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Hans Deters’ Vorgeschichte – Bezüge auf VG

Im Dokument Von Bremen in die Anderswelt (Seite 170-176)

3.3 ›Prinzipien in wechselnder Gestalt‹

3.6 Das Deters-Netzwerk

3.6.1 Hans Deters’ Vorgeschichte – Bezüge auf VG

Nach dem Prolog ist Hans Deters die zweite Figur, die im erzählerischen Fokus steht, und rasch als eine der Hauptfiguren des Romans erkennbar wird. Der Einstieg erfolgt medias in resund die Figur wird als »Deters« bzw. kurz darauf als »Hans Deters« (WB, 37) bezeichnet. Der Name kann dem Leser nicht bekannt sein, weder auf den wenigen vorhergehenden Seiten noch in vorher publizierten Werken von Herbst kommt er vor.101 Verschiedene Hinweise legen jedoch schnell einen Anschluss anVG nahe.

Während der gefälschte Pass, den er betrachtet, und auch die Notwendigkeit, eine dazu passende Familie zu erfinden, oder die Bezeichnung »Flucht« (WB, 38) für seine Abreise noch keinen zwingenden Bezug darstellen müssen, auch wenn sie eindeutig ausVGstammende Motive sind, so verdichten weitere Details den zunehmenden Verdacht einer Verbindung der beiden Romane: Bremen als Ort der Passausstellung sowie der Name »A. Schulze« als Name des vermeintlichen Beamten; gleich darauf folgt die Nennung von Frau Großwald und ihrem Sohn Robert, der inVGmehrfach, jedoch völlig nebenbei erwähnt wird, sowie die Benennung einer Mitreisenden als Anna. Eindeutig gemacht und schließlich sogar thematisiert wird der Bezug durch die Erinnerung an das Pappbehältnis (inVGder »Pappkarton«) als Sammelort und Aufbewahrung seiner »früheren Aufzeichnungen« (WB, 40), das er zurückgelassen hat und damit sich selbst. Diese Motive stehen inVGan zentraler Stelle. Es sind deutliche Hinweise darauf, dass Deters identisch ist mit dem ›Autor‹-Erzähler aus VG, der derjenige der drei Hauptfiguren war, der am Ende den Pass erbeutet hatte und mit dem Zug abgereist war.

Die Übernahmen aus bzw. Korrespondenzen zuVGsind vielfältig und zu zahlreich, um einzeln aufgeführt zu werden. Sie beziehen sich auf Figuren, Motive oder moti-visch aufgeladene einzelne Wörter oder Phrasen (wie ›Flucht‹ oder ›Kontakt haben‹).

Figuren werden auf unterschiedliche Weisen übernommen. Einige Nebenfiguren wie Robert Großwald, Günther Carstens oder Großvater Branske, die inVG nur erwähnt werden, werden auch inWBlediglich namentlich genannt. Die wenig Kontur

101 Dies versteht sich bei Herbst nicht von selbst. Deters ist weiterhin auch eine Figur der Anders-welt-Trilogie und die Figur Arndt kommt beispielsweise auch inEine sizilische Reise, inDer Arndt-Komplexsowie in weiteren kleineren Texten vor.

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erhaltene Nebenfigur Hansen ausVGbleibt Nebenfigur inWB, wird hier aber der neuen Figur Oberst Baumwolle zugeordnet. Bruno Pomposiewitz wird als Bruder von Leonore Pomposiewitz und Kamerad von Christoph Sämann genannt, die hier neu eingeführte Figuren sind; außerdem ist er die Hauptfigur des Ersten Blumenstücks.

Karl Polst hingegen, der inVGnur beiläufig erwähnt ist, wird zur aktiven Nebenfigur.

Entgegengesetzt sind sich die Fälle der weiblichen Hauptfiguren. Agnes ist inVG eine aktive Figur, die inWBnur noch als Name auftaucht, aber für Deters und den

›Autor‹ weiterhin eine wichtige Rolle spielt; die verschiedenen Anna-Figuren, auf die inVGlediglich vorausgedeutet wurde, werden inWBzu Protagonisten. Motive, die übernommen werden, sind Anspielungen auf Vampire, auf die Belastung durch die Nazi-Vergangenheit der Eltern, die Leopardenfrau der Zugfahrt und natürlich das strukturelle Grundmotiv der verschachtelten Erzählung, der Erfindung einer Figur durch eine andere.

