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Anna als Titania

Im Dokument Von Bremen in die Anderswelt (Seite 129-132)

3 Heteronome Identitäten

3.2 Mythologische Identitäten

3.2.2 Anna als Titania

Wie bereits erwähnt stellt sich Anna schließlich beim Thing als die Elfenkönigin Tita-nia heraus. Durch ihren verspäteten Auftritt wird zwar bereits ihre herausgehobene Stellung deutlich, doch erst die leise Frage von Lipom (»›Titania? […] Wir müssen doch abstimmen.‹«,WB, 831) identifiziert sie dem Leser als Titania. Als sie sich daraufhin zu einer eigenen Ansprache erhebt, bezeichnet sie sich, wie es Lipom zu Beginn seiner Rede gemacht hatte, mit etlichen ihrer Namen: »[…] Ceridwen, Rhian-non, Arianrhod, Ishtar und Cybele, Königin der Bienen und Sonne […]« (WB, 831) Ebenfalls wie Lipom wird sie mehrfach nebenbei mit anderen Namen angesprochen, beispielsweise als Brawen oder Beltis (beideWB, 733), was weitere mythologische Bezüge auf die nordische Mythologie hinzufügt.20Die Annahme, Anna sei zudem

20 Durch die genannten Namen wird sie als Muttergöttin, alsmagna mater ideaeeingeordnet, was später noch von Bedeutung ist: Bra(n)wen ist »unschwer als Muttergöttin zu erkennen, oder besser, als eine ihrer drei Erscheinungsformen«, Sylvia Botheroyd / Paul F. Botheroyd:Lexikon der keltischen Mythologie, München 1995, 47; Ceridwen ist der »Prototyp[] der großen walisischen Muttergöttin« (ebd., 55); Rhiannon ist eine walisische Göttin (ebd., 276), Arianrod eine Sagengestalt in der Nähe der dreifachen Muttergöttin (ebd., 22f.); alle diese sind keltischen Ursprungs; Ishtar

noch mit Marduks Frau, der Elfe aus dem Prolog, identisch, wird nicht wie bei Lipom über Äußerlichkeiten wie Sprache oder Aussehen hervorgerufen, sondern entsteht durch zwei Aspekte. Zum einen durch die Schlussfolgerung, dass bei der Annahme, Lipom sei mit Marduk identisch, auch seine Frau Anna/Titania mit Marduks Frau identisch sei; zum anderen durch die Verbindung von Anna bzw. vor allem Alda mit dem erwähnten, im Besitz der Elfe sich befindenden Beutel.

Soweit greifen die Prinzipien, die bereits an Lipoms Beispiel verdeutlicht wurden auch hier. Anna ist jedoch – nicht wie Lipom, eher wie Deters – noch auf einer ande-ren Ebene gespiegelt. Dabei handelt es sich um die später als Alda oder Aldona von Hüon identifizierte Frau, mit der Deters II sich auf der Ebene von 1985 unterhält. Er formt Anna in seiner Vorstellung zunehmend nach der äußeren Erscheinung seiner Reisegefährtin und macht sie mit ihrer Erlaubnis zu seiner »Romanheldin« (WB, 251).

Er will als Spiel begriffen wissen, dass er von nun an ihre Geschichte erfindet, gerade ohne etwas von ihr zu wissen; ein Spiel, auf das sie bereitwillig eingeht. Nun nennt er sie auch Anna, was vorsätzlich zur Verwirrung beiträgt (wie auch der oben behandelte Umstand, dass sie ihn Hans Deters nennt).21Zunächst wird Alda als eine scheinbar normale Frau eingeführt, bei der lediglich auffällt, dass sie sehr interessiert an Deters’

Ring ist, wird in ihren immer vertrauter und intimer werdenden Gesprächen ver-schiedene Andeutungen gemacht, dass sie entgegen anfänglicher Wahrscheinlichkeit etwas mit den Abenteuern der ersten Erzählebene zu tun hat. Der Clou an der Sache ist nun, dass Deters II sie erfindet, was zwar eigentlich nur auf der ersten Erzählebene geschehen soll, doch möglicherweise (nach der Erzähllogik, die auch anderweitig deutlich wird) auch wieder Auswirkungen auf seine eigene Ebene hat. Es ist jedoch nicht auszumachen, ob dies durch das Erfinden kommt oder ob sie eben zufällig

