von Bern (vgl.WB, 534). Auch wenn er so als Orientierungsfigur geplant sein mag, erfüllt er diese Funktion in der allgemeinen Konstruktion nicht, da diese darauf aufbaut, dass der Leser die Orientierung verliert und immer wieder darin verunsichert wird, was für real oder fiktiv zu halten ist. Das daraus resultierende Realitätsverständnis wird im nächsten Kapitel100beschrieben und analysiert.

100 Siehe Abschnitt 4.1 ab Seite 187.

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