Es stellt sich also die Frage, ob es sich beiWBum eine direkte Fortsetzung vonVG handelt.WBist keineswegs als eine solche explizit annonciert, der Vorgängerroman wird weder im Text noch in den Paratexten erwähnt.102Im Text selbst wird diese Frage zunächst eher verwirrend, denn klärend thematisiert. Es könne »nicht einge-standen werden […], sie [die früheren Aufzeichnungen] seien den jetzigen in einem Sinne vorhergegangen, der diese zu deren Fortsetzung macht« (WB, 40). Sowohl die Verwendung des Verbs »eingestehen«, die nichts über die Faktizität dessen, was eingestanden wird, aussagt, als auch der relativierenden Wendung »in einem Sinne«

tragen dazu bei, die Frage, ob es sich um eine Fortsetzung handelt, in der Schwebe zu halten. Zwar wird sie verneint, doch gleichzeitig relativiert und überhaupt angespro-chen und damit aufgeworfen. Möglicherweise ist diese Formulierung eine Lossagung davon, eine konsequente Fortsetzung ohne einen Bruch oder Änderungen in der Darstellungsweise zu schreiben. In der Tat ist dies auch nicht der Fall. Das Personal ist größtenteils ein anderes, Handlung und Erzählweise unterscheiden sich deutlich und auch die Thematik, um einmal provisorisch von ›einer‹ solchen zu sprechen, ist eine andere.

Ein Blick auf andere »autographic sequels«103– ein von Wolfgang G. Müller ein-geführter Begriff für Fortsetzungen, die vom Autor des früheren Textes geschrieben wurden – dient der genaueren Charakterisierung des vorliegenden Falls. Müller führt einige Beispiele aus der Weltliteratur auf und unterscheidet zwischen solchen, die den ökonomischen Erfolg eines Buches ausnutzen (wie bei DefoesThe Further Adventures of Robinson Crusoeoder Samuel RichardsonsPamela, Part II) und veritablen zweiten Teilen wie von Cervantes’Don Quixoteoder GoethesFaustoder seinemWilhelm Meister. Weitere Beispiele sindSherlock Holmesund andere Reihen oder häufig Trilo-gien um einen Protagonisten bis zu ungewöhnlicheren Beispielen wie James Joyces Portrait of the Artist as a Young ManundUlysses, in denen Stephen Dedalus von der Hauptfigur zu einer Nebenfigur wird, oder John Barths RomanLetters(1979). Barth

102 VGundWBkönnen in gewisser Hinsicht zusammen mit derAnderswelt-Trilogie als eine Pentalogie gesehen werden; jedoch ist nur letztere explizit als eine Reihe ausgezeichnet.

103 Müller: »Interfigurality«, 110. Als »allographic sequels« bezeichnet er dagegen von anderen Autoren geschriebene Fortsetzungen.

bezeichnet seinen Roman explizit als eine Fortsetzung, verwendet jedoch Figuren aus verschiedenen seiner früheren Bücher (und fragt sie zudem noch um Erlaubnis).

Der gängige Modus der Interfiguralität in ›autographic sequels‹ ist der der Wieder-verwendung einer bereits bekannten Figur. Dabei ist es selbst in den zuletzt genannten etwas ungewöhnlicheren Beispielen üblich anzunehmen, »that figures from an earlier work by an author that reappear in a later work by the same author are identical«104. Obwohl der Anschluss an die Details der Herkunft und erst kürzlich vergangenen Erlebnisse von Deters sowie an diverse Motive eindeutig scheint, gilt eine solche Annahme nicht fürWB. Die üblichen Mechanismen werden unterwandert. Das markanteste Zeichen für die Übernahme einer Figur ist die Wiederverwendung des Namens. Der Name Deters ist wie gesagt ausVGnicht bekannt, was die Schwierig-keiten deutlich macht, ihn überhaupt als Folgefigur der verschiedenen miteinander zusammenhängenden Figurenidentitäten zu erkennen. Scherer verweist in diesem Zusammenhang auf eine Stelle am Schluss vonVG, wo gesagt wird, es werde »ein anderer sein, ein ganz anderer« (VG, 325). Er leitet über zuWB, indem er sagt: »Hans Erich Deters heißt dieser andere […].«105Scherer insinuiert damit und im Folgen-den zwar eine IFolgen-dentität zwischen Deters und Folgen-denVG-Figuren, doch wird auch noch einmal die Aufmerksamkeit darauf gelenkt, dass es sich eben doch um einen anderen handelt, zumal die zitierte Stelle aus einer Passage des ›Autor‹-Erzählers stammt.

