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Dr. Elberich Lipom

Im Dokument Von Bremen in die Anderswelt (Seite 125-129)

3 Heteronome Identitäten

3.2 Mythologische Identitäten

3.2.1 Dr. Elberich Lipom

Das zentrale Beispiel für die mythologisch geprägten Identitäten ist die Figur Dr. Li-pom. Zunächst ist er der stark übergewichtige, Gedichte vor allem von Gottfried Benn deklamierende Arzt Dr. Elberich Lipom, den Deters auf der Zugfahrt nach Hanno-versch Münden kennenlernt und der sich dort als ein Mitglied der ATG herausstellt.

Gleichzeitig ist er jedoch der Elbenfürst Alberich, der nicht nur der eigentliche Wort-führer der ATG ist, sondern später auch dem Thing der Geister vorsteht, zu dem Hunderte von Elben, Geistern und Phantasiewesen zusammengekommen sind. Die Lipom-Identität ist als eine Fassade zu sehen, eine Maskerade wie der dazugehörige Körper.10Als vermeintlicher Mensch Lipom hat er keinerlei Funktion, die

entspre-8 Faure: »›Jetzt hab ich Metall im Mund‹«, 13.

9 URL-8, 23. Mai 2009.

10 Vgl. dazuWB, 94: »›In Wahrheit bin ich nämlich gar nicht fett‹ […] ›Denn es ist doch so, daß ich nicht mein Körper bin.‹«

chende Vorgeschichte und der aktuelle Stand wie die frühere Assistenzzeit bei Benn sowie die jetzige Rente werden weder bestätigt noch spielen sie eine weitere Rolle. Be-deutung hat ausschließlich die Identität als Alberich, selbst wenn auch diese dadurch relativiert wird, dass er entweder eine von Daniello programmierte virtuelle Gestalt oder aber das Phantasieprodukt von Deters II (oder dem ersten Deters) ist. In beiden Fällen bleibt die Elbenidentität in der jeweiligen entworfenen Welt als Hauptidentität bestehen.

Entscheidend für die Erzählkonstruktion ist die verzögerte Identifizierung der Figur.11Zunächst wird er zwar als Dr. Lipom identifiziert, da dies aber nicht seine eigentliche Identität ist, ist die Identifizierung als Alberich verzögert. Seine explizite Benennung als solcher erfolgt erst im letzten Drittel des Romans. Erst durch seine ausführliche Eigenvorstellung zu Beginn des Things gibt Lipom/Alberich seine wahre Identität preis. Davor gibt es zwar viele Hinweise, die auf diese Identifizierung hindeu-ten bzw. eine solche wahrscheinlich machen, doch können sich weder Deters noch mit ihm der Leser wirklich sicher sein. Dabei hat der Leser jedoch zumindest die Möglichkeit, verschiedenen Hinweisen nachzugehen, die Deters zu übersehen oder aber nicht zu verstehen scheint. Der Vorgang der Identifizierung soll im Folgenden genauer dargestellt werden.

Als sich Lipom Deters im Zug mit seinem vollen Namen als »Lipom, Dr. Elberich Lipom« (WB, 92) vorstellt, ist der Verweis auf die mythische Figur Alberich noch keineswegs eindeutig. Erst seine wenig später folgenden eigenen Hinweise auf seine Tarnkappe, die mit seinem Vornamen zusammenhänge, ermöglichen dem Leser, den Bezug zur Nibelungensage herzustellen. Durch den Vornamen Elberich ist schon die Zugehörigkeit zum Volk der Elben bzw. Elfen angedeutet, zusätzlich wird jedoch auch der Bezug zur Sagengestalt Alberich aufgespannt. Dieser ist in mehreren europäischen Mythologien unter verschiedenen Namen bekannt. In der Form Alberich kommt er imNibelungenliedund in der Folge dann auch in Richard WagnersDer Ring der Nibelungen12als Zwergenkönig vor, der im Besitz einer Tarnkappe bzw. -mantels ist und den Nibelungenhort bewacht. Außerdem findet er sich in der Sage von Ortnit, die in das Wolfdietrich-Epos aus dem 13. Jahrhundert eingebettet ist. In der französischen Form Auberon findet er sich inHuon de Bordeaux, einer altfranzösischenChanson de gesteaus dem 13. Jahrhundert, die dem Sagenkreis um Karl den Großen angehört.13 Sowohl das Ortnit-Epos als auchHuon de Bordeaux haben weiteren Figuren die Namen geliehen. In der englischen Form Oberon ist er schließlich in der KomödieA Midsummer Night’s Dream(1595/96) von Shakespeare zu finden und in der Folge in Christoph Martin Wielands VerseposOberon(1780).