›wirklich‹ identisch mit Anna ist, da sich Hinweise auch schon vor der Abmachung (des Erfindens) finden. Diese Eigentümlichkeiten an Alda und weitere Hinweise wer-den jedoch zunehmend deutlich. So fallen Deters ihre Augen auf, mit wer-denen etwas nicht zu stimmen scheint (vgl.WB, 247), die paradoxerweisequittegrün(WB, 248) sind, und deren Pupillen nicht rund, sondern oval und senkrecht in der Iris zu stehen scheinen (vgl.WB, 284). Ihre Erscheinung scheint sich manchmal auch für Momente auf unschöne Weise zu verändern (vgl.WB, 339, 740). Bei Ausrufen der Verwunde-rung oder des Erstaunens ruft sie ebenso wie Anna die Göttin Hulda an (vgl.WB, 247, 533, 728 resp. 204).22Auf das Spiel mit dem Erfinden wird mehrfach vor allem von Alda wieder Bezug genommen (vgl.WB, 257, 351, 533). Beide verhalten sich im Gespräch (und im zunehmend gemeinsamen Erfinden oder Erzählen der Geschichte)

ist eine babylonische Liebesgöttin und Cybele die ursprünglich phrygische Muttergöttin und die magna mater ideaeschlechthin.

21 Im Folgenden wird diese Figur in Abgrenzung von Anna Häusler durchgängig als Alda bezeichnet, um die Orientierung zu erleichtern.

22 Für eine ›mythische‹ Identität gibt es auch Hinweise: die Erle, ein weiterer wichtiger Baum der keltischen Mythologie, heißt auf englisch ›Alder‹ und wird mit der Sagengestalt Bra(n)wen in Verbindung gebracht, womit wiederum, wie oben erwähnt, Anna gelegentlich bezeichnet wird.

Auch die Verbindung mit der Farbe grün ist durch die Erle gegeben, deren Blüten grüne Farbe lieferten. Vgl. James MacKillop:A Dictionary of Celtic Mythology, Oxford / New York 1998, 12 und 52, und Robert von Ranke-Graves:Die weiße Göttin. Sprache des Mythos[1948], übers. von Thomas Lindquist, Reinbek 1988, 195–199.

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so, als wenn Anna Alda sei, auch wenn die Annahme durch die Bezugnahmen auf das Erfinden wieder gebrochen wird. Schließlich verwechseln sie gar öfter ihre Identität über die Ebenen (WB, 305, 686), korrigieren sich gegenseitig (»›Wieso ich? Deters doch.‹«,WB, 823) oder Alda insinuiert kokettierend ihre Identität mit Anna (bspw.

WB, 703). Auch wird insinuiert, Anna erfahre – obwohl Deters es ihr verschweige – etwas, weil Deters II es Alda mitteilt (vgl.WB, 909).

Resümierend vermerkt Alda an einer Stelle, es gebe schon zwei Partnerinnen Li-poms, Anna und sie selbst. Das tut Deters ab mit dem Hinweis: »›Das ist identisch…

Wie der Dicke und sein Professor… – Prinzipien in wechselnder Gestalt. Nicht mehr und nicht weniger.‹« (WB, 659) Auf das zugrunde liegende Prinzip ist später einzu-gehen,23an dieser Stelle ist die Konstatierung einer völligen Identität zu vermerken.

Was eingangs als Spiel begonnen hatte und lediglich als ein solches gemeint war, wird schließlich als Fakt konstatiert. Zwar bezeichnet Murnau Alda einmal (als das Verhält-nis der Ebenen sich wieder einmal verkehrt und Deters von der zweiten Erzählebene berichtet) treffend als »eine poetische Symbolisierung« (WB, 798) von Anna, was wenig reale Bezüge impliziert; die erfundene Identität der beiden Frauen hat jedoch Auswirkungen. Diese zeigen sich in der Parallelführung derHieros gamos, der ange-strebten rituellen Vereinigung. Auf der ersten Ebene soll diese zwischen Anna und Deters, auf der zweiten Ebene zwischen Alda und Deters II während des simultan auf beiden Zeitebenen verlaufenen Festes geschehen. DieHieros gamossind ein aus dem alten Orient stammender ritueller Brauch, die symbolische Vereinigung von menschlichem Priester und weiblicher Gottheit. Dies wird aber – wie viele andere Hinweise auch – kaum im Buch selbst erläutert. Der Ritus soll hier eine Verbindung zwischen den Menschen und den Geisterwesen oder Elben, eine Art Pakt zwischen ihnen schaffen, der ihr Verhältnis neu konstituiert.24