Selbst wenn man jedoch annimmt, Deters sei von der Person her vollständig iden-tisch mit dem ›Autor‹-Erzähler, so wird er durch den neuen Kontext und die anders geartete ästhetische Konstruktion des Folgetextes zu einer neuen Figur. Dies kann in Ansätzen mit Müllers Beispiel von Odysseus verglichen werden. Dieser sei in der Odysseederselbe wie in derIlias, »but within theOdysseyas an aesthetic construction he is a new figure«; der Fokus liege nun auf ihm als Protagonisten, zudem sei er nicht mehr ein Krieger unter vielen, sondern habe eine andere narrative Funktion, die des zentralen Helden einer Abfolge von Abenteuern, »which prefigures the genre of the novel […] or, rather, romance«106. Was jedoch dort eine analytische Erkenntnis ist, die für das unmittelbare Verständnis nicht vonnöten ist, hat bei Herbst einen zentralen Stellenwert. So wie der Roman als Ganzes eine Fortsetzung vonVGund gleichzeitig eben keine ist, so ist auch Deters gleichzeitig identisch und nicht identisch mit den in sich schon lediglich mehr oder weniger identischenVG-Figuren. Wieder einmal ist dies ein Beispiel für den Versuch, das ›Andere‹ darzustellen, das ›Dritte‹ aus dem

›Satz vom ausgeschlossenen Dritten‹. Jürgensen weist daher berechtigterweise darauf hin, dass die Figuren »der Poetik von Herbst entsprechend […] nicht identisch mit ihren Vorgängern« seien, sondern ihnen lediglich ähnelten: »Markant zeigt sich dies beispielsweise an dem intertextuellen Witz, dass zwar in beiden Texten die Annonce von ›Anna der Nutte‹ (VG, 210;WB, 60) eingeblendet wird, sich auf den Karten aber unterschiedliche Telefonnummern finden.«107

104 Müller: »Interfigurality«, 112.

105 Scherer: »Die Metamorphosen des Wolpertingers«, 178.

106 Müller: »Interfigurality«, 113.

107 Jürgensen: »Ich sind auch andere«, 154. Auch Moosbach betont dies: »Die neu entstehende, sich selber erfindende Erfindung namens Deters ist nämlich keine richtige Synthese, keine Verbindung, Vereinigung oder Vermischung zwischen Laupeysser [sic!] und Falbin, die beiden bleiben ja auf

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Die Annahme eines identitären Zusammenhangs zwischen Hans Deters und dem

›Autor‹-Erzähler bzw. demjenigen, der am Ende von VGschließlich im Zug sitzt, wird im weiteren Verlauf dann durch seine Äußerungen bezüglich der Ereignisse bestärkt, die seiner Ankunft in Münden unmittelbar vorausgegangen sind. Diese werden zunächst vor allem in kleinen Wortwechseln mit Anna angesprochen und re-konstruiert. Dabei werden verschiedene Versionen präsentiert, die sich dahingehend unterscheiden, wann und wo Deters Anna erstmals gesehen hat und vor allem werden zeitliche Differenzen in der Wahrnehmung seiner Ankunft deutlich. Im Gespräch mit Anna und Bertrecht unmittelbar nach der Ankunft gibt Deters zu, Anna sei ihm bereits in Bremen aufgefallen und er sei ihretwegen ebenfalls umgestiegen. Das ge-nannte Datum seiner Abreise, »Sonntag, 23. 8. 81« (WB, 133), schließt dabei an die in VGaus diversen Angaben rekonstruierbare Chronologie an.108Anna und Bertrecht weisen ihn jedoch darauf hin, dass bereits Montag ist, eine zeitliche Verschiebung, die sich Deters nicht erklären kann und die den ersten Hinweis auf die folgenden zeitlichen Verwirrungen darstellt. Die von Deters angedeutete Vorgeschichte lässt jedoch wieder keine eindeutige Identifizierung zu, verweist jedoch vor allem auf die Identitätsproblematik inVG. Wird er durch die Zugfahrt als identisch mit dem