11 Vgl. zu dem Begriff Jannidis:Figur und Person, 147ff. Später kann zusätzlich noch von einer gestörten Identifizierung gesprochen werden.

12 Aus diesem, genauer gesagt ausSiegfried(2,3), wird bereits auf der ersten Seite des Prologs und später in mehreren Wiederholungen zitiert. Das Zitat (»Lustig im Leid […].«,WB, 17) ist jedoch unmarkiert.

13 Vgl. dazu Michael Heintze: »Huon de Bordeaux«, in: Rolf Wilhelm Brednich u. a. (Hg.): Enzyklo-pädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung, Bd. 6, Berlin / New York 1990, 1400–1407.

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Im Laufe der Gespräche der ATG wird Lipom ganz nebenbei und unerläutert vor allem von Murnau mit verschiedenen Namen angeredet oder mit Bezeichnungen versehen. So wird er als »Andwari« (WB, 169, 173, 197, 627), der als Zwerg imVöluspà aus derLiedereddadem Alberich der Nibelungensage entspricht, »Herr Twer« (WB, 173, 733) oder »Gerdsohn (Wyllt)« (WB, 662, 679, 698, 884) bezeichnet, die auf Deters’ Nachfrage als »Spitznamen« (WB, 173) abgetan werden. Außerdem wird er mehrfach ein »Sìdhe« genannt, der Name für die keltischen Elfen. Er selbst sagt Deters gegenüber, er sei eine Zeit lang bei ihnen zu Besuch gewesen (vgl.WB, 318), ohne jedoch zu erklären, um wen es sich dabei handelt; später bemerkt Ortnit nebenbei, Lipom sei von diesen adoptiert worden (vgl.WB, 708). Deters erschließt sich über diese Anspielungen die eigentliche Identität Lipoms jedoch keineswegs, da ihm die Begriffe nichts sagen und er im Gegensatz zum vielleicht ebenfalls unwissenden Leser keine Möglichkeit hat, sie nachzuschlagen. Ihm können sie lediglich ein weiterer Hinweis darauf sein, dass Lipom und die anderen keine normalen Menschen sind, der Leser kann so bereits zusätzlich zu den zuvor beschriebenen Deduktionen erfahren, dass weitere mythologische Namen auf die Figur Lipom bezogen werden.

Bei seiner eigenen Vorstellung zu Beginn des Things expliziert Lipom seine eigene Benennung, indem er die verschiedenen Formen des mythischen Namens Alberich als seine Namen nennt. Er sei der Elbenfürst »Alberich von Niflheim, genannt Auberon de Foix und Oberon von den Düften« (WB, 803). Klar wird beim Thing dann auch, dass Anna seine Gattin, die Elfenkönigin Titania, ist. Außerdem fügt Lipom noch Myrddin Wyllt und Anfortas an, die aus der keltischen Mythologie bzw. der Gralssage stammen, sowie diverse Bezeichnungen durch Titel oder Eigenschaften. Die Bezeichnung mit Namen sind denn auch im gesamten Text der deutlichste und auch wesentliche Hinweis auf die mythischen Vorlagen. Auch wenn die Namensnennung eins der

»[b]esonders geläufige[n] Verfahren zur Identifizierung«14einer Figur ist, ist jedoch auffällig, dass die Verbindung zu den Mythologien fast ausschließlich über die Namen hergestellt wird. Die Strukturen und Handlungen spielen bei der Identifizierung der mythischen Figur eine untergeordnete Rolle, da beispielsweise die eigentliche Handlung um Oberon und Titania nur angedeutet wird und damit einen geringen Platz im Roman einnimmt.