3.2.3 Zusammenfassung

Wie am Beispiel von Lipom und Anna gesehen werden kann, und was auch für Murnau gilt, der im nächsten Kapitel näher beschrieben wird, sind die Figuren, die Geisterwesen oder Elben sind, von mythischen Vorbildern aus verschiedenen nor-dischen Mythologien bestimmt. Dabei wird der Bezug zu den Vorbildern vor allem durch die explizite Bezeichnung mit entsprechenden Namen hergestellt. Insofern sind sie keine individuellen Gestalten desWolpertinger-Kosmos, sondern durch Bezüge auf Mythen vorgebildet. Auf der anderen Seite sind vor allem ihre äußerliche Beschrei-bung sowie ihr Verhalten und ihre Meinungen in den Gesprächen nicht durch die mythischen Vorbilder bestimmt, sondern die individuelle Ausgestaltung originärer Figuren. Es wird auf eigentümliche Weise kein Unterschied gemacht zwischen dieser individuellen humanoiden Fassade als Mitgliedern der ATG, für deren Aufrecht-erhaltung auch keine Begründung geliefert wird, und ihren eigentlichen Identitäten als Elben. Außerdem werden die Ausprägungen ihrer Vorbilder in den verschiede-nen, wenn auch verwandten Mythologien, die sich jedoch wiederum lediglich in

23 Siehe Abschnitt 3.3 auf Seite 132.

24 Vgl. dazu genauer Abschnitt 3.3.2 auf Seite 156.

unterschiedlichen Namensgebungen ausdrücken, nebeneinandergestellt, als wären sie gänzlich kongruent.

Schließlich werden weitere Figuren auf anderen Ebenen eingeführt, mit denen ebenfalls eine Identität insinuiert oder gar spielerisch angenommen wird. Der Charak-ter dieser nahegelegten Annahmen ist ein spielerischer, da er sich auf kleine Hinweise stützt und nicht gänzlich aufgelöst bzw. bewiesen werden kann. Am deutlichsten kann man am Verhältnis der Figuren Anna und Alda sehen, dass sie als beides gedacht werden, als identisch wie als nicht identisch. Einerseits werden beide Figuren paralle-lisiert, sind Symbolfiguren, eine Identität wird nicht nur spielerisch angenommen, sondern auch stark insinuiert durch Hinweise, die aber widersprüchlich sind. Sie scheinen einer Überlegung zu unterliegen, die Alda gegenüber Deters II anstellt, als sie über die Konstruktion der Erzählebenen nachdenken. Dort sagt sie über eine potenzielle dritte Ebene: »›Es wäre allerdings […] ein bißchen öd’, alles einfach hoch-zukopieren. Das sollte dann schon anders sein.‹« (WB, 786) Eben dieses trifft schon auf ihr Verhältnis zu Anna und der ersten Ebene zu. Sie sind gespiegelt, werden paral-lel erzählt, verhalten sich ähnlich, sind jedoch auch wieder zu unterscheiden. Cordes fasst die dieser Beobachtung zugrunde liegende Überlegung im Gespräch wiederum mit Deters II zusammen: »›Jedes Ding ist nämlich in Wahrheit mehrere Dinge auf einmal. Aber wir betrachten und schneiden die Dinge zurecht nach jeweils nur einer Funktionsweise.‹« (WB, 718) Damit ist eine Auffassung von Identität benannt, die in kulturwissenschaftlichen Untersuchungen mythischen Denkens als ein Kennzeichen mythischer Identität beschrieben wird. Als Veranschaulichung dient in diesem Kon-text die Beschreibung mythischer Rituale.25Nach moderner Auffassung könnte man sagen, dass dort der Tänzer oder Priester, der beispielsweise die Maske einer Gottheit trägt, diese Gottheit im Ritual symbolisiert. Nach mythischer Denkweise ist er aber nicht nur Symbol, sondern eristdie Gottheit. Das Ritual ist eine konkrete Wieder-holung der mythischen Handlung. Der Tänzer oder Priester ist damit gleichzeitig er selbst und auch die Gottheit, eine Vorstellung, die dem modernen Menschen wohl kaum begreifbar ist. Für diesen gilt der Satz vom Widerspruch, der eine Aussage und ihr Gegenteil nicht gleichzeitig zulässt, bzw. der Satz vom ausgeschlossenen Dritten (tertium non datur, Ein Drittes ist nicht gegeben). Der Tänzer kann nicht gleichzeitig er selbst und nicht er selbst, also etwas Drittes, eben die Gottheit sein. Auf den Satz vom ausgeschlossenen Dritten wird inWBimmer wieder angespielt. Ihn haben laut Deters II »die Sìdhe erfolgreich bis weit ins dreizehnte Jahrhundert hinein [attackiert]«

(WB, 655) und eben dies soll durchWBwiederaufgenommen werden. Diese Zusam-menhänge führen zu einer Mythenverwendung, die im folgenden Abschnitt genauer betrachtet wird.

Im Dokument Von Bremen in die Anderswelt (Seite 129-132)