›Autor‹-Erzähler dargestellt, wird er durch weitere Details sowohl Falbin als auch Lau-peyßer zugeordnet: Falbin zugehörig ist die Berufsangabe als »Bürokaufmann, beim Autohaus Schmidt« (WB, 134), sowie der zwanghafte Gang zum Bahnhof (WB, 137);

mit Laupeyßer verbunden ist die Erinnerung daran, sich auf der Straße vor seinem Haus wiedergefunden zu haben, ohne sich zu erinnern, wie er dort hingekommen war, Andeutungen der Verwandlung in einen Vampir (WB, 134f.) sowie der Pappkarton (WB, 137).109Die synthetisierte Identität und gemeinsamen Erinnerungen der drei VG-Figuren wird dadurch noch einmal bestätigt.110

Die längste Bezugnahme auf dieVG-Vorgeschichte findet sich im 2. Kapitel des 3. Septors (WB, 407–416). Dort besucht Deters Anna auf ihrem Zimmer aufgrund des nicht weiter kommentierten Bedürfnisses, jemandem den Grund seiner Abfahrt zu erzählen. Was folgt ist eine zusammenfassende Nacherzählung der Ereignisse aus VG. Diese beginnt jedoch viel früher als dort, nämlich bereits in Deters’ Kindheit und schildert auch Erfahrungen aus der Zivildienstzeit. Der Großteil der Erzählung weckt den Eindruck einer realistischen bzw. auf realistische Ereignisse zurückgeführten Nacherzählung des inVGmetafiktional bis phantastisch geschilderten Geschehens.

Alltägliche Erfahrungen verbinden sich mit dem Nachdenken über Fragen des Leids und der inhärenten Aggressivität des Menschen; die nicht gelebte Liebe zu Agnes

dem Bahnsteig zurück. sie verbleiben inDie Verwirrung des Gemüts, wohingegen Deters sich per Zug in denWolpertingeraufmacht.« (Moosbach: »Das Ribbentrop-Rhizom«, 39).

108 Vgl.VG, 47 und 107. Dort ist dieses Datum als Tag des Verschwindens von Falbin angegeben.

109 Im Folgenden wird Deters außerdem ausschließlich mit Agnes in Verbindung gebracht, nicht aber mit B., die inWBnicht einmal erwähnt wird. Die Verbindung von ›Autor‹-Erzähler und Agnes wird zwar auch inVGschon angedeutet, eigentlich ist sie jedoch eher mit Laupeyßer verbunden.

110 Die Verbindung zwischen den verschiedenen Deters-Instanzen kann mit Wolfgang G. Müller als intratextuelle Interfiguralität gesehen werden. Diese sieht er als eine Sonderform von Interfiguralität, die die Verbindung von Figuren innerhalb eines literarischen Textes bezeichnet. Sie beruht auf der

»intersection or interpenetration of different fictional contexts« (Müller: »Interfigurality«, 118) und ist daher in metafiktional geprägten Texten zu finden.

scheint einen Ausweg zu bieten, der sich aber nicht erfüllt. Selbst das eben erwähnte Aufwachen auf der Straße wird als ein (wenn auch unerklärlicher) Aussetzer geschil-dert, ansonsten wird die inVGphantastisch übertrieben wirkende Wandlung Lau-peyßers in nüchternen realistischen Worten geschildert. Die dort zentrale Geschichte der erfundenen Figur (Falbin), die er Agnes schildert, werden als Ablenkungsversuch von der Liebe zu ihr eingeordnet. Erst bei der Schilderung eines Selbstmordversuchs scheint die Erzählung ins Phantastische zu kippen. Dabei handelt es sich jedoch nicht um den inVGgeschilderten Selbstmordversuch mit dem Auto, sondern um einen Sprung aus dem Fenster. Deters kommt jedoch nicht unten an, sondern landet auf dem Fensterbrett von Agnes in einem entfernten Ortsteil, wo er sie mit einem anderen Mann beobachtet. Er lässt sich wieder fallen und kommt nochmals auf der Straße zu sich. Dies wird jedoch nicht als ein phantastisches Ereignis dargestellt, sondern von ihm als »Halluzinationen« (WB, 416) bezeichnet, was die Phantastik als ein