Diese Zusammensetzung von Lipoms Identität aus verschiedenen Mythologien bedeutet dabei eine Uneindeutigkeit, eine Aufsplitterung, die sich gleich auch in der benannten Herkunft fortsetzt. Was Lipom in einem Gespräch mit Deters schon früher angedeutet hat, als dessen Verdacht allzu stark geworden ist, dass es sich bei der ATG nicht um Menschen handelt – er sei »wenigstens dreimal gezeugt, aber nur zweimal geboren« (WB, 645) –, führt er nun genauer aus: er sei »Erstgeborener des Thor von Asgard und der Frouwe Gerd […]« sowie »Zweitgeborener des Gaius Julius Caesar von Rom und der Morgana, Frouwe de la rosche bîse, die man auch Fee Morgan nennt […]« (WB, 803, vgl. auch 667). Diese Angaben fügen zusammen, was in verschiedenen Überlieferungen über die mythische Figur Alberich bekannt ist.15

14 Jannidis:Figur und Person, 111.

15 Vgl. Bernd Steinbauer: »Oberon«, in: Rolf Wilhelm Brednich u. a. (Hg.):Enzyklopädie des Märchens.

Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung, Bd. 10, Berlin / New York 2002, 173–176.

Durch die Zusammenführung wird jedoch gerade die Diversität und die eigentliche Undenkbarkeit mehrfacher Zeugung und Geburt betont.16 Herbst übergeht also gerade die Unterscheidung zwischen verschiedenen mythologischen bzw. literarischen Überlieferungen, auf die Wieland in seiner Vorrede ›An den Leser‹ (desOberon) aufmerksam macht:

Aber der Oberon, der in diesem alten Ritterromane [Huon de Bordeaux] die Rolle des Deus ex machina spielt, und der Oberon, der dem gegenwärtigen Gedichte seinen Namen gegeben, sind zwei sehr verschiedene Wesen. Jener ist eine seltsame Art von Spuk, ein Mittelding von Mensch und Kobold, der Sohn Julius Cäsars und einer Fee, der durch eine sonderbare Verzauberung in einen Zwerg verwandelt ist; der meinige ist mit dem Oberon, welcher in Chaucers Merchant’s-Tale und Shakespeares Midsummer-Night’s-Dream als ein Feen-oder Elfenkönig (King of Faeries) erscheint, eine und eben dieselbe Person[.]17 Im Prolog, der sowohl von der Handlung als auch von den Figuren her zunächst kaum Verbindungen zu den anderen Teilen zu haben scheint, finden sich jedoch Übereinstimmungen wieder über angedeutete mythische Identitäten. Die einzige zu Handlung und Gespräch beitragende Figur außer dem Erzähler (dem ›Dritten‹) ist ein dicker Herr, der sich als Goldemar Marduk zu erkennen gibt. Wie in fast allen anderen Fällen ist auch dies ein verweisreicher Name. Goldemar ist der Name des Königs der Zwerge in einem zur Dietrichsepik gehörendem Fragment und wird auch als Elben-könig und Bruder von Alberich genannt.18Marduk hingegen war die Hauptgottheit der babylonischen Religion.19Während der namentliche Bezug zum Zwergenkönig Goldemar bereits eine später erst über den Alberich-Bezug zu erschließende Identität mit Lipom insinuieren kann, wird eine solche schon früher und deutlicher durch andere Merkmale nahegelegt. Neben der Körperfülle und der Beschreibung als »der dicke Herr« ist es vor allem die Sprechweise mit ständiger Unterbrechung der Sätze durch ein »hä«, die später als die für Lipom kennzeichnende kennengelernt wird.