›Antäuschen‹ erkennbar macht und die überraschend realistische Sichtweise noch unterstreicht. Am selben Tag erfolgte dann die Abreise und die erste Begegnung mit Anna, was den Anschluss anWBherstellt. Auffällig ist die Schilderung der Ereig-nisse in einem Tonfall, der sie durch Tempusverwendung und raffende Erzählweise wie weit in die Vergangenheit zurückreichend erscheinen lässt, obwohl sie sich ei-gentlich erst in den vorangegangenen Wochen ereignet haben. Dies zeigt einmal die Distanz, die in der Fortsetzungsfrage zum vorhergegangenen Buch aufgebaut wird, und kann außerdem der durcheinander geratenden Zeit zugeschrieben werden, der Herausgehobenheit der folgenden phantastischen Ereignisse aus der Zeit.

Der figürliche Anschluss von Deters anVGist also als deutlich festzustellen. Die dort geschilderten Ereignisse bilden im beschriebenen besonderen Verhältnis die Vorgeschichte zuWB. Dass Deters’ Erzählungen und Erinnerungen sich auf Erleb-nisse des ›Autor‹-Erzählers ebenso wie von Laupeyßer und Falbin – und damit auf unterschiedliche fiktionale Ebenen – beziehen, wird inWBnicht noch einmal the-matisiert.111Wenn man die Identität der Figuren inVGeinmal unter dem Aspekt einer Unterscheidung von Darstellung und realistischer Grundierung betrachtet,112 ergibt sich folgendes Bild: die Darstellung ist extrem verschachtelt und zeichnet die Erlebnisse mehrerer Figuren nach; der realistischen Grundlage nach sind dies aber lediglich die Ereignisse einer Person. Die Andeutungen inWBstützen eine solche In-terpretation, wobei eben diese eine Person Deters wäre. In der an die beiden Romane anschließendenAnderswelt-Trilogie sieht Deters den Sachverhalt erstaunlicherweise viel einfacher, bestätigt die Überlegungen aber auch. Mit einem Perspektivenwechsel mitten im Satz heißt es dort: »[D]er Pappkarton, in den ich diese Aufzeichnungen stopfte, bevor sich Laupeyßer im Bahnhofsklo mit Claus Falbin zu Hans Deters ver-einte.« (BA, 77)

111 Lediglich an einer Stelle werden die beiden zusammen noch einmal erwähnt, wobei festgestellt wird, Deters habe keine Ähnlichkeit mehr mit ihnen (vgl.WB, 563). Außerdem fällt der Name Falbin noch zweimal, da Ferdinand Kalb Deters an Falbin erinnert (vgl.WB, 219 u. 456).

112 In Anlehnung an die Unterscheidung von Darstellung und Handlung in der Narratologie.

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Bei der Betrachtung der Übernahme der beschriebenen Motive ausVGstellt sich die Frage, ob ein Wissen um das vorhergehende Buch für ein Verständnis vonWB notwendig ist. Dass die Erläuterung der Motive relativ spärlich ist und eher in Andeu-tungen geschieht und zudem nicht ausgeweitet wird, spricht für einen vorausgesetzten Anschluss. Angesichts der Konstruktion des Romans als Spiel oder Rätsel, bei dem auch bei anderen Aspekten das Wissen oder Unwissen sowie die Aufmerksamkeit und der Leseaufwand des Lesers eine Rolle spielt, kann eine solche Voraussetzung auch wieder infrage gestellt werden und als eine zusätzliche Lesart oder als weiteres mögliches Niveau im Verständnis des Lesers begriffen werden (vgl. dazu unten Ab-schnitt 4.3.2 auf Seite 221). Im Anschluss anVGkann Deters’ Erfinden seiner eigenen Lebensgeschichte und seiner engeren Verwandtschaft als Versuch gesehen werden, eine autonome Identität auszubilden. Eine ›Begründung‹ für dieses Vorhaben durch die Last eines unfreiwillig geerbten nationalsozialistisch belegten Namens fällt hier jedoch weg. Die Thematik der Nachkommenschaft zu nationalsozialistischen Tätern wird in den Seitenstrang der Vorgeschichte des Freiherrn Hüon verlegt und taucht auch in den ATG-Diskussionen auf; sie ist jedoch nicht mehr auf Deters bezogen (auch der gesamte Diskurs ausVGum die Fähigkeit zum Entsetzen fällt weg). Insofern fehlen hier Informationen, was aber auch bedeutet, dass die betroffenen Diskurse in den Hintergrund treten. Entweder kann Deters’ Entscheidung für den Identitäts-wechsel also durch Vorwissen erklärt werden oder aber als kontextlos hingenommen werden. Eine dritte Möglichkeit ist die Annahme eines anderen Kontexts, nämlich die Betonung der Möglichkeit, sich überhaupt eine neue Identität zu imaginieren (aus welchen Gründen auch immer). Dieses Imaginieren und Phantasieren konstituieren schließlich das metafiktionale Spiel, dasWBausmacht.

Interessant ist auch die andere Blickrichtung, vom späteren auf den früheren Roman.

Einige Motive inVG, die, wie oben dargestellt, dort einen mysteriösen Charakter ha-ben und meines Erachtens nur sehr begrenzt innerhalb einer stimmigen Interpretation erklärt werden können, werden im Folgeroman erläutert oder wiederaufgenommen und bekommen so eine Erklärungsgrundlage. Dabei handelt es sich vor allem um die dubiose Frankfurt-Fahrt, bei der nicht klar ist, ob sie stattgefunden hat, was die Anna-Figur für eine Rolle spielt und was es mit der Leoparden- oder Spinnenfrau auf sich hat. An diesen Handlungsstrang knüpftWBan und ermöglicht teils mythologisch grundierte Erklärungen (die weiter oben ausgeführt wurden). Es erfolgt also nicht nur eine Wiederaufnahme, sondern auch eine rückwärtige Erklärung von Motiven. Eine solche Leserlenkung erfolgt auch in der partiellen Bestätigung von bereits ausVG erhobenen Hypothesen. Die angedeutete Verwandlung Laupeyßers in einen Vampir wird – auf Deters bezogen – inWBdirekt angesprochen. Auch wenn sie hier ebenso-wenig ›vollzogen‹ wird, so wird das Motiv doch in einem größeren Zusammenhang bestätigt. In ähnlicher Weise wird, wie eben bereits angesprochen, eine schon inVG mutmaßliche Identität von Laupeyßer, Falbin und dem ›Autor‹-Erzähler durch die Zusammenführung ihrer Erfahrungen und Handlungen in der Folgefigur Deters be-stätigt oder nahegelegt und unterstützt. Es ist jedoch wiederum nicht nur Deters, der als Folgefigur zu sehen ist. Denn auch Deters II, der ›Autor‹ der zweiten Erzählebene, berichtet Alda vom Irregehen zum Bahnhof (was inVGFalbin zuzuordnen ist), von der ›Kloszene‹ mit dem Kampf um den Pass und der darauf erfolgten Abreise aus

Bremen, sowie dass er 1983 in Frankfurt am Main begonnen habe, die Geschichte des Passes zu schreiben (vgl.WB, 303f.). Dadurch wird zwar die eben konstatierte Identität von Deters und dem ›Autor‹-Erzähler ausVGnicht infrage gestellt, allerdings

Bremen, sowie dass er 1983 in Frankfurt am Main begonnen habe, die Geschichte des Passes zu schreiben (vgl.WB, 303f.). Dadurch wird zwar die eben konstatierte Identität von Deters und dem ›Autor‹-Erzähler ausVGnicht infrage gestellt, allerdings

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