Außerdem wird in die Problematik eingeführt, dass die Elben aus ihren angestamm-ten Aufenthaltsorangestamm-ten durch verschiedene Mächte, u. a. die formale Logik, vertrieben werden. Er teilt mit, dass seine Frau (und damit er vermutlich auch) eine Elfe ist, dass die beiden zerstritten sind und dass er wieder in Besitz eines ominösen Beutels, den seine Frau hat, gelangen möchte. Dafür benötigt er die Hilfe des Erzählers, dem er dies als Bitte bzw. Aufgabe anträgt. Der Streit und die Beutel sind auch später immer wie-der in den Äußerungen Lipoms präsent, wohingegen die Aufgabe zumindest in den

16 Im Gespräch mit Deters fügt er auch an, dass es sich einmal um eine Fehlgeburt gehandelt habe.

Dies deutet daraufhin, dass es sich bei den Geistern (die Unterscheidung zwischen Geisterwesen und Elben wird nicht gemacht) zumindest teilweise um gestorbene Menschen handelt. Weitere Beispiele dafür sind Ortnit, der als Frühgeburt gestorben ist (vgl.WB, 653), sowie Bertrecht, dessen Ermordung und ›Geistwerdung‹ direkt geschildert werden (vgl.WB, 661ff.).

17 Christoph Martin Wieland:Oberon[1780], in: Ders.:Werke, hg. v. Fritz Martini / Hans Werner Seiffert, Bd. 5, München 1968, 162–381, hier: 162.

18 Vgl. Joachim Heinzle:Einführung in die mittelhochdeutsche Dietrichepik, Berlin / New York 1999, 106f., sowie Wilhelm Wägner:Nordisch-germanische Götter und Helden, 4. Aufl., Leipzig / Berlin 1887, 44ff. Im Fragment wird zudem der Erlkönig mit Oberon, Laurin und Goldemar gleichgesetzt.

19 Nebenbei sei bemerkt, dass Marduk auch der Name eines Tyrannen in Alfred DöblinsBerge Meere und Gigantenist, von Herbst immer wieder als wichtiger Bezugstext seines Werks genannt.

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Gesprächen mit Lipom nicht mit dem späteren Protagonisten Deters zusammenhängt.

Trotz dieser recht eindeutig erscheinenden Hinweise in der Beschreibung auf die Identität Marduks mit Lipom wird diese wieder hinterfragt. Die eindeutige Identität Lipoms mit der mythischen Alberich-Figur kann nicht auf eine ebenso eindeutige Identität mit Marduk ausgeweitet werden. An verschiedenen Stellen verfällt dieser nämlich ins Wienerische oder verwendet zumindest das Wort »Hobera« (WB, 23, 25, 27). Beides sind später die Kennzeichen von Daniello bzw. Mallebron. Dies könnte als Andeutung weniger einer Identität von Daniello und Lipom verstanden werden denn als Hinweis darauf, dass zumindest die Figur Marduk von Daniello programmiert ist.

Die individuelle Ausgestaltung der Figur erfolgt über die Fassade als Dr. Elberich Lipom. Obwohl die mythische Vorlage Alberich ein Zwergenkönig ist, wird Lipom als eine riesige, immer wieder als ›fett‹ bezeichnete Person geschildert, die gerade eingangs bei der Zugfahrt Schwierigkeiten hat, sich überhaupt zu bewegen. Wie be-reits erwähnt, sieht er sich selbst als nicht identisch mit seinem Körper an, dieser ist nur eine Täuschung, was auf die Wandlungsfähigkeit der Elben zurückgeht. Weite-re individuelle Kennzeichen, die wie in Bezug auf Marduk beWeite-reits erwähnt, Lipom auch innerhalb des Buches erkennbar machen, sind seine sprachliche Angewohnheit, ständig Wörter durch ein »hä«, wohl eine Form von Stöhnen oder Schnaufen, zu unterbrechen sowie seine Vorliebe, Gedichte zu zitieren, die vornehmlich von Benn stammen. Dadurch bietet sich die Möglichkeit, intertextuelle Bezüge direkt zu platzie-ren. Der Bezug zu Benn könnte auch die diesmal nicht mythologische Namensgebung als Lipom, der medizinischen Bezeichnung für ein Fettgeschwulst, bestimmt haben, da Benn in seinen Gedichten immer wieder auch in medizinischen Ausdrücken auf seine Erfahrungen als Arzt rekurriert hat. Der Name spielt aber auch eine Rolle in der später genauer zu betrachtenden Diskussion über das Denken in Begriffen und ihre Wirkung: Murnau weist Deters darauf hin, dass jeder sich Lipom als einen fetten Menschen vorstelle, »weil er wie einer heißt« (WB, 173).

Im Dokument Von Bremen in die Anderswelt (Seite 125